Protocol of the Session on June 21, 2006

Ich glaube,Hinsehen ist ganz wichtig.Wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Schülerinnen und Schüler darin bestärken, hinzusehen. Sie müssen adäquate Verhaltensmuster haben. Sie müssen auf Verhaltensmuster zurückgreifen können, die ihnen aufzeigen, wie sie eingreifen können und wie sie in den entsprechenden Situationen handeln können. Hierzu gibt es hervorragende Projekte, die auch in Hessen bereits praktiziert werden, die zeigen, wie man Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler fit machen kann, damit sie in solchen Situationen richtig reagieren.

Wir brauchen aber auch für unsere Schulen ein stärkeres Unterstützungssystem. Ich meine damit den Ausbau der Schulsozialarbeit. Ich meine damit vor allem die stärkere und bessere Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule. Ich meine damit aber auch die Schulpsychologen, die mit Sicherheit Wesentliches dazu beitragen können, dass Gewalt an unseren Schulen erst gar nicht aufkommt. Ferner könnten sie verstärkt dazu beitragen, wenn Gewaltphänomene an unseren Schulen aufgetreten sind, die Gewalt zu vermindern und die Streitigkeiten zu schlichten.

Ich glaube, an diesen Stellen ist die Situation, die wir in Hessen vorfinden, noch verbesserungswürdig. Ich möchte dazu aus der „Frankfurter Neuen Presse“ vom 3. April 2006 zitieren.In diesem Artikel werden Aussagen der Vorsitzenden des Berufsverbands Hessischer Schulpsychologen, Claudia Raykowski, zu der Lage wiedergegeben. Ich zitiere:

Die Verbandsvorsitzende wies darauf hin, derzeit sei jeder Schulpsychologe für 30 bis 50 Schulen zuständig, manche davon sei bis zu 70 km entfernt. Die Zahl der Planstellen sei seit 1981 um 10 auf 81 gesunken, davon seien 54 besetzt.

Ich will jetzt nicht mit kleiner parteipolitischer Münze argumentieren. Deswegen habe ich jetzt etwas zitiert, was sich auf einen Zeitraum bezieht, der viele unterschiedliche Regierungen umfasst. Es geht um die Zeit seit 1981.

Aber ich glaube, hieraus ergibt sich eine Aufgabe für alle Fraktionen. Wir müssen die Mittel bereitstellen, die notwendig sind,damit die Schulpsychologen unseren Schulen die Unterstützung bieten können, die sie brauchen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte zu den Gründen für Gewalt an unseren Schulen kommen. Herr Irmer, ich glaube, Sie haben eine Antwort auf Ihre Argumente verdient. Ich möchte das allerdings nicht in der Art machen, in der Sie es hier getan haben. Ich denke, das war als Argumentation einem gemeinsamen Antrag auch nicht ganz angemessen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Man sollte einen gemeinsamen Antrag nicht zum Anlass nehmen, das zu erzählen, was man schon immer erzählt. Ich glaube, das war dem Thema nicht unbedingt zuträglich.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herr Irmer, ich habe ein völlig anderes Bild als Sie von dem, was die Generation der 68er für unsere Gesellschaft geleistet hat. Es ist zu Übertreibungen gekommen. Das ist aber immer so, wenn gesellschaftliche Veränderungen anstehen. In den Gruppen, die die gesellschaftlichen Veränderungen tragen, wird es immer Übertreibungen geben. Herr Kollege Irmer, mir fallen auch viele Beispiele für Übertreibungen aus Ihren Reihen ein.

(Andrea Ypsilanti (SPD):Allerdings!)

Man muss da Bilanz ziehen. Man muss sich fragen, was diese gesellschaftliche Bewegung der 68er später auch in den Parteien, in der FDP, in der SPD und bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erreicht haben.Ich stelle dazu fest:Wir leben heute in einer freieren Gesellschaft. Wir leben heute in einer offeneren Gesellschaft. Wir leben heute in einer lebenswerteren Gesellschaft. Außerdem leben wir heute in einer insgesamt friedlicheren Gesellschaft. Das wurde durch das erreicht, was 1968 und in den Folgejahren angestoßen wurde. Nur so viel wollte ich der Rede des Herrn Kollegen Irmer entgegnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herr Kollege Irmer,Sie unterliegen einem grundlegenden Missverständnis. Die Schülerinnen und Schüler, die heute die Schulen besuchen, sind nicht die Kinder der 68er-Generation. Diese Kinder haben Eltern, die wesentliche Teile ihres Aufwachsens unter der geistig-moralischen Wende Helmut Kohls erlebt haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herr Kollege Irmer, da unterliegen Sie einem grundlegenden Irrtum. Wir müssen da schon historisch exakt argumentieren. Herr Kollege Al-Wazir hat in seinem Zwischenruf – –

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Herr von Plottnitz ist daran schuld!)

Herr Kollege Hahn hat heute noch nichts gesagt. – Herr Kollege Al-Wazir hat schon darauf hingewiesen, dass es nicht die 68er waren, die das ausgelöst haben, was Sie zu Recht als Verrohung in den Medien beschrieben haben. Das Privatfernsehen wurde von Helmut Kohl unter dem Titel der geistig-moralischen Wende eingeführt. Herr Kollege Irmer, wenn wir darüber sprechen, gehört es auch dazu, das zu sagen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben über die Sekundärtugenden gesprochen. Ja, die Sekundärtugenden sind wichtig. Wir dürfen darüber aber nicht vergessen, über die Primärtugenden zu reden. Wir dürfen nicht vergessen, darüber zu reden, in welcher Art Gesellschaft wir leben wollen und welche Chancen wir den Menschen und insbesondere den Kindern in unserer Gesellschaft geben wollen. Wir müssen uns auch fragen, ob der soziale Status der Eltern ausschlaggebend für den

Bildungserfolg und den künftigen sozialen Status der Kinder sein soll. Auch darüber müssen wir reden und nicht nur über Sekundärtugenden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Reinhard Kahl (SPD))

Es darf nicht sein, dass die Botschaft an sozial benachteiligte Kinder lautet: Wir geben euch keine Chance, aber seid wenigstens höflich. – Das wäre entschieden zu wenig. Die Botschaft muss vielmehr lauten: Wir bemühen uns, euch Chancen zu geben, wir bemühen uns, soziale Benachteiligungen auszugleichen, damit sich alle gemäß ihren Fähigkeiten in unserer Gesellschaft entwickeln können.

Natürlich müssen wir auch über Höflichkeit und Sekundärtugenden reden. Herr Kollege Irmer, wir müssen aber beides tun und dürfen es nicht auf das eine beschränken. Es wird den benachteiligten Kindern nämlich nicht helfen, ihnen zu sagen: Seid wenigstens höflich.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Reinhard Kahl und Lothar Quanz (SPD) – Michael Boddenberg (CDU): Herr Kollege, ich sehe keinen Widerspruch!)

Herr Kollege Boddenberg, ich frage Sie, ob Sie in Ihrer Fraktion zuvor darüber gesprochen haben, wie der Redebeitrag des Herrn Kollegen Irmer aussehen wird. Sie werden aber noch Gelegenheit haben, dazu etwas zu sagen.

Die Gründe für Gewalt sind sehr vielfältig. Herr Kollege Siebel hat darauf schon hingewiesen. Deswegen kann ich mich dazu kurz fassen.

Es geht dabei auch sehr stark um das familiäre Umfeld. Wenn die Schülerinnen und Schüler schon in der Familie Gewalt erfahren, ist die Wahrscheinlichkeit sehr viel höher, dass sie auch selbst Gewalt ausüben.

Natürlich geht es dabei auch um Armut und Perspektivlosigkeit, und zwar zum einen um die der Eltern, aber auch um die der Schülerinnen und Schüler. Armut und Perspektivlosigkeit führen nämlich dazu, dass Schülerinnen und Schüler gewaltbereiter werden.Aus meiner Sicht sind das die wesentlichen Zusammenhänge und damit auch die wesentlichen Aspekte, die wir bearbeiten müssen.

Das entlässt niemanden aus seiner individuellen Verantwortung. Aber wir als Politiker dürfen uns auch nicht aus unserer Verantwortung entlassen, die wir für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Lothar Quanz (SPD))

Selbstverständlich sind auch die Eltern in der Pflicht. Kinder müssen von zu Hause Liebe, Unterstützung und Erziehung mitbekommen.Wenn das nicht geschieht, werden wir das in staatlichen Einrichtungen nur mit sehr viel größerem Aufwand, wenn überhaupt, nachholen können. Deshalb muss der Appell an die Eltern ergehen,ihrer Verantwortung hinsichtlich der Erziehung gerecht zu werden.

Gleichzeitig müssen wir aber auch erkennen, dass sich viele Eltern eine stärkere Unterstützung hinsichtlich der Verantwortung wünschen, die sie bei der Erziehung tragen. Das ist eine Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen. Ich glaube, da waren die Kürzungen, die in diesem Bereich aufgrund der „Operation düstere Zukunft“ erfolgten – –

(Axel Wintermeyer (CDU): Ah! Erkennen Sie doch einmal, dass das richtig gewesen ist!)

Da gibt es keinen Grund, „Ah“ zu rufen.

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Sie müssen schon dazu stehen:Meine Damen und Herren, das war nicht hilfreich.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Axel Wintermeyer (CDU): Dazu kann ich nur sagen: düstere Opposition!)

Ich komme zum Schluss meiner Rede. Wir brauchen an unseren Schulen vor allem auch Zeit und Muße.Wir brauchen eine Atmosphäre, in der man auf den einzelnen Schüler und die einzelne Schülerin eingehen kann. Wir brauchen eine Atmosphäre, in der die Vielfältigkeit der Schüler, aber auch ihre Probleme beachtet werden können. Das gilt für das Thema „Gewalt und Verrohung an den Schulen“. Das gilt aber auch generell, wenn es darum geht, den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten. – Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das Wort hat Frau Staatsministerin Wolff für die Landesregierung.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dankbar, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag besprechen können, auch wenn es zu Differenzierungen in der Begründung und den Erläuterungen gekommen ist.Ich bin dankbar,dass wir den Antrag gemeinsam annehmen werden.

Ich möchte Jean-Paul Sartre zitieren:

Die Gewalt lebt davon, dass sie von anständigen Leuten nicht für möglich gehalten wird.

Ich glaube,das stimmt.Der heutige Tag zeigt,dass die Mitglieder aller Fraktionen ihre Augen nicht vor den Gewaltphänomenen verschließen wollen, die vorhanden sind. Die Mitglieder aller Fraktionen wollen gemeinsam den Beitrag würdigen, der bereits erbracht wurde, damit wir bei der Gewaltprävention und bei der Bekämpfung der Gewalt aktiv sein können. Jugendlichen kann nur dann geholfen werden, den richtigen Weg zu finden, wenn alle Teile der Gesellschaft gemeinsam dazu beitragen, dass die Gewalt erst gar nicht entsteht und dass die Gewalt dort, wo sie aufgetreten ist, gleich eingedämmt wird.

Deswegen ist es wichtig, dass wir uns den Tatsachen immer wieder neu zuwenden. Zu den Tatsachen gehört in der Tat, was Herr Kollege Wagner eben auch gesagt hat, dass der mediale Einzelfall die Charakterisierung dessen, was an Gewalt in der Gesellschaft tatsächlich existiert, überspitzt und damit möglicherweise den Blick verstellt

gegenüber dem, was an latenter Gewalt in einer breiteren Form besteht.

Denn die Wirklichkeit ist doch, dass die Zahl der groben Gewalttaten in den letzten Jahren tatsächlich geringer geworden ist, dass wir aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass eine latente Gewaltbereitschaft und ein latentes Desinteresse in der Gesellschaft breiter geworden sind.

In diesem Bereich muss man, glaube ich, noch einmal auf das zurückkommen, was Kollegin Henzler zu den Untersuchungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und von Prof. Pfeiffer gesagt hat. Der zentrale Punkt ist, nicht nur darüber zu reden: Welche Beispiele der Gewalt können wir den Medien entnehmen? Zu welchen Tageszeiten wird welches Thema angesprochen, wird an welche Instinkte der Menschen appelliert? Welches Vorbild wird möglicherweise gezeigt? Vielmehr ist die Fragestellung viel stärker darauf fokussiert: Was tun Kinder in ihrer Freizeit? Was bewirkt das Tun von Kindern in der Freizeit, was das Fernsehen angeht, insbesondere dann, wenn das Kind über einen Fernsehapparat oder eine Playstation oder die gesamte Apparatur im eigenen Verfügungsraum des Kinderzimmers hat und sich damit der innerfamiliären Auseinandersetzung, was gesehen wird, wann gesehen wird, und der Diskussion darüber, was gesehen worden ist, entzieht?