Protocol of the Session on March 28, 2007

Erste Lesung des Gesetzentwurfs der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein Gesetz zur Regelung des Jugendstrafvollzugs in Hessen (Hessisches Jugendstraf- vollzugsgesetz – HJStVollzG) – Drucks. 16/7070 –

Zur Einbringung darf ich Herrn Dr. Jürgens das Wort erteilen. Herr Dr. Jürgens, zehn Minuten Redezeit sind vereinbart.

Herr Präsident, meine Damen und Herren Abgeordneten! Der Jugendstrafvollzug muss endlich auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht vor Kurzem entschieden.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Das machen wir doch schon!)

Nach der Föderalismusreform gilt es nunmehr, dass die Länder diese Verpflichtung umsetzen. Meine Fraktion legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der diesen Anforderungen gerecht wird. Wir setzen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts um.Wir beachten die internationalen Vorgaben für die nationale Gesetzgebung, und wir werden damit der besonderen Bedeutung des Jugendstrafvollzugs gerecht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss der Jugendstrafvollzug grundlegend anders ausgerichtet werden als der Erwachsenenstrafvollzug. Jugendliche und Heranwachsende im Alter zwischen 14 und 21 Jahren sind in einer anderen Lebens- und Entwicklungssituation als Erwachsene. Ihre Persönlichkeit hat sich noch nicht so verfestigt, und sie sind offener für weitere Entwicklungen. Diese Weiterentwicklung kann in eine positive oder in eine negative Richtung gehen. Deswegen tragen wir alle eine große Verantwortung für das, was im Jugendstrafvollzug passiert.

Mit den richtigen Angeboten und den richtigen Hilfen können wir dazu beitragen, eine kriminelle Karriere zu beenden. Wir dürfen nicht vergessen, dass diejenigen, die im Jugendstrafvollzug landen, in der Regel bereits auf dem Weg in eine kriminelle Karriere sind.Es wird nämlich nur derjenige zu einer Jugendstrafe verurteilt,der eine besonders schwere oder mehrere Straftaten begangen hat. Mit den falschen Konzepten können wir kriminellen Karrieren aber einen richtigen Schub geben. Das entscheidet sich im Strafvollzug, und deswegen müssen wir sorgfältig darüber nachdenken.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Erziehung der Jugendgefangenen zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten, die sozial integriert sind, ist von Verfassungs wegen ein zwingendes Ziel des Jugendstrafvollzugs. Das Bundesverfassungsgericht hat es uns vorgegeben.

Dem entspricht das Konzept, das wir Ihnen heute vorlegen. Deswegen verwenden wir – in Abgrenzung zu den Gefangenen im Erwachsenenstrafvollzug – durchgehend den Begriff „Jugendgefangener“. Wir wollen den Vollzug konsequent erzieherisch ausrichten. Die Jugendgefangenen sollen an diesem Erziehungsziel mitwirken. Nicht nur das: Sie bekommen auch konkrete Möglichkeiten, daran mitzuwirken.

So soll z. B. der Förderplan, der nach allen Vorschlägen zu Beginn des Vollzugs die individuellen Einzelheiten betreffend aufgestellt werden muss, nach unseren Vorstellungen in Form von Fördervereinbarungen mit den Jugendgefangenen gestaltet werden, wenn dies möglich ist. Natürlich sind auch wir uns darüber im Klaren, dass nicht jeder Jugendliche diese Chance ergreifen und eine Fördervereinbarung abschließen wird. Aber wir sind überzeugt, dass, wenn diese Chance wahrgenommen wird, die Motivation zur Mitwirkung ungleich höher ist als bei einer rein fremdbestimmten Förderplanung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sehen auch vor, dass der offene Vollzug die gesetzliche Regel wird. Wir setzen damit eine langjährige Forderung praktisch aller Fachverbände im Jugendstrafvollzug um. Ich möchte nur einmal die Bundesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe im Deutschen Caritasverband,die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen oder den Bundesverband für Erziehungshilfe erwähnen.

Nach allen Erfahrungen im Ausland, aber auch nach den Erfahrungen, die wir in Hessen teilweise gemacht haben, ist der offene Jugendstrafvollzug dem geschlossenen Strafvollzug hinsichtlich der sozialen Integration deutlich überlegen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Der Herr Minister hat vor Kurzem gesagt, die Jugendgefangenen im geschlossenen Vollzug würden zu fast 80 % rückfällig. Im offenen Vollzug liegt die Zahl deutlich niedriger. Es gibt keine konkreten Zahlen. Aber alle sagen, dass die Zahlen deutlich niedriger seien. Das spricht nicht gerade dafür, dass der geschlossene Vollzug, als er die Regel war, die Entwicklung der Jugendlichen in die richtige Richtung positiv beeinflussen konnte. Die Theorie, dass möglichst hohe Strafen und ein möglichst harter Strafvollzug die besten Ergebnisse brächten, bleibt das, was sie immer war: eine Lebenslüge konservativer Rechtspolitiker.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben in Hessen derzeit die Situation, dass lediglich 2 % der Jugendgefangenen – konkret: ungefähr 10 von 500 – im offenen Vollzug sind. Das hat vor allem mit ideologischen Blockaden im Justizministerium zu tun. Diese wollen wir mit unserem Entwurf aufbrechen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch wir wissen natürlich, dass ein geschlossener Vollzug in vielen Fällen notwendig ist. Einen geschlossenen Vollzug sehen wir auch vor, wenn die Jugendgefangenen ansonsten aus dem Vollzug entweichen würden, weitere Straftaten begingen oder wenn das Erziehungsziel im geschlossenen Vollzug einfacher und besser erreicht werden kann. Gelegentlich ist es notwendig, die Jugendlichen von ihrem bisherigen Umfeld zu trennen.

Ich will auch gar nicht darüber streiten, ob aufgrund der gesetzlichen Regel, die wir aufstellen, eine Mehrheit oder eine Minderheit im offenen oder im geschlossenen Vollzug landet. Mir kommt es darauf an, dass, individuell auf den einzelnen Gefangenen zugeschnittenen, die bestmöglichen Angebote gemacht werden und die persönliche Situation besser beachtet wird.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen uns immer vergegenwärtigen, dass in den Jugendstrafvollzug junge Menschen kommen, in deren Leben schon vorher einiges schiefgelaufen ist: familiäre Probleme, prekäre wirtschaftliche Verhältnisse, wenige Sozialkontakte, mangelnde Wertevermittlung, Perspektivlosigkeit in Ausbildung und Beruf – was auch immer. Wenn sie dann mit 17, 18, 19 Jahren – oder noch später – in den Vollzug kommen, verbringen sie dort durchschnittlich neun bis zwölf Monate. In dieser Zeit kann nicht alles aufgearbeitet werden,was vorher schiefgelaufen ist.Aber wir müssen die notwendigen Angebote machen, um ihnen zumindest eine Chance zu geben und eine Umkehr anzustoßen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt jugendliche Straftäter, denen in ihrem Leben kein Koordinatensystem dafür vermittelt wurde, was richtig und was falsch ist. Sie haben kein oder nur ein sehr begrenztes und falsches Wertesystem. Sie kennen keine Grenzen, keinen klar strukturierten Tagesablauf, und sie haben keinen Halt. In diesen Fällen kann der geschlossene Vollzug selbstverständlich das Mittel der Wahl sein.

Es gibt andere, die haben das Problem, dass sie in ihrem bisherigen Leben von niemandem so richtig ernst genommen worden sind, von den Eltern wenig beachtet, in der Schule als Einzelgänger eher randständig, niemand traut ihnen etwas zu. Die Straftat ist in vielen Fällen gerade ein Schrei nach Beachtung. Sie haben endlich einmal etwas getan, wofür sie beachtet und ernst genommen werden. Bei diesen Jugendlichen steht natürlich die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit und des Selbstbewusstseins im Vordergrund.Wir halten deswegen Konzepte für sinnvoller, die nicht nur auf den geschlossenen Vollzug, sondern als gesetzliche Regel auch auf den offenen Vollzug setzen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Erfolg zeigt sich immer erst am Ende, wenn die Jugendlichen entlassen worden sind: Sind sie in der Lage, ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen? Deswegen muss nach unseren Vorstellungen der Vollzug von Anfang an auf die Lebensrealität danach vorbereiten. Die Lebensrealität danach muss bereits im Vollzug aufgenommen und abgebildet werden. Dafür einige Beispiele, weil wir uns darin von dem Gesetzentwurf der FDP und den Ankündigungen des Justizministers unterscheiden.

Wir wollen z. B. ermöglichen, dass die Jugendgefangenen im Vollzug eigene Kleidung tragen können. Die anderen wollen das nur in Ausnahmefällen zulassen und die Anstaltskleidung zur Regel machen. Wir wollen beispielsweise Besuche von mindestens acht Stunden pro Monat ermöglichen, die anderen nur vier Stunden. Wir glauben, dass gerade bei Jugendlichen die Aufrechterhaltung von Außenkontakten, zu Freunden, zu Geschwistern und Eltern, außerordentlich wichtig sein kann. Wir sehen deswegen auch Langzeitbesuche von Kindern, Ehegatten und Lebenspartnern der Gefangenen vor, die in den anderen Entwürfen ebenfalls fehlen.

Wir wollen unter Aufsicht, wenn die Anstalt dazu technisch ausgestattet ist, auch das Schreiben und Empfangen von E-Mails ermöglichen,sowie den Zugang zum Internet – zur Vermeidung des Missbrauchs natürlich unter Aufsicht. Das Angebot, das in allen Entwürfen steht, auch in unserem, Briefe zu schreiben, richtet sich im Jugendvollzug an Menschen, von denen viele in ihrem Leben noch keinen handschriftlichen Brief geschrieben haben. Die Welt hat sich verändert, vor allem auch für junge Menschen.

In diesem wie auch in anderen Beispielen wird ein konzeptioneller Unterschied deutlich. Die anderen Entwürfe schaffen vor allem eine extreme Sondersituation im Vollzug, die mit derjenigen danach, in Freiheit, nicht viel zu tun hat.Wir glauben hingegen, dass der Vollzug besser auf die Freiheit vorbereitet, wenn die Lebensrealität draußen nicht so weit wie möglich ausgeblendet, sondern aufgenommen und abgebildet wird.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben von Herrn Banzer einen Entwurf vorgelegt bekommen, der sich im Augenblick in der Regierungsanhörung befindet. Zum Teil fällt er für die Jugendgefangenen hinter das geltende Strafvollzugsrecht für Erwachsene zurück. So soll z. B. den Jugendgefangenen verboten sein, Pakete mit Nahrungs- und Genussmitteln zu empfangen. Das Strafvollzugsgesetz sieht dies für Erwachsene dreimal im Jahr vor. Die Fresspakete von der Mutter oder von der Großmutter sollen Jugendliche nicht empfangen können.Wir finden das nicht richtig.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir finden es dringend notwendig, so, wie es auch im Erwachsenenstrafvollzugsrecht steht, dass den Jugendgefangenen ermöglicht werden muss, Speisevorschriften der jeweiligen Religionsgemeinschaft zu befolgen. Herr Banzer will nur eine Sollregelung dafür einführen. Das halten wir für falsch.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir glauben auch, dass es keinen Sinn macht, hinter internationale Regeln zurückzufallen. Eine Disziplinarmaßnahme des Arrests – der gegen die Vorschriften der Vereinten Nationen für inhaftierte Jugendliche verstößt, wonach isolierte Einzelhaft unzulässig ist – wollen wir nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Dr. Jürgens, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem Gesetzentwurf in das eintreten, was der Justizminister eingefordert hat, nämlich in einen Wettbewerb um den besten Jugendstrafvollzug. Ein erfolgreicher Jugendstrafvollzug nutzt den Jugendlichen, nutzt dem Schutz der Bevölkerung und dient vor allem denjenigen, die ansonsten Opfer neuer Straftaten würden. Es lohnt aller Anstrengung, engagiert und sachbezogen um das beste Konzept zu ringen. Dazu leisten wir heute unseren Beitrag. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank,Herr Dr.Jürgens.– Als nächstem Redner erteile ich Herrn Gerling für die CDU-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der soeben von Herrn Dr. Jürgens vorgestellte Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist der dritte Gesetzentwurf für ein Hessisches Jugendstrafvollzugsgesetz.

(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der zweite im Parlament!)

Zuerst hat die FDP einen Gesetzentwurf eingebracht,den wir in erster Lesung besprochen haben. Minister Banzer hat kürzlich der Presse einen Gesetzentwurf der Landesregierung vorgestellt – Herr Dr. Jürgens, Sie haben darauf hingewiesen. Dieser Gesetzentwurf befindet sich noch in der Phase der Regierungsanhörung. Er wird voraussichtlich Ende Mai in den Landtag eingebracht.

(Nancy Faeser (SPD): Gut zu wissen!)

Nun haben die GRÜNEN einen eigenen Entwurf vorgelegt. Herr Dr. Jürgens, dieser Gesetzentwurf enthält einige Anlehnungen an den Gesetzentwurf der Landesregierung, er unterscheidet sich aber in einigen, doch nicht unerheblichen Punkten. Ich werde darauf eingehen.

Diese Punkte, in denen sich der Gesetzentwurf vom Regierungsentwurf unterscheidet, zeigen, dass BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Jugendstrafvollzug aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt hat.

(Beifall bei der CDU)

Sie wollen an die unrühmliche Zeit des Justizministers von Plottnitz anknüpfen.