Protocol of the Session on July 10, 2003

Ich will Ihnen ein ganz einfaches Beispiel vortragen.Vielleicht ist es dann auch für Sie leichter verständlich. Heute kann jemand höchstens 148,50 c zu seiner Sozialhilfe hinzuverdienen; alles, was er darüber hinaus verdient – also wenn er selbst wieder tätig wird, sich nicht auf den Staat verlässt, sondern einen Job annimmt –, wird ihm zu 100 % entzogen. Das ist natürlich ein Grundfehler der heutigen Gesetzeslage.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Unser Gesetzentwurf sieht genau dort etwas anderes vor. Wenn Sie an dieser Stelle den Status quo und das hessische Gesetz vergleichen, dann haben Sie bei einem Bruttolohn eines Ehepaares mit zwei Kindern von 1.050 c heute weniger übrig als nach unserem Modell.Genau dort liegt der große Unterschied. Bei uns steigert sich das Einkommen für die Familie, bei uns bleibt netto tatsächlich mehr übrig.Wenn Sie vergleichen, dass heute einem Ehepaar mit zwei Kindern bei einem tatsächlichen Bruttolohn von 2.000 c nicht mehr bleibt als bei einem Bruttolohn von 1.050 c, dann ist das die eigentliche Schande. Hier brauchen wir eine Korrektur in den sozialen Sicherungssystemen.

(Beifall bei der CDU)

Mit unserem Gesetzentwurf zum Thema Niedriglohnsektor schaffen wir es,dass gerade einer solchen Familie – das gilt übrigens ganz genauso für Alleinerziehende – mehr verbleibt, wenn sie arbeiten geht, anstatt nur Sozialleistungen zu empfangen.

Das ist der grundlegende Unterschied zum heutigen System: dass derjenige, der eine Arbeit annimmt, die möglicherweise niedrig entlohnt ist, trotzdem am Schluss mehr in der Tasche hat, als das vorher der Fall war. Über die Integration in den Arbeitsprozess kann er wieder am Arbeitsleben teilnehmen. Im Übrigen ist das natürlich volkswirtschaftlich am Schluss viel günstiger, wenn wir Menschen in den Arbeitsmarkt integrieren, als wenn wir sie dauerhaft in der Sozialhilfe belassen, anstatt ihnen zu helfen, dort wieder herauszukommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Das ist natürlich ganz entscheidend für Familien mit Kindern. Dazu haben Sie bisher überhaupt keine Vorschläge gemacht. Dabei wissen Sie genau, dass heute gerade diejenigen Menschen besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind, die schlecht ausgebildet sind, die keine Ausbildung haben oder nicht weiter zu qualifizieren sind. Ich dachte, es bestehe inzwischen ein Konsens darüber, dass wir nicht jeden zum Facharbeiter qualifizieren können. Trotzdem muss aber auch derjenige, der das nicht schafft, eine Möglichkeit erhalten, am Arbeitsmarkt teilzunehmen.

Diese Möglichkeit eröffnen wir genau in diesem Bereich. Sie sollten lieber ein Stück weiter auf uns zukommen und mitmachen, damit die strukturellen Reformen auf dem Arbeitsmarkt möglich werden und dadurch Hemmnisse beseitigt werden können, die immer noch dazu führen, dass gerade diese Arbeit in Deutschland überhaupt nicht mehr ausgeführt und z. B. nach Polen verlagert wird. Das ist nicht unser Ziel. Wir wollen, dass die Arbeit in Deutschland bleibt, und wir brauchen diesen Niedriglohnsektor, um Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, wieder dauerhaft in Beschäftigung zu kommen.

(Petra Fuhrmann (SPD): So ein Schwachsinn!)

Natürlich gibt es auch einen weiteren großen Unterschied. Das Prinzip in der Sozialhilfe lautet „Leistung für eine Gegenleistung“, also aktivierende Sozialhilfe. Das heißt, derjenige, dem ein Angebot gemacht wird – also auch derjenige, der Sozialhilfe als staatliche Transferleistung erhält; wer auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeitet, der hat mehr –, ist verpflichtet, eine Gegenleistung zu erbringen. Dafür – das sagen wir ganz klar – muss auf kommunaler Seite ein Angebot gemacht werden.

(Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch jetzt schon so!)

Ich bin sicher, dann wird man das sehr schnell trennen können.Wer Interesse hat,nimmt das Angebot an,und bei dem, der dabei nicht mitmacht, greifen dann die Kürzungsmöglichkeiten. Das hat etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Es kommt denjenigen zugute, die bereits heute unsere sozialen Sicherungssysteme finanzieren.Wir brauchen wieder eine Akzeptanz der Sozialhilfe, nämlich dass die Leute davon überzeugt sind, dass die Sozialhilfe dazu beiträgt, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen, sodass sie nicht dauerhaft in der Sozialhilfe bleiben.

(Beifall bei der CDU)

Frau Ministerin, ich weise kurz auf die Redezeit hin.

Ich komme sofort zum Schluss,Herr Präsident.– Allein an diesen wenigen Beispielen ist deutlich geworden, dass wir in Deutschland einen Niedriglohnsektor brauchen, dass wir ihn ganz schnell einführen müssen und dass wir nicht länger warten können.

(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Beispiele waren total daneben!)

Sie haben in Berlin bei der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe Zeit vergeudet.Wir haben hier schon einige Modelle auf den Weg gebracht, und wir werden gerade im Hinblick auf Menschen, die in der Sozialhilfe sind, weiter daran arbeiten, diese strukturellen Verkrustungen wieder aufzubrechen.

Im Übrigen ist es gerade für allein erziehende Frauen ein entscheidender Faktor, wenn ihnen die Möglichkeit geboten wird, endlich aus der Sozialhilfe herauszukommen. Es ist entscheidend, wenn Kinderbetreuung organisiert wird und die Mittel – das ist ein ganz wichtiger Punkt – im Grundgesetz so festgeschrieben werden, dass die kommunale Seite nicht benachteiligt wird. Vielmehr sollen ihre Kompetenz in der Arbeitsvermittlung und ihr Wissen eingeschaltet werden,um gemeinnützige Arbeit zu organisieren, damit keine neuen Drehtüreffekte, wie bei der Bundesanstalt für Arbeit, geschaffen werden.

Das sollten Sie sich im Detail noch einmal durchlesen. Vielleicht könnten wir dann eine fachliche und ausführlichere Debatte zu diesem Thema führen.

(Beifall bei der CDU)

Frau Ministerin, vielen Dank. – Es liegen keine weiteren Wortmeldungen zu dieser Aktuellen Stunde vor.Damit ist auch Tagesordnungspunkt 67 behandelt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf:

Entschließungsantrag der Fraktion der FDP betreffend Einrichtung einer Kinderschule – Drucks. 16/256 –

Die Redezeit beträgt zehn Minuten je Fraktion. Frau Kollegin Henzler hat das Wort.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP hat früher als alle anderen Fraktionen ein konkretes Konzept für das Thema vorschulische Bildung entworfen und es mit einem einprägsamen Namen, nämlich „Kinderschule“, versehen. Bereits am 15. Januar 2002 haben wir der Öffentlichkeit ein umsetzungsfähiges Konzept vorgestellt, eine sehr große Resonanz erhalten und damit eine Diskussion über die Neugestaltung der Phase des Schuleingangs ausgelöst.

Im Laufe des vergangenen Jahres folgten Vorschläge der anderen Fraktionen, die jedoch in ihrer konzeptionellen Ausgestaltung nicht so konkret sind wie das Konzept der Kinderschule. Dazu zählen das Modell der Bildungsgärten der GRÜNEN, das verpflichtende vorschulische Jahr der SPD sowie die Renaissance der Eingangsstufen durch die CDU. Die Vorstellungen zur Umsetzung lassen bislang allerdings noch auf sich warten.

(Beifall bei der FDP)

Die Notwendigkeit einer verbesserten vorschulischen Bildung wurde somit lange genug politisch diskutiert. Eine praktische Umsetzung oder zumindest eine Weichenstellung für die weiteren Schritte auf diesem Wege sind bislang jedoch noch nicht erfolgt. Wir haben jetzt genug geredet. Wir sollten endlich handeln, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP)

Für die FDP sage ich ganz offen: Wenn wir die Koalition fortgesetzt hätten, wäre das einer der Schwerpunkte in der Politik gewesen.

(Beifall bei der FDP – Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, wenn!)

Wenn Hessen schon bald Erfolge auf dem Weg zu einer verstärkten vorschulischen Bildung vorweisen will, sollte es endlich handeln. In einem Artikel aus der „Welt“ vom 7. Juli 2003 war zu lesen, dass die Landesregierung plant, bis zum Ende dieses Jahres Bildungsstandards für Kindergärten zu erstellen. Über die Notwendigkeit, den Bildungsauftrag der Kindergärten zu stärken, sind wir uns alle einig. Allerdings greift diese Maßnahme aus unserer Sicht zu kurz, da sie nicht alle Kinder erreicht und die Schnittstelle zwischen Kindergarten und Schule nicht ausfüllt. Wir dagegen fordern eine echte Strukturreform in der Vorschulerziehung.

(Frank Gotthardt (CDU): Zwangsschule! – Gegenruf der Abg. Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zwang und Liberale! – Frank Gotthardt (CDU):Wo er sein muss, muss er sein!) )

Mit dem vorliegenden Entschließungsantrag zur Einführung einer Kinderschule fordert die FDP-Fraktion die Landesregierung auf,sich zu einem konkreten Konzept zu bekennen, endlich Nägel mit Köpfen zu machen und den Übergang vom Kindergarten zur Schule im Sinne bestmöglicher Startbedingungen für alle Schulanfänger zu nutzen.

Das Abschneiden deutscher Schüler bei der PISA-Studie und bei der IGLU-Studie hat überdeutlich gezeigt, dass der staatliche Bildungsauftrag sehr viel früher ansetzen muss. In anderen Staaten, die Deutschland weit voraus waren, nämlich 16 von 41 Staaten allein in Europa, existieren bereits funktionierende Vorschulsysteme.

(Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber freiwillig!)

Schauen Sie nach Frankreich. 95 % aller Eltern schicken ihre dreijährigen Kinder – freiwillig – in die Ecole maternelle. Sie haben langjährige Erfahrungen mit dieser Schule. Sie existiert nämlich in Frankreich schon seit 50 Jahren. In Frankreich redet niemand von einer Überforderung der Dreijährigen. Natürlich ist das eine Bildungseinrichtung. Sie ist für die Eltern kostenfrei.

In den Niederlanden treten alle Vierjährigen in die Vorschule ein. Unter den außereuropäischen Ländern ist Kanada zu nennen, das in seinen Kindergärten Grundschulpädagogen einsetzt. Wann werden die hessischen Kinder endlich früher gebildet und nicht bloß kostenpflichtig betreut?

(Beifall bei der FDP)

Die Vorteile des FDP-Konzepts Kinderschule liegen auf der Hand: Diagnose des Wissens und des Entwicklungsstands aller Fünfjährigen mit einem auf jedes Kind genau zugeschnittenen Förderkonzept – bei besonders Begabten oder Hochbegabten wäre auch eine sofortige Einschulung möglich –, besondere Förderung der Sprachkompetenz als Grundstein für die Lesekompetenz, Schaffung von Chancengleichheit bei Schuleintritt, eine einheitliche Altersstruktur in der Grundschule.Es ist ein großes Problem, wenn wir die Grundschule auch für jüngere Kinder öffnen, denn dann sitzen in der ersten Klasse Fünfjährige neben Kindern, die schon über sieben Jahre alt sind. Das unter einen Hut zu bringen ist für Lehrerinnen und Lehrer sehr schwierig.

(Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja!)

Ein weiterer Vorteil der Kinderschule ist die Anhebung des Niveaus der Grundschulbildung. Dann kann vom ersten Tag an in der Grundschule zielgerichtet unterrichtet werden, weil die sozialen Verhaltensweisen bereits erlernt und auch alle anderen Vorbedingungen erfüllt sind. Das ist auch eine Voraussetzung für die optimale Entwicklung aller Kinder und die Früherkennung von Defiziten.

Die Kinderschule ist eine verpflichtende Einrichtung. Sie ist kostenfrei und daher besonders für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern wichtig. Wir haben aus der PISA-Studie gelernt, dass gerade in der Bundesrepublik die soziale Herkunft für die schulischen Leistungen extrem entscheidend ist. Da muss man möglichst früh ansetzen.

Außerdem entlastet die Kinderschule die Kommunen von einem kompletten Kindergartenjahrgang. Damit könnte man das Konnexitätsprinzip einmal andersherum ausprobieren.

Durch ein spezielles pädagogisches Konzept, das von Erziehern und Grundschulpädagogen gemeinsam erarbeitet werden muss,sollen Kinder spielerisch an das Lernen herangeführt werden. Glücklicherweise wird mittlerweile die Notwendigkeit der Befriedigung des Wissensdurstes und der Neugierde der Kinder von den Wissenschaftlern öffentlich proklamiert.

Mittlerweile gibt es unendlich viele Materialien für die vorschulische Bildung von Kindern. Man kann auch einmal in den anderen Ländern gucken und bei anderen Ländern lernen. Nicht nach hinten verlängern, sondern vorne verbessern, heißt hier die Devise.

Die IGLU-Studie hat auch gezeigt, dass unsere Grundschulen insgesamt recht gute Arbeit leisten. Dennoch be

legt auch da Deutschland nur das obere Mittelfeld. Die PISA-Sieger haben an der IGLU-Studie gar nicht teilgenommen. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich keinerlei Beleg für die häufig geäußerte Forderung, insbesondere von den GRÜNEN, dass die Grundschulzeit einfach auf sechs oder gar acht Jahre verlängert werden sollte.

(Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nicht einfach!)

Dies wäre lediglich ein künstliches In-die-Länge-Ziehen eines mittelmäßigen Systems ohne positive Effekte.