Lassen Sie es doch sein, so zu argumentieren und den Menschen etwas vorzumachen. Sie haben doch mit den Betroffenen gesprochen. Was haben Ihnen die Anstaltsleiter in der Anhörung gesagt? Was haben Ihnen die Leute von den Staatsanwaltschaften gesagt? Sie haben Ihnen doch sicherlich genau dasselbe gesagt wie uns. Herr Kirchner, der hier in Wiesbaden erfolgreich Vollzugsarbeit gemacht hat, der auch lange Zeit für das Haus in Groß-Gerau zuständig war, sagt einem in diesem Zusammenhang immer wieder: Sorry, die Klientel hat sich auch im Jugendvollzug in den letzten 15 bis 20 Jahren deutlich verändert. Es gibt immer weniger junge Menschen, die für den offenen Vollzug geeignet sind.
Letzte Bemerkung. Frau Kollegin Faeser, Sie haben eben selbst bestätigt, dass es Ihnen um Politik geht, nicht um den Inhalt des Gesetzentwurfs.
Wir diskutieren hier doch nicht über eine Presseerklärung oder eine Pressekonferenz des Justizministers.Auf der Tagesordnung steht: erste Lesung eines Gesetzentwurfs der Landesregierung. – Schauen Sie doch einmal in den Gesetzentwurf hinein.
In dem Gesetzentwurf finde ich das Thema nicht in der Form, wie Sie es eben diskutiert haben. Vielleicht kann der Herr Staatsminister dazu noch etwas sagen. Diskutieren wir doch einfach darüber, was uns in Papierform vorliegt, diskutieren wir nicht rückwärtsgewandt über etwas, was in einer Pressekonferenz möglicherweise falsch formuliert wurde.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Justizminister, Sie haben in Ihrer Rede über irgendwelche Erziehungsmängel in meiner Jugend spekuliert.
Diese Spekulation kann ich zurückgeben: Herr Banzer, wären Sie ein wohlerzogener Justizminister, dann würde ein von Ihnen verantworteter Gesetzentwurf jedenfalls nicht gleich mit Unwahrheiten beginnen. Sie haben es geschafft, dass bereits das Vorblatt Ihres Gesetzentwurfes falsch ist.
Dort steht nämlich bei der Frage Alternativen: „Keine.“ – Aber Sie wissen natürlich genau, dass es in diesem Hause bereits zwei eingebrachte Alternativen gibt: den Gesetzentwurf meiner Fraktion und den der FDP.
Bestenfalls handelt es sich hierbei um eine Missachtung von zwei Fraktionen dieses Hauses, schlimmstenfalls um die Arroganz der Macht, die ihre eigenen Vorstellungen schlicht und ergreifend für alternativlos erklärt, unabhängig davon, ob sich auch andere darüber bereits schwerwiegende Gedanken gemacht haben oder nicht.
Aber schwerer als dieser etwas formale Einwand sind sicherlich die weiteren inhaltlichen Unwahrheiten, die Sie uns präsentieren.
In der Begründung führen Sie aus – das haben Sie heute auch wieder gesagt –, das Bundesverfassungsgericht habe dem Gesetzgeber entsprechende Vorgaben gemacht, und es gebe internationale Vereinbarungen, an die man sich im Zusammenhang mit dem Jugendstrafvollzug halten müsse.
Das ist zutreffend, auch die Liste, die Sie dort angeführt haben. Ihre Behauptung aber, Sie würden mit diesem Gesetzentwurf den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht, ist an entscheidenden Stellen schlicht falsch.
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Vorgaben für die Ausgestaltung des Vollzugs „auf sorgfältig ermittelten Annahmen und Prognosen über die Wirksamkeit unterschiedlicher Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnamen beruhen“ müssen.
Das, was wir auch heute wieder von Ihnen über die Frage gehört haben, ob der offene oder geschlossene Vollzug der bessere, der geeignetere, wie auch immer, ist, widerspricht dem diametral.
Um die Zahlen nochmals in Erinnerung zu rufen: In Hessen haben wir gerade einmal 14 Plätze im offenen Vollzug,
in Niedersachsen allein in der JVA Rosdorf 125 Plätze und in Hameln weitere 32 Plätze. Beispielsweise der Hövelhof in NRW hat allein 232 Plätze im offenen Vollzug. Aus der schon von Frau Faeser erwähnten Untersuchung von Prof. Dünkel – ich habe die Zahlen einmal ausgerechnet – ergibt sich in der Tat zum Stichtag 31.01.2006, dass sich in Hessen 1,86 % aller Jugendgefangenen im offenen Vollzug befinden, dagegen in Sachsen, CDU-regiert, 10,98 %, in Hamburg, CDU-regiert, 11,75 %, in Niedersachsen, CDU-regiert, 17,26 % und in NordrheinWestfalen, CDU-regiert, 21,52 %.
Herr Justizminister, wenn es stimmt, dass es verantwortungslos ist, eine größere Anzahl Gefangener im offenen Vollzug zu haben, dann sagen Sie Ihren Justizministerkollegen von der CDU bei der nächsten Justizministerkonferenz, dass sie eine Bande von verantwortungslosen Amtsträgern sind. Dann aber ist das, was Sie mir vorgeworfen haben – irgendwelche Erziehungsmängel –, sicherlich das kleinere Problem.
Herr Hahn, im Übrigen kann mir auch niemand erzählen, dass ein solch großer Unterschied dadurch zustande kommt, dass wir in Hessen so viel weniger für den offenen Vollzug ungeeignete Jugendgefangene haben als die anderen Länder. Es mag da Abweichungen geben, aber zwischen noch nicht einmal 2 % und fast 22 % liegt eine so große Spanne, dass die sich mit zufälligen Abweichungen nicht mehr erklären lässt.
Herr Hahn, in Baden-Württemberg liegt diese Quote übrigens keineswegs zwischen 10 und 15 %, sondern – jedenfalls zum Stichtag 31.01.2006 – bei 2,46 %. So viel nur, um der Wahrheit die Ehre zu geben.
Hier gibt es eine Blockade des Justizministers gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum offenen Vollzug.
In dem von mir veranstalteten Fachgespräch – das wurde vorhin schon erwähnt – wurde von dem Leiter der JVA Rosdorf sehr dezidiert der Unterschied in der Vollzugspraxis in Niedersachsen und Hessen geschildert. In Niedersachsen ist es so, dass jeder verurteilte jugendliche Erstverbüßer mit nicht mehr als drei Jahren Strafdauer sofort zunächst in die Anstalt des offenen Vollzugs nach Rosdorf kommt. Dort werden erst einmal diejenigen aussortiert, die von vornherein als nicht geeignet für den offenen Vollzug angesehen werden. Das sind z. B. Sexualstraftäter, Brandstifter,Ausländer ohne soziale Bezüge in Deutschland, akut Drogenabhängige usw. Die werden sofort nach Hameln in die geschlossene Anstalt weitergeleitet.
Alle anderen bleiben zunächst einmal für zwei Wochen in der offenen Anstalt – aber in der geschlossenen Einweisungsabteilung. Denn natürlich sind zunächst einmal die Trennung und das Herausnehmen aus den bisherigen Bezügen notwendig. In diesen zwei Wochen wird untersucht, wer für den offenen Vollzug geeignet ist und wer nicht, und dann wird entschieden, wer in Rosdorf bleibt und wer in die anderen Abteilungen kommt.
Herr Schütze, der Leiter der JVA Rosdorf, hat lange im geschlossenen Vollzug in Hameln gearbeitet. Derzeit baut er ein Hochsicherheitsgefängnis auf, dessen Leitung er demnächst übernehmen wird. Er ist also alles andere als ein Sozialromantiker. Er ist ein Praktiker des Vollzugs. Er weiß, wovon er redet. In der Tat hat er als Quintessenz gesagt, nach seiner Beurteilung ist der offene Vollzug der
bessere Vollzug bei denjenigen, die geeignet sind. – Genau das habe ich im Übrigen als Zitat in meiner Presseerklärung wiedergegeben.
Aber der Justizminister unterliegt nach wie vor einem eklatanten Irrtum, und er hat ihn auch heute wieder ausgebreitet. Herr Banzer, schauen Sie sich doch einmal an: Auch offener Vollzug ist Vollzug. Offener Vollzug bedeutet nicht, dass diejenigen, die im offenen Vollzug sind, draußen frei herumlaufen dürfen.
Wenn Sie nicht mir glauben, dann vielleicht dem Strafvollzugsgesetz. In § 141 des Strafvollzugsgesetzes gibt es eine Legaldefinition: Anstalten des offenen Vollzugs sind solche, die „keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen“ vorsehen.
Aber natürlich entscheidet sich die Frage, ob jemand die Anstalt verlassen darf, sogar unbegleitet, nach den gleichen Voraussetzungen, wie wenn er im geschlossenen Vollzug ist.
In der JVA Rosdorf z. B., so hat deren Leiter erklärt, wird in der Regel nicht vor Ablauf von vier Monaten überhaupt ein unbegleiteter Ausgang zugelassen. Das heißt, selbstverständlich bedeutet offener Vollzug auch, dass die Leute nur unter den gleichen Voraussetzungen wie ansonsten auch – und das muss jeweils beurteilt werden – heraus dürfen und keineswegs draußen herumlaufen. Aber die virtuellen Mauern,die dort errichtet werden – es gibt dort keine oder jedenfalls weniger reale Mauern als im geschlossenen Vollzug –, stellen eine größere Herausforderung an die Disziplin der Jugendlichen dar, weil ihnen das Vertrauen entgegengebracht wird, dass sie, obwohl es keine Vorkehrungen gegen das Entweichen gibt, nicht entweichen.
Deswegen haben Sie natürlich recht: Diejenigen, die sagen: „Wir werden abhauen“, sind für den offenen Vollzug nicht geeignet. Selbstverständlich, das meinen wir auch gar nicht. Aber es kann nicht angehen, dass man immer wieder in der Öffentlichkeit die schlicht falsche Behauptung aufstellt, offener Vollzug ist sozusagen kein Vollzug, weil alle frei draußen herumlaufen können. Das ist schlicht und ergreifend Unsinn.
Weitere Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts – Frau Faeser hat schon darauf hingewiesen: Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, die Besuchsmöglichkeiten für familiäre Kontakte müssen ein Mehrfaches über denen im Erwachsenenvollzug angesetzt werden.
Nun kann man sich darüber streiten, ob das Doppelte – das sehen Sie vor: statt zwei Stunden im Monat im Erwachsenenvollzug vier Stunden im Jugendvollzug – schon ein Mehrfaches ist. Nach unserem Dafürhalten ist es auf jeden Fall viel zu wenig.
Sonst halten Sie doch immer die Familie so hoch. Da müssen Sie mir einmal erklären, wie eine Familie den Kontakt zu einem Kind halten soll,das sie gerade einmal vier Stunden im Monat sehen kann – eher noch weniger, weil in diesen vier Stunden auch noch der Besuch von anderen mitgerechnet wird. Das kann nicht richtig sein.
Deswegen haben wir acht Stunden vorgesehen und meinen,damit liegen wir immer noch im unteren Bereich.Das soll eine Mindestvoraussetzung sein. In unserem Gesetz
entwurf haben wir darüber hinaus Langzeitbesuche von nahen Angehörigen vorgesehen, insbesondere von Kindern der jungen Gefangenen. Das taucht in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht auf.
Der Einzelarrest, den Sie als eine der möglichen Disziplinarmaßnahmen vorsehen, verstößt nach unserer Bewertung gegen die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen zum Schutz der Jugendlichen unter Freiheitsentzug – obwohl Sie angegeben haben, Sie würden sich danach richten. Das ist falsch. Danach ist nämlich die isolierte Einzelhaft – und das ist beim Arrest der Fall – untersagt. Gleichwohl sehen Sie den Arrest als Disziplinarmaßnahme vor.
Es kann Schutzmaßnahmen geben, unter denen auch ein Arrest, eine Einzelunterbringung notwendig ist. Aber als Disziplinarmaßnahme verstößt es nach unserer Bewertung gegen Konventionen der Vereinten Nationen.