Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa gewinnt seine Stärke aus Vielfalt, nicht aus mehr Vereinheitlichung und Regulierung.
Das ist der Grund dafür, dass wir uns als Hessische Landesregierung so intensiv für die Achtung des Prinzips der Subsidiarität einsetzen. Wir wollen eine klare Kompetenzzuordnung und fragen immer wieder nach der Notwendigkeit und der Zweckmäßigkeit europäischer Regelungen.
Vor diesem Hintergrund habe ich mich vor Kurzem sehr über den Artikel von Altbundespräsident Roman Herzog in der „Welt am Sonntag“ gefreut, der mit seiner Kritik in weiten Teilen mit der Linie der Hessischen Landesregierung übereinstimmt, die wir seit vielen Jahren vertreten.
Ich will Ihnen das an drei konkreten Forderungen deutlich machen, die wir an die Europäische Union als rechtsstaatliches System stellen.
In Deutschland kennen wir das bewährte Prinzip der Diskontinuität der Gesetzgebungsverfahren. Wir wünschen uns die Einführung dieses Prinzips der Diskontinuität auch auf europäischer Ebene. Es darf nicht länger sein, dass ein Kommissar irgendeine Idee hat oder in der Kommission eine Idee geboren wird und dann zwischen Kommission, Parlament und Rat 15 Jahre lang Pingpong gespielt wird, bis dieser Entwurf einer Richtlinie irgendwann das Licht der Welt erblickt – obwohl keiner mehr genau weiß, warum und wofür sie eigentlich da ist und der
Autor möglicherweise auch schon verschollen ist und zu diesem Thema gar keine Stellung mehr nehmen kann.
Das Prinzip der Diskontinuität würde dafür sorgen, dass wenigstens dieses Wesen abgestellt wird. Das ist in allen modernen Demokratien so üblich und würde deshalb auch der Europäischen Union sicherlich nicht schaden.
Meine Damen und Herren, zum Zweiten plädiere ich für die Einführung der Befristung von EU-Verordnungen und -Richtlinien. Der Landtag hat uns als Landesregierung nach den Erfolgen der Gesetzesbefristung in Hessen bereits aufgefordert, auch auf europäischer Ebene in diesem Sinne aktiv zu werden.
Meine Damen und Herren, drittens brauchen wir endlich eine klare Kompetenzabgrenzung in der Europäischen Union.Dabei müssen wir auch über Kompetenzrückübertragungen an die Mitgliedstaaten und an die Regionen nachdenken.
Der Altbundespräsident hat, wie ich finde, da sehr interessante Vorschläge gemacht, denen wir uns in weiten Teilen anschließen.
Meine Damen und Herren, nach einer neueren Untersuchung des Bundesjustizministeriums sind aktuell inzwischen 84 % der deutschen Rechtsetzung von der Europäischen Union beeinflusst. Der Acquis Communautaire ist aber keine Bibel, und er sollte auch nicht zu einer solchen gemacht werden.Auch auf der europäischen Ebene kann man Gesetze,Verordnungen und Richtlinien ändern oder abschaffen. Das ist die Aufgabe von Politik, die Aufgabe von Europapolitik. Dieser Aufgabe stellt sich diese Landesregierung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen eine neue, eine entschiedene Subsidiaritätskultur in der Europäischen Union. Ich wünsche mir sehr, dass die Bundesregierung in ihrer EU-Ratspräsidentschaft dazu beiträgt, dass insbesondere die Kommission die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sowie das Gebot der Erforderlichkeit in besonderer Weise beachtet.
Lassen Sie mich dies an einem Beispiel deutlich machen. Wir sollten den Beitrittsländern, sowohl denen, die vor zwei Jahren den Weg zur Europäischen Union gefunden haben, als auch den beiden Ländern, die jetzt den Weg zur Europäischen Union gehen, große Anerkennung zollen. Diese Länder waren immerhin in der Lage, im Rahmen des Acquis Communautaire 24.000 Verordnungen und Rechtsakte in nationales Recht umzusetzen. Das sind 85.000 Seiten bedruckten Papiers.
Es darf die Europäische Union nicht mit Stolz erfüllen, wenn ich Ihnen folgende Zahlen nenne. Zwischen den Jahren 1998 und 2004 sind auf EU-Ebene 18.167 Verordnungen und 750 Richtlinien erlassen worden. Zum Vergleich: In Deutschland sind im gleichen Zeitraum knapp 2.000 Gesetze und 3.000 Rechtsverordnungen erlassen worden, aber viele basieren eben auf dieser unglaublich großen Zahl an Bestimmungen des EU-Rechts, das für uns verbindlich ist.Diese Verordnungsflut in der EU muss aus unserer Sicht aufhören.
Die Kommission ist in diesem Bereich zwar schon einen kleinen Schritt gegangen, aber entgegen ihrer ursprünglichen Planung hat sie bis Ende des vergangenen Jahres erst 28 der geplanten 54 grundlegenden Gesetzeswerke vereinfacht oder gestrichen. Das ist zu wenig. Bürokratieabbau muss zu einer wirklichen Priorität der Kommissionsarbeit werden und darf nicht Gegenstand von Sonntagsreden und wohlfeiler Ankündigungen bleiben.
Wenn EU-Kommissar Verheugen davon spricht, dass die Bürokratiekosten, die auf Unternehmen im Bereich der Europäischen Union übergewälzt werden, bei 80 Milliarden c pro Jahr liegen, dann können wir auch an dieser Stelle erkennen, welche großen Potenziale dort liegen, notwendige Vereinfachungen und damit auch Einsparungen herbeizuführen.
Die Kommission kann sich an dieser Stelle gerne an uns in Hessen ein Beispiel nehmen.Wir haben seit Jahren an der Verschlankung unserer Verwaltung gearbeitet, und wir haben eine Menge Rechtsvorschriften abgebaut. Ich muss sagen: Unser Gemeinwesen blüht weiter.
Subsidiaritätskultur bedeutet in unserer täglichen politischen Arbeit auch, dass wir uns unseren spezifischen hessischen Interessen zuwenden, Erkenntnisse und Belange in der Diskussion um europäische Rechtsakte schon sehr frühzeitig und mit Nachdruck in den politischen Entscheidungsprozess einbringen und so den europäischen Prozess als Hessen mitgestalten.
Damit wir hier noch stärker einwirken können, habe ich ein 365-Tage-Programm mit 20 sogenannten Hessen-Themen konzipiert. Ich freue mich sehr und bin dankbar dafür, dass alle Kolleginnen und Kollegen in der Landesregierung dieses Programm nachhaltig unterstützen.
Damit es keine Missverständnisse gibt: Die 20 HessenThemen des 365-Tage-Programms sind keine Auflistung der wichtigsten Politikbereiche aus Sicht der Landesregierung, und sie sind auch kein abschließender Katalog. Sie sind vielmehr eine exemplarische Zusammenstellung von Themen verschiedener Politikbereiche, die nahezu das komplette Spektrum der Entscheidungsstrukturen auf europäischer und nationaler Ebene abdecken. Ganz wesentliche Punkte des 365-Tage-Programms sind Entbürokratisierung und Verfahrensvereinfachung, also typische Schwerpunkte der Arbeit dieser Landesregierung.
Vielen Dank.– Für Hessen als zentralen Wirtschafts-,Verkehrs- und Wissenschaftsstandort geht es vor allem um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen.Deshalb stehen auch zahlreiche solcher Themen auf der Agenda. Ich weiß, dass das am Ende nicht jedem passen wird, aber noch ist es die Wirtschaft, die die meisten Arbeitsplätze schafft, die Menschen ernährt und die Zukunft sichert. Hessische Europapolitik muss daher auch immer hessische Politik zur Unterstützung der heimischen Wirtschaft innerhalb der Europäischen Union sein.
Wir müssen Schluss machen damit, dass wir aus binneneuropäischen Wettbewerbsregelungen globale Wettbewerbsnachteile für uns selbst gebären, die zulasten der einheimischen Wirtschaft und zulasten von einheimischen Arbeitsplätzen gehen. Das gilt beispielsweise für einen auf europäische Flüge begrenzten Emissionshandel im Luftverkehr ebenso wie für die Offenlegung von chemischen Verbindungen im Rahmen von REACH oder bei europaweiten Grenzwerten für im internationalen Wettbewerb stehende Unternehmen. Wir laufen hier Gefahr, dass wir für uns selbst Regeln aufstellen, die in anderen Regionen dieser Welt umgangen werden können und unsere europäischen Unternehmen in einen großen Wettbewerbsnachteil versetzen. Dagegen wehren wir uns mit aller Kraft.
Meine Damen und Herren, ein ganz zentraler Punkt im 365-Tage-Programm ist vor diesem Hintergrund auch die Überarbeitung – Herr Kollege Häusling, ich betone: die Überarbeitung, nicht die Abschaffung – der FFH- und der Vogelschutzrichtlinie. Diese naturschutzrechtlichen Richtlinien bedürfen einer dringenden Revision. Die Tatsache, dass ein Bauer, der seit 30 Jahren seine Äcker bestellt, dann, wenn er bei Routinearbeiten eines Morgens einen neu zugezogenen Hamster mit seinem Mähdrescher verletzt und damit gegen die FFH-Richtlinie verstößt, möglicherweise mit einem Verfahren zu rechnen hat,
Herr Kollege Kaufmann, wenn Sie sich an der Stelle so echauffieren, muss ich sagen: Auch die Tatsache, dass ein Glöckner in Nordhessen, bevor er die Glocken läutet, eigentlich ein Notifizierungsverfahren in Brüssel in Gang setzen muss, weil im Glockenturm eine seltene Fledermausart wohnt,hat mit der modernen Welt nur sehr wenig zu tun.
(Beifall bei der CDU – Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist miese Polemik, sonst nichts! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb werden wir an dieser Stelle tätig werden.Wir sind froh und dankbar, dass es erste positive Signale von Teilen der Bundesregierung gibt. Im Übrigen darf ich Ihnen sagen: Das ist keine Minderheitsmeinung der Hessen, sondern auch im Bundesrat und in der Ministerpräsidentenkonferenz gibt es in dieser Frage eine Mehrheit.
Im Agrarbereich setzten wir uns für Änderungen an der geplanten Weinmarktordnung ein. Wir glauben, dass 2,4 Milliarden c besser in das Marketing und in Verkaufsstrategien für europäische Weine fließen sollten als in die Rodung von Rebflächen. Hier ist es gelungen, zusammen mit den Weinbauregionen Aquitaine, Rioja und Toskana ein gemeinsames Positionspapier zu erarbeiten, das für die Beibehaltung der bewährten traditionellen Verfahren plädiert, wie wir sie seit vielen, vielen Jahrhunderten in Deutschland anwenden. Ich darf Ihnen aktuell sagen:Wir haben auch hier erste Erfolge erzielt, weil sich beispielsweise der Agrarausschuss den Positionen, die in dem gemeinsamen Papier niedergelegt sind, angeschlossen hat.
Ich habe im Europaausschuss intensiv über das 365-TageProgramm Auskunft gegeben. Ich bin mir sehr sicher, und ich bin sehr darauf gespannt, dass wir am Ende interessante Ergebnisse sowohl in unserer Arbeit nach außen als auch in unserer Arbeit nach innen feststellen werden, die dann auch zu Konsequenzen führen werden, damit wir uns in Fragen europapolitischen Auftretens noch weiter professionalisieren.
Wir können an dieser Stelle stolz darauf sein – das sei hier durchaus hinterlegt –,dass wir mit unserem 365-Tage-Programm schon erste Erfolge nachweisen können. Beispielsweise wurden die Änderungen an der Richtlinie betreffend die Bodenverkehrsdienste von der Kommission erst einmal fallen gelassen.Außerdem hat sie ihre für den Finanzplatz Frankfurt äußerst problematischen Pläne, die Wertpapierabwicklung in einer EU-Richtlinie zu regulieren, aufgegeben. Bei der Frage der Portabilität von Betriebsrenten sind zumindest die schärfsten Zähne der entsprechenden Vorschläge, die aus Brüssel gekommen sind, gezogen worden. Gleiches gilt für die Alkoholstrategie und auch im Blick auf das Thema Feinstaub. Sie sehen, es gibt eine ganze Fülle von Fragen, die für uns als Hessen ganz wesentlich sind,wo wir mit dem 365-Tage-Programm erreichen, die hier notwendigen Erfolge zu erzielen.
Hessen ist in Brüssel und damit in Europa hervorragend aufgestellt. Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Landesvertretung in Brüssel ein herzliches Wort des Dankes zu sagen, weil sie dort wirklich hervorragende Arbeit leisten und die Interessen unseres Bundeslandes hervorragend vertreten.
Dazu zählt auch, dass wir uns für unsere Projekte strategische Partner suchen, und zwar nicht nur im Inland. Sehr lange waren wir so aufgestellt, dass wir versucht haben, Bayern, Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen für gemeinsame Projekte zu gewinnen; dann aber mussten wir feststellen, dass wir bei der Kommission „als Deutsche“ wahrgenommen wurden. Wir sind mittlerweile dabei, zu verschiedenen Themenbereichen internationale Koalitionen zu schmieden.Ich habe es beim Thema Weinbau deutlich gemacht. Mit Spanien, Italien und Frankreich schließen wir hier internationale Koalitionen. Das sorgt dafür, dass wir am Ende größere Erfolge in Brüssel einfahren können. Das ist ein Weg, den wir in den nächsten Jahren noch sehr viel stärker fahren werden.
Sie wissen, dass wir sehr stark im AdR, im Ausschuss der Regionen, verankert sind und dass wir sehr intensiv mit unseren drei Partnerregionen, der Aquitaine in Frankreich, der Emilia-Romagna in Italien und mit Wielkopolska in Polen zusammenarbeiten. Diese Partnerschaften sind ein wichtiges Instrument, um auf regionaler Ebene Menschen näher zueinander zu bringen und regionale Interessen auf europäischer Ebene stärker zu vertreten. Das Papier zum Thema Weinbau mag hier als ein schönes Beispiel dienen.
Im Rahmen der einzelnen Partnerschaften laufen sehr viele Projekte, von denen ich hier nur den beiderseitigen langfristigen Bedienstetenaustausch mit der Aquitaine, das Qualifizierungsprogramm „Europäischer Akademie der Regionen“ mit Wielkopolska – hier danke ich ausdrücklich der Hertie-Stiftung, die uns mit großem finanziellen Einsatz, aber auch mit sehr viel Sachverstand unterstützt – und den Aufbau der Friedensschule Monte Sole in der Emilia-Romagna nennen.
Wir müssen als Hessen unser Augenmerk allerdings auch auf neue Mitglieder wie Ungarn oder Rumänien richten. Auch hier sehe ich für Hessen ausgezeichnete Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Mit Ungarn arbeiten wir erfolgreich im Rahmen der „Europäischen Akademie der Regionen“ zusammen und bieten Hospitationsprogramme für ungarische Verwaltungsbedienstete in der hessischen Landesverwaltung an. Mit Rumänien und Bulgarien verbinden uns mittlerweile enge politische Kontakte auf höchster Ebene, die nach unserem Willen weiter ausgebaut werden sollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, als wichtiges Land in Europa und in Deutschland braucht Hessen eine effiziente Europakoordinierung in der Hessischen Staatskanzlei und eine starke Landesvertretung sowohl in Berlin als auch in Brüssel. Gerade Brüssel gewinnt dabei immer mehr an Bedeutung. Die Landesvertretung in ihrer Aufgabenvielfalt ist unser hessischer Brückenkopf in Brüssel. Sie ist zugleich eine Plattform für hessische Unternehmen und Kommunen. Ich bin dem Hessischen Landtag daher sehr dankbar, dass es auch in Zeiten enger finanzieller Spielräume gelungen ist,zwei zusätzliche Stellen für die Landesvertretung in Brüssel in diesem Jahr zu bewilligen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch in Brüssel können Sie an der Arbeit unserer Landesvertretung sehr deutlich den Stellenwert des Landes ablesen. Wir haben im vergangenen Jahr zum ersten Mal dort ein Weinfest veranstaltet und guten hessischen Wein kredenzt.Wir hatten etwa 1.000 Besucher: Kommissionsvertreter, Parlamentarier, Kabinettsmitglieder, Journalisten, Unternehmer. Es war schon letztes Jahr, obwohl es das erste Mal stattgefunden hat, nach dem bayerischen Oktoberfest das größte Ereignis, das es in Brüssel gab.