Protocol of the Session on November 5, 2003

(Norbert Schmitt (SPD): So ist es!)

Herr Ministerpräsident, was ist denn das für ein Mut?

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Was ist weltmeisterschaftlich daran, wenn man zum einen sagt: „Ich will gerade mal die Latte überspringen, die Verfassungswidrigkeit heißt“, man sich die Latte aber herunter legt, weil man weiß, dass es in irgendeiner Art und Weise schon eine Steuersenkung 2004 geben wird. Das weiß jeder hier in diesem Raume, und das weiß insbesondere ein Ministerpräsident, und das weiß insbesondere Roland Koch als Mitglied des Vermittlungsausschusses zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, in den nächsten Wochen wird es Verhandlungen in Berlin geben. Man braucht doch kein Prophet zu sein, um Ihnen sagen zu können: Der Kompromiss wird auf alle Fälle in der Art ausfallen, dass entweder ein Teil der Steuerreform von dem Jahr 2005 auf das Jahr 2004 vorgezogen wird oder aber dass bereits im Jahr 2004 ein riesiger Schritt in Richtung Umstrukturierung des Steuersystems getan werden wird. Letzteres ist das, was die FDP gerne hätte. Beides hätte auf der Einnahmenseite Folgen für unseren Landeshaushalt.

(Beifall der Abg. Nicola Beer (FDP))

Herr Ministerpräsident, das, was Sie tun, ist nicht mutig und auch nicht weltmeisterschaftlich. Es ist Ihre Pflicht. Diese Aufgabe haben Sie erfüllt. Dafür loben wir Sie auch.Aber bitte blasen Sie das,was darum herum ist,nicht zu dick auf. Tun Sie bitte nicht so, als ob Sie die Republik oder dieses Land aus der Schuldenfalle herausführen würden.

Ich komme zum zweiten Punkt. Herr Ministerpräsident, das sage ich jetzt ganz persönlich.Es ist schon ein bisschen ärgerlich, dass Sie sich hierhin stellen und so tun, als wäre alles das, was Sie hier vortragen, das Einzige, was es gibt, und die anderen Fraktionen dieses Hauses würden nichts tun.

(Beifall bei der FDP, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich will das jetzt nicht mit einem der Worte belegen, die ansonsten bei so etwas immer üblich sind. Der Präsident müsste dann möglicherweise versuchen, mich auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Herr Ministerpräsident, ich möchte Sie einfach an etwas erinnern. Es waren die neun Menschen der FDP-Fraktion, die sich vor der Sommerpause viel Arbeit gemacht und dafür viel Zeit genommen haben. Natürlich haben wir das nicht alleine gemacht. Wir wurden von Hunderten von Menschen dieses Landes beraten. Letztlich haben wir dann aber zu neunt einstimmig ein 45-Punkte-Programm zur Sanierung unseres Landeshaushalts beschlossen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Keiner in diesem Raum wird doch im Ernst glauben, dass das bei uns ohne Probleme erfolgt ist. Wir hatten noch eine ganze Reihe von Ideen. Bei uns gab es ein Vorverständnis dadurch, dass wir mit Ruth Wagner und Dieter Posch zuvor eine Ministerin und einen Minister in der Regierung hatten. Die Erfahrungen der letzten vier Jahre und all das andere mussten doch mit bedacht werden.Wir haben es geschafft, ein Programm vorzulegen, mit dem der Haushalt dieses Landes von Grund auf saniert werden könnte. Herr Ministerpräsident, unterlassen Sie es, zu sagen, es gebe keine Alternative zu Ihrer Politik.

(Beifall bei der FDP)

Es gibt eine Alternative. Es gibt sogar eine mutige Alternative.Nur,diese mutige Alternative zu erarbeiten hat natürlich Vorbereitungszeit gekostet. Den Kolleginnen und Kollegen der Union sage ich jetzt in aller Freundschaft und Verbundenheit und aufgrund der Erfahrung der vier gemeinsamen Regierungsjahre:Sie haben im Februar dieses Jahres einen Fehler gemacht. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Union, nachdem Sie wussten, dass Sie alleine regieren würden, hätten Sie unverzüglich an die Arbeit gehen müssen, den Haushalt zu sanieren.

(Beifall bei der FDP)

Sie haben sich ein halbes Jahr lang in der „Vision 2015“ gesonnt,die wir in Ihrem Regierungsprogramm nachlesen durften. Das hilft den Menschen heute aber leider nicht weiter.

(Beifall bei der FDP)

Den Menschen im Jahre 2015 wird es aber auch nicht helfen.Denn das Aufkommen aus den Steuern der Menschen des Jahres 2015 wird für die heute gemachten Schulden aufgewandt werden müssen.

Herr Ministerpräsident, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, tun Sie mir bitte einen Gefallen: Sagen Sie den Menschen nicht, es gebe keine Alternative zu dem, was Sie tun. Sagen Sie den Menschen nicht, Sie hätten mit Ihrer Arbeit rechtzeitig angefangen. – Sie haben gehofft. Ich kenne doch Ihre Denkweise. Wir haben doch vier Jahre lang gemeinsam gearbeitet. Da wurde versucht, sich in den Windschatten der anderen Bundesländer zu stellen. Herr Ministerpräsident, Sie mussten dann feststellen, dass Herr Stoiber Ihre Politik angreift.Hessen wurde down geratet. Sie mussten sehen, dass eine Fraktion, die aus neun Menschen besteht, es tatsächlich schafft, ein 45-PunkteProgramm vorzulegen. Erst als Sie all das gesehen hatten, sind Sie in die Puschen gekommen. Es ist gut, dass Sie in die Puschen gekommen sind. Aber leider erfolgte dies nicht mit der notwendigen Konsequenz. Herr Kollege von

Hunnius hat bereits darauf hingewiesen: Man kann natürlich in der Art mit dem Sparen beginnen, wie Sie es getan haben. Das ist aber konzeptionslos.

(Beifall bei der FDP)

Es ist unstrukturiert. Das wurde hektisch gemacht. Wenn man zu sparen beginnen will, muss man mit der Aufgabenkritik beginnen. Herr Ministerpräsident, das kann nicht so gehen, wie Sie es gesagt haben. Sie sagten, das käme jetzt, im zweiten Schritt.

(Beifall bei der FDP)

Wenn man zu sparen beginnt, muss man sich fragen:Welches sind eigentlich die Vermögenswerte, die wir nicht brauchen, von denen wir uns trennen können? Wo ist denn das Privatisierungskonzept der Hessischen Landesregierung? Herr Kollege Milde, es gibt keines.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Es gibt Teilmengen und linke und rechte Taschen. Ob es sich dabei nun wirklich um das Heben stiller Reserven handelt, darüber mögen Volkswirte streiten. Nur letztlich wissen wir alle, dass der Wert des neuen „Unternehmens“ um diesen Betrag reduziert wurde. Herr Kollege Milde, denn das Geld kann man nun wirklich nicht zweimal erwirtschaften.

(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Jetzt wird sich darüber gewundert, dass wir über die Arbeitszeit reden. Der Ministerpräsident tat es eben. Sehr verehrter Herr Ministerpräsident, das war im Vorschlag der FDP enthalten. Unser Vorschlag unterschied sich von Ihrem etwas.Wir haben gesagt:Wir wollen 41 Stunden Arbeitswochenzeit für alle. – Sie haben ein – so finde ich – besseres Modell entwickelt. Sie haben gesagt: bis zum 50. Lebensjahr eine Arbeitszeit von 42 Wochenstunden. Wir alle kennen das Modell. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Herr Ministerpräsident, tun Sie doch nicht so, als ob das etwas Neues wäre. Sie haben doch eben gesagt, in Hessen sei damit angefangen worden, und andere würden das jetzt nachmachen.

(Beifall der Abg. Nicola Beer und Heinrich Heidel (FDP))

Nein, das ist nicht der Fall. Sie befinden sich hier im Windschatten der anderen. In Hessen hat dies als Erstes die FDP-Fraktion des Hessischen Landtags vorgeschlagen. So war die Reihenfolge in Wirklichkeit.

(Beifall bei der FDP)

Herr Ministerpräsident, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen, ich sage Ihnen: Es wäre klug, wenn wir endlich aus den Schützengräben der Parteipolitik herauskämen.

(Beifall der Abg. Nicola Beer (FDP))

Herr Ministerpräsident, ich finde Ihr Lachen jetzt relativ unpassend.

(Beifall des Abg. Gerhard Bökel (SPD) – Zurufe)

Ich finde es relativ unpassend. – Herr Ministerpräsident, Sie haben sich in einem Schützengraben befunden.Sie haben sich nämlich hierhin gestellt und erstens gesagt, Sie seien mit Abstand der Beste. Zweitens haben Sie gesagt, die anderen hätten keine Alternative aufgezeigt. Diese Beschreibung ist unzutreffend. Deshalb sage ich: Sie ha

ben sich in einem Schützengraben befunden. – Hören Sie damit auf.Wir sollten doch alle aus unseren Schützengräben herauskommen und endlich sagen, dass wir uns zusammen hinsetzen. Das, was im Entwurf des Haushaltsplans des Jahres 2004 steht, reicht nicht für eine sichere Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder aus.

(Beifall der Abg. Nicola Beer und Roland von Hunnius (FDP))

Wir müssen noch mehr machen. Herr Ministerpräsident, nehmen Sie das Angebot doch endlich an. Sie merken doch, dass Sie es alleine nicht schaffen, eine grundsolide Finanzierung zu erreichen.

(Beifall der Abg. Nicola Beer (FDP))

Bisher erreichen Sie nur die minimale Grenze. Eigentlich haben Sie sich die Latte noch etwas tiefer gelegt. Nehmen Sie doch das Angebot an, das wir Ihnen gemacht haben. Ich weiß,dass die Sozialdemokraten es auch nicht als ganz besonders dumm empfinden würden. Lassen Sie uns einmal gemeinsam hinsetzen. Wir sollten dann schauen, wo man noch sparen kann. Wir alle hätten dann auch den Vorteil, dass sich der Abg. X aus dem Y-Dorf zu Hause nicht hinstellen und sagen kann: Aber das und das muss auf alle Fälle erhalten bleiben. – Denn er steht dann auch in der Verantwortung. Solange Sie aber meinen, diesen Weg alleine beschreiten zu können, werden Sie hinsichtlich des Erreichens Ihrer Ziele nicht sehr weitkommen.

Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zum Bundesrat und zum Vermittlungsausschuss machen.Ich sage das jetzt nicht nur als Vorsitzender der FDP-Fraktion dieses Hauses. Vielmehr sage ich dies für die FDP im Bund und in den Ländern insgesamt. Wir Liberale sind der festen Überzeugung, dass wir die nächsten Wochen nutzen müssen, um zu einer ganz gravierenden Änderung der Politik in der Bundesrepublik Deutschland zu kommen. Es muss zu ganz gravierenden Änderungen kommen.

(Beifall bei der FDP)

Es muss jetzt Schluss sein mit dem Schwätzen in Berlin, den Landtagen, dem Bundesrat und überall dort, wo Vertreter von uns oder wir selbst sitzen. Wir müssen relativ schnell zu einer Veränderung des Steuersystems kommen.

(Beifall bei der FDP)

Ich möchte jetzt mit niemandem in diesem Raum darüber streiten, ob es sich dabei um das Vorziehen der vierten Stufe handelt oder ob das eine grundlegende Änderung sein sollte. Ich kann dazu nur sagen: Herr Merz lässt grüßen. Herr Solms und andere haben das schon vor Monaten zu Papier gebracht. Aber ich wäre sehr zufrieden, wenn diese Vorstellungen in der Union nun eine Mehrheit fänden. Wir müssen in den Verhandlungen offen darüber reden, welchen Weg wir beschreiten wollen. Herr Ministerpräsident, Sie haben Recht: Das muss heute Mittag mit den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss beginnen.– Wir müssen das Ziel haben, den Arbeitsmarkt zu reorganisieren. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es muss den Menschen wieder Spaß machen, in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen.

(Beifall bei der FDP)

Es geht nicht darum, irgendwie Beschäftigung zu organisieren. Vielmehr müssen in diesem Lande Arbeitsplätze geschaffen werden,

(Beifall der Abg. Roland von Hunnius und Hein- rich Heidel (FDP))

damit wir unsere Sozialsysteme und die Staatsfinanzen wieder auf die Füße stellen können. Das ist für uns wichtig.Wolfgang Gerhardt hat das vorhin in Berlin noch einmal wiederholt:Wir müssen ab heute Mittag, mit den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss, an diese Fragestellungen herangehen. Dabei geht es um den Flächentarif und die Allgemeinverbindlichkeit des Flächentarifs. Dabei geht es um den Kündigungsschutz und vieles mehr. Das müssen wir jetzt angehen und da zu einem Ergebnis kommen.