Protocol of the Session on July 9, 2003

Das Hauptproblem unseres Bildungssystems ist, dass wir eine zu hohe Anzahl an Risikoschülerinnen und -schülern haben. Es muss eine Anhebung des Leistungsstandards stattfinden. Wir müssen mehr Kinder fördern und sie da

mit zu besseren Abschlüssen befähigen. Das muss in einer angemessenen Schulzeit erfolgen.

Was macht die Landesregierung jetzt daraus? Sie sucht ihr Heil in einer generellen Schulzeitverkürzung. Dies gilt allerdings nicht für die Kinder, die bislang durch das Schulsystem durchgefallen sind. Vielmehr sucht die Landesregierung ihr Heil darin, die Kinder in zwölf Jahren zum Abitur zu führen. Sie schafft damit mehr Probleme, als sie löst.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies betrifft z. B. das Thema Durchlässigkeit bei einem Übergang von der Realschule auf das Gymnasium.Es gibt dazu die Studie „Bildungsgang Realschule“, die im Auftrag des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und der Otto-Wolff-Stiftung erstellt wurde. Darin wird belegt, dass die Lehrerinnen und Lehrer der Realschulen auch ihre besseren Schülerinnen und Schüler nicht auf die Gymnasien schicken. Darüber hinaus fördern sie die schwächeren Schülerinnen und Schüler zu wenig.Von daher besteht das Problem der mangelnden Durchlässigkeit von den Realschulen auf die Gymnasien. Zusätzlich soll künftig im gymnasialen Bildungsgang die zweite Fremdsprache bereits in der 6. Klasse eingeführt werden. Dies soll nur für den rein gymnasialen Bildungsgang gelten. Damit ist völlig klar, dass es für die Realschüler in den Jahrgängen der Klassen 5 bis 10 keinen Übergang mehr auf das Gymnasium geben wird. Das wird selbst dann gelten, wenn sie hervorragende Leistungen erbringen.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das ist doch Unfug!)

Auch für die Schüler der Förderstufe wird künftig gelten: Pech gehabt. – Auch sie werden in Zukunft keine Chance mehr haben, nach Abschluss der 6. Klasse der Förderstufe in die 7. Klasse des Gymnasiums zu kommen. Das wird auch dann gelten, wenn sie sehr gut sind. Denn für sie sind die Lehrpläne nicht geschneidert, die künftig an den Gymnasien gelten sollen. Das ist sozusagen der Todesstoß für die verbliebenen Förderstufen unseres Landes. Das gilt vor allen Dingen für diejenigen, die noch in Verbindung mit Grundschulen vorhanden sind.

Die besondere Stellung der kooperativen Gesamtschulen wird weiter geschwächt werden. Neben den Bildungsgängen der Haupt- und Realschule wird es dort einen gymnasialen Bildungsgang geben, der nur bis zum Ende der Klasse 9 führen wird. Eigentlich sollte es sich um eine verbundene Schule handeln, in der kooperativ gearbeitet werden soll. Dort wird von Lehrerinnen und Lehrer derzeit in Jahrgangsteams gearbeitet. Das wird künftig nicht mehr stattfinden können. Denn dann wird die Durchlässigkeit nicht mehr gewahrt sein. Die Bildungsgänge werden noch einmal gegenüber dem differenziert,was bislang schon an unterschiedlichen Stundentafeln und Lehrplänen vorhanden ist. Der neue Staatssekretär Jacobi hat jüngst auf dem Treffen der Leiter der Gesamtschulen bezeichnenderweise gesagt, dass es künftig keine horizontale Durchlässigkeit mehr geben werde. Dies werde vielmehr nur noch an den Gelenkstellen möglich sein. Das heißt,die Landesregierung hat kein Interesse mehr daran, Kinder so zu fördern, dass sie horizontal durch das Schulsystem in höhere Bildungsgänge gefördert werden. Das zeigt ganz klar: Hessen befindet sich weiter auf dem Weg, eine kleine Elite in kurzer Zeit im Gymnasium zu fördern und durch das Gymnasium zu bringen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Hans-Jürgen Ir- mer (CDU): Ei, ei, ei!)

Es wird künftig ein weiteres Problem geben, nämlich das merkwürdige der sehr unterschiedlichen Schulzeiten.Wir werden die Hauptschule haben, die nach neun Jahren ihren Abschluss vergibt. Den erweiterten Hauptschulabschluss gibt es nach zehn Jahren. Der Abschluss des Bildungsganges auf der Realschule, die mittlere Reife, wird auch in Zukunft weiterhin nach dem 10. Schuljahr vergeben werden. Die Oberstufe wird demnächst aber ab Klasse 10 beginnen. Für eine kooperative Gesamtschule bedeutet dies Folgendes: Die Schüler, die nach der 9. Klasse des gymnasialen Bildungsgangs nicht die notwendige Leistungsstärke haben, um tatsächlich in die Oberstufe gelangen zu können, und deshalb in der Realschule einen mittleren Abschluss anstreben, können dies nicht mehr, wie es bislang möglich war, in der 10. Klasse des Gymnasiums anstreben. Vielmehr werden sie in die 10. Klasse der Realschule versetzt werden müssen. Dort würden aber fünf Jahre lang zuvor andere Lehrinhalte und andere Lerninhalte vermittelt.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Sagen Sie doch einmal, was Sie wollen!)

Das heißt, für die Kinder wird es dann strukturelle und inhaltliche Probleme geben. Für die Lehrerinnen und Lehrer wird das mit pädagogischen Problemen verbunden sein. Das ist kein System aus einem Guss. Das bedeutet auch nicht,dass es qualitativ besser wird.Vielmehr wird es zu einem Qualitätsverlust im gesamten Schulsystem kommen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Heike Habermann (SPD))

Darüber hinaus werden viele Schülerinnen und Schüler auch in Zukunft weiterhin 13 Jahre bis zum Abitur brauchen. Das gilt für all diejenigen, die über die Realschule in die Oberstufe kommen. Dies wird dann wahrscheinlich vermehrt über die beruflichen Gymnasien erfolgen.Auch für die, die über die integrierte Gesamtschule in die Oberstufen kommen werden, wird die Schulzeitverkürzung nicht gelten. Das heißt ganz klar: Hier wird für einen kleinen Teil der Schülerinnen und Schüler eine Sonderung betrieben. Das betrifft diejenigen, die es schaffen, in kurzer Zeit durch das Gymnasium zu kommen.

Man muss einfach sehen, dass es in den Klassen 5 bis 9 zu einer erhöhten Stundenzahl kommen wird. Dort müssen die Schülerinnen und Schüler in kürzerer Zeit mehr lernen.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Mein Gott, das ist unglaublich! Was für ein Skandal ist das!)

Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Das betrifft die Statistik der Zahl der Sitzenbleiber für das letzte Schuljahr. Da haben wir in den Gymnasien bezeichnenderweise in den Klassen 7, 8 und 9 die höchste Zahl der Kinder, die sitzen geblieben sind. Ich meine das jetzt nicht prozentual, sondern real. Das heißt, teilweise sind es über 700 Kinder, die in diesen Schuljahren sitzen bleiben. Das hat etwas mit der Entwicklung der Kinder zu tun. Das hat etwas mit der Pubertät der Kinder zu tun. Sie überlegen nicht, wie man die Schule besser machen kann, indem man die Kinder so fördert, dass sie, ohne sitzen zu bleiben, durch die Schulen kommen. Nein, Sie muten den Kindern zu, mehr in kürzerer Zeit lernen zu müssen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Das heißt,es wird entweder mehr Kinder geben,die sitzen bleiben, oder es wird vermehrt zu Querversetzungen

kommen. Damit wird es mehr Verlierer in unserem Bildungssystem geben. Das können wir aber partout nicht brauchen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Turbogymnasien,die es im Lande Hessen gibt,zeigen, es gibt Kinder,die das in kürzerer Zeit schaffen,aber es ist nur eine kleine Anzahl.Wir hören von den Kindern selbst, die in diesen G 8-Zügen sind, und von den Lehrerinnen und Lehrern,dass sie davor warnen,dieses System auf alle auszudehnen, weil nicht alle Kinder dazu in der Lage sind und unser Schulsystem nicht so geschnitten und gestrickt ist, dass Lehrerinnen und Lehrer Zeit haben, die Kinder auch am Nachmittag noch individuell zu fördern, wenn Defizite auftreten. Das ist das größte Manko an Ihrem Vorhaben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Hinz, kommen Sie bitte zum Schluss Ihrer Rede.

Sie haben vor, in den Gymnasien mehr Stunden bis in den Nachmittag hinein einzuführen, ohne die Schulen tatsächlich auf den Ganztagsbetrieb einzustellen. Sie haben nicht vor, so viele Stunden umzuverteilen, dass tatsächlich die ganzen Wochenstunden, die aus der 10. Klasse wegfallen, von Klasse 5 bis Klasse 9 gegeben werden. Dabei hat die Kultusministerin bei der Vorstellung der neuen Stundentafel vor etwa drei Jahren noch gesagt, sie fände es sehr bedauerlich, dass sie in der Sekundarstufe nicht zusätzliche Stunden einführen könnte, obwohl die Lehrer und die Kinder das eigentlich bräuchten, um besser gefördert zu werden. Jetzt wollen Sie den Kindern zumuten, in kürzerer Zeit mehr zu lernen.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU):Schrecklich,die armen Kinder!)

Sie werden Schiffbruch erleiden.Sie werden nicht zu einer Qualitätsverbesserung für alle kommen, sondern nur für einen kleinen Teil eine Schulzeitverkürzung haben. Ich glaube, das ist genau das, was Sie wollen. Den großen Rest stecken Sie in einen Topf und vergessen ihn. Für eine kleine Elite gibt es den Superstart bis zum Abitur.

(Mark Weinmeister (CDU): Das ist doch die alte Geschichte!)

Wir werden morgen noch einmal über die Kinderschule reden. Unter Qualität verstehen wir andere Gesichtspunkte.

Frau Hinz, kommen Sie bitte zum Ende Ihrer Rede.

Ich komme zu meinem letzten Satz. – Wir wollen Förderung der Kinder von Anfang an. Wir wollen Ganztagsschulen, in denen Kinder wirklich gefördert werden. Wir wollen die Möglichkeit, zusätzliche Förderstunden einzurichten.Und wir wollen,dass Schulen so evaluiert werden, dass Lehrerinnen und Lehrer tatsächlich beweisen, dass sie ihre Kinder zu einem besseren Abschluss bringen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Hinz, jetzt ist es aber gut.

(Heiterkeit)

Als Nächste spricht Frau Abg. Henzler für die FDP-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die hessische CDU-Landesregierung hat in ihrem Regierungsprogramm angekündigt, die Schulzeitverkürzung ab dem Schuljahr 2005/2006 ab Klasse 5 in zwei Etappen zu starten. Diese Ankündigung ist wohl löblich, allerdings ist ihr bisher noch kein Konzept gefolgt, sodass nach wie vor das Verfahren und die notwendigen Reformen des gymnasialen Bildungsganges völlig im Dunkeln liegen.

(Beifall bei der FDP)

Diese mangelnde Transparenz führt bei den Betroffenen, bei Schülern, Eltern und Lehrern, die in dieses Konzept sehr intensiv eingebunden werden müssen, zu einer Verunsicherung. Dieses Verfahren stößt auf massive Kritik der FDP-Fraktion. Deswegen, und um die Debatte anzuregen sowie das Erstellen eines Konzeptes anzuschieben, haben wir den Antrag eingebracht.

(Beifall bei der FDP)

Dass auch SPD und GRÜNE dieses Thema endlich anpacken wollen, machen die beiden anderen vorliegenden Anträge deutlich.Allerdings gehen dort die Vorstellungen weit auseinander. Auch die Vorstellungen dieser beiden Anträge und unseres Antrags gehen weit auseinander.

Während die SPD das rheinland-pfälzische Modell abschreibt und propagiert, das nur eine Kürzung des letzten Halbjahres vorsieht und die Qualifikationsphase vorzieht, sind die GRÜNEN noch restriktiver und lassen ausschließlich eine individuelle Schulzeitverkürzung zu. Das sind beides keine echten Reformen, sondern nur halbherzige Versuche auf einem richtigen Weg.

(Beifall bei der FDP)

Dabei muss man klar sagen, dass von den GRÜNEN und der SPD die Zeichen der Zeit nicht richtig erkannt worden sind. Wenn Sie überlegen, dass unsere jungen Leute heute mit allen europäischen jungen Leuten im Wettbewerb stehen und die anderen mit 23 Jahren aus der Berufsausbildung einschließlich Studium kommen und anfangen können zu arbeiten, während unsere im Schnitt mit 28 Jahren von der Universität kommen: Dann haben die anderen schon fünf Jahre Arbeit hinter sich, fünf Jahre Geld verdient,fünf Jahre Karriere gemacht und fünf Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Deshalb werden beide Varianten der anderen Anträge von uns abgelehnt, da sie zu keiner echten Schulzeitverkürzung führen. Wenn die Abiturienten ihr Abitur vor Ostern ablegen, bringt sie das nicht sehr viel weiter, weil die meisten Studiengänge erst im September bzw. im Wintersemester und nicht im Sommersemester anfangen.

Eine Vorverlegung der Qualifikationsphase bringt einen echten Qualitätsverlust in der Oberstufe, die nach unserer Meinung bei drei Jahren bleiben sollte. Auch die Forderung der GRÜNEN, die Schulzeitverkürzung nur individuell auf das Überspringen einer Klasse, auf Einzelförde

rung auszurichten, halten wir nicht für sinnvoll. Unsere Devise lautet klipp und klar: früher in die Schule und früher aus der Schule, und das für alle Kinder.

(Beifall bei der FDP)

Wir wollen die Sekundarstufe um ein Jahr verkürzen und die dreijährige Oberstufe beibehalten. Wir haben in diesem Antrag konkrete Elemente aufgezeigt, die für eine generelle Einführung der Schulzeitverkürzung unserer Meinung nach sehr wichtig sind. Das ist eine Veränderung des gymnasialen Bildungsganges, die wirklich eine grundlegende Veränderung dieser Schule mit sich bringen wird.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb muss diese Änderung gut durchdacht werden. Sie muss sehr frühzeitig vorbereitet werden, um einen Qualitätsverlust zu vermeiden. Deshalb wird es langsam Zeit, dass die Landesregierung Konzepte vorlegt, wie sie sich diese Einführung denkt.