(Dafür SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE, FDP, BIW, Abgeordneter Patrick Öztürk [SPD, fraktionslos], Abgeordneter Tassis [AfD], Ab- geordnete Wendland [parteilos] Ich bitte um die Gegenprobe! Stimmenthaltungen? (Abgeordneter Schäfer [LKR])
Die soziale Säule der Europäischen Union stärken! Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 28. August 2018 (Drucksache 19/1799)
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die EU und der Binnenmarkt sind eine der größten Errungenschaften des europäischen Integrationsprozesses. Wir alle in diesem Haus, davon bin ich überzeugt, sind sicher, dass die Europäische Union seit Jahrzehnten auch ein Garant für den Frieden in Europa ist. Ich füge hinzu, noch nicht für alle Teile in Europa, aber wir arbeiten hoffentlich gemeinsam daran.
Der EU-Binnenmarkt trägt wesentlich dazu bei, dass grenzüberschreitendes Leben und Arbeiten in den Mitgliedstaaten der EU möglich wird und sich die Lebensstandards in der gesamten EU langsam angleichen. Leider müssen wir alle feststellen, dass das nicht in allen Fällen gelingt und dass viele Menschen Angst davor haben, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern kommen und zu billigeren Konditionen arbeiten, billiger in zwei Gesichtspunkten, sowohl, was das Entgelt anbelangt als auch die ansonsten sozialen Arbeitsbedingungen.
Deswegen wurde im November 2017 die soziale Säule der Europäischen Union vorgestellt. Sie soll einen wichtigen Beitrag leisten, um im Bereich von Sozial- und Beschäftigungspolitik einheitliche Prinzipien und Standards zu Chancengleichheit als Erstem, zu Arbeitsmarktzugang, zu fairen Arbeitsbedingungen als Zweitem und zu Sozialschutz zu definieren. Sie hat damit eine Signalwirkung. Allerdings ist die Säule sozialer Rechte bislang nicht in Primärrecht übergegangen. Wie eine konkrete Umsetzung aussehen kann, ist daher noch offen und wird von uns allen in den nächsten Jahren weiter begleitet und hoffentlich forciert werden können.
Umso wichtiger ist es uns jetzt, den Umsetzungsprozess weiter zu beleben und konkrete Taten folgen zu lassen. Hierzu gehören aus unserer Sicht insbesondere folgende: Die Durchsetzung des Prinzips gleicher Lohn für gleiche Tätigkeit am gleichen Ort ist ein wesentliches Moment, um Lohndumping vor Ort zu verhindern. Sie erinnern sich,
zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir einen Untersuchungsausschuss gehabt, der diese Frage ebenfalls untersucht hat, und wollten versuchen, gemeinsam dagegen einen Kontrapunkt zu setzen. Ich bin sicher, dass die soziale Säule der Europäischen Union dazu ein wirksames Hilfsmittel sein kann.
Ebenso soll durch die soziale Säule der Europäischen Union eine europäische Arbeitsbehörde geschaffen werden, die die arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen der EU durchsetzen soll.
Der Zugang zu allen Zweigen der sozialen Sicherungssysteme wie Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch für die Selbstständigen soll dadurch ermöglicht werden. Wer hier arbeitet und hier in das Sozialsystem einzahlt, hat auch einen Anspruch darauf, dass er aus diesem Sozialsystem später entnehmen kann.
Für uns als Fraktion der SPD ist auch wichtig, dass öffentliche Aufträge an Tarifbindung geknüpft werden können, und zwar europaweit. Es kann doch nicht angehen, dass Unternehmen öffentliche Aufträge wahrnehmen, die aus anderen Ländern kommen und damit nicht an dieselben Voraussetzungen gebunden sind wie die Unternehmen, die sich von hier aus um diese Aufträge bewerben.
Das bedeutet für uns, dass aus unserer Sicht Vergütungen nach Tarif nicht durch geschützte Wettbewerbspositionen konkurrierender Billiganbieter ausgehebelt werden dürfen. Das mittelfristige Ziel muss sein, dass die sozialen Grundrechte den gleichen Rang wie die Freizügigkeit im Binnenmarkt erhalten. Uns geht es darum, gleiche Standards zu sichern, Ausbeutung zu verhindern und gute Lebensbedingungen europaweit herzustellen. – Vielen Dank!
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag enthält unter anderem die Forderung, die in der Auseinandersetzung um die EU schon eine lange Geschichte hat: Die Forderung nach der Aufnahme einer sozialen Fortschrittsklausel in die EU-Verträge. Diese soziale Fortschrittsklausel wurde 2008 vom Europäischen Gewerkschaftsbund gefordert, das war eine Reaktion auf eine Reihe von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs, zu denen später dann auch das Rüffert-Urteil gehörte, das einigermaßen bekannt ist.
In all diesen Urteilen ging es um Tarifrecht und Streikrecht, und in all diesen Urteilen machte der Europäische Gerichtshof deutlich: Im Zweifelsfall sind die Tarifrechte der europäischen Freiheit des Binnenmarktes unterzuordnen, weil die Freizügigkeit von Unternehmen zu den Grundprinzipien aus den EU-Verträgen gehört und die Tarifrechte nicht. Soziale Grundrechte sind in den EU-Verträgen nicht verankert und deswegen haben sie nicht den gleichen Stellenwert wie der freie Binnenmarkt. Das hat Konsequenzen für die Tariftreue, für das Streikrecht, für öffentliche Vergabe, für die Häfen, für viele Bereiche, in denen die EU massiv versucht, neoliberale Deregulierung durchzusetzen.
Deshalb fordern die europäischen Gewerkschaften und viele andere auch: An diesem Punkt muss das Vertragswerk der EU nachgebessert werden. So etwas passiert immer wieder. Die Verträge sind mehrfach geändert worden, zuletzt 2007. Da ist der Verweis auf die Charta der Grundrechte aufgenommen worden. Die Wirkung ist relativ weich und unverbindlich. Das hat man zum Beispiel an Griechenland gesehen, wo die EU oder europäische Institutionen sich massiv für die Aufweichung des Arbeitsrechts eingesetzt haben.
Die Versuche, nationales Arbeitsrecht und soziale Grundrechte auszuhebeln, haben unter anderem zur Akzeptanzkrise der EU beigetragen. Gerade weil an vielen Punkten für Beschäftigte die Erfahrung war, dass EU heißt, dass national erkämpfte Arbeitsrechte wieder ausgehebelt werden. Das erzeugt keine Begeisterung für Europa, ganz im Gegenteil. Es wird keine breite Bereitschaft zur Vertiefung der europäischen Integration geben, wenn nicht gesichert ist, dass Europa die sozialen Grundrechte nicht untergräbt, sondern schützt. Das ist der Schritt, der erreicht werden muss.
Die Europäische Säule der sozialen Rechte, sie ordnet sich dort ein. Sie ist, wie es im Antrag heißt, ein
wichtiges politisches Signal, sie ist aber kein Primärrecht, das der Freiheit des Binnenmarktes gleichgestellt wäre. Deshalb ist es richtig, dass der vorliegende Antrag genau diese Forderung erhebt. An dem Punkt könnte es auch sein, dass der Brexit eine positive Nebenwirkung hätte, denn Großbritannien hat an der Stelle immer gebremst. Die Rolle der Bundesregierung ist aber auch nicht ganz deutlich.
Deswegen ist es gut, dass sich einzelne Länderparlamente mit diesem Thema beschäftigen. Es gab andere Länderparlamente wie in NRW, Bayern, et cetera, die sich schon mit ähnlichen Anträgen befasst haben und die quasi Druck auch von unten auf die Bundesregierung ausüben, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass durch die soziale Säule endlich soziale Grundrechte ins Primärrecht aufgenommen werden. Dann gibt es natürlich noch die Frage: Wie verhalten sich die anderen Mitgliedstaaten?
Das ist keine ganz einfache Frage, und da sehe ich tatsächlich sehr große Hürden angesichts der aktuellen Gemengelage in der EU. Trotzdem ist die Frage: Was passiert bis zur Aufnahme sozialer Grundrechte ins Primärrecht? Ich wage, die Prognose aufzustellen, dass bis dahin noch einige Zeit vergehen wird. Die Frage ist: Was passiert bis zu diesem Zeitpunkt? Da muss ich sagen, wir schauen uns das an und es kommt darauf an, was man vor Ort tut. Was passiert in den Ländern, was passiert in den Mitgliedstaaten, was tun die nationalen Regierungen, was tun die Länderregierungen, was tun die Kommunen vor Ort?
Wenn wir von Subsidiarität sprechen, gibt es einige Handlungsspielräume, um soziale Grundrechte schon vor Ort auszubauen. Da ist die Bundesregierung nicht immer mit leuchtendem Beispiel vorangegangen. Zum Beispiel wurde der Sozialleistungsausschluss von sechs Monaten auf fünf Jahre verlängert, und Bremen hat dort mitgestimmt. Da würde ich Sie in die Pflicht nehmen. Wenn Sie solche Anträge schreiben, dann würde ich erwarten, wenn man von sozialen Grundrechten spricht, dass man im Bundesrat nicht die Hand hebt zu einem Sozialleistungsausschluss von fünf Jahren, der die sozialen Grundrechte vieler Menschen hier vor Ort in Bremen untergräbt und ihr Leben erschwert.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir reden über die Frage, ob Europa sozialer sein soll, eine soziale Komponente haben soll, stärker sozial geprägt sein soll. In der Tat kann man sehr schnell zu dem Schluss kommen, dass es doch nett wäre. Die Wahrheit ist aber die, dass wir überlegen müssen, in welche Geschwindigkeit und in welchen Bereichen wir Europa zuerst ausbauen und wie wir Europa wirklich stärken können.
Wir als Freie Demokraten glauben, dass, wenn wir die soziale Säule jetzt schon zu sehr stärken, dort nicht auf Subsidiarität und nicht darauf setzen, dass die Länder das in Eigenregie machen, wir heute das Signal geben, Europa und die Europäer zu überfordern. So eine Überforderung der europäischen Einigung halten wir nicht für richtig.
Deswegen bleiben wir dabei zu sagen, die Menschen in Europa sollen soziale Mindeststandards haben. Einige Aspekte, die Sie hier ansprechen, sind ja vollkommen richtig. Die sozialen Grundrechte sind aber nur das eine. Es geht dann weiter, und wir müssen fragen: Ab wann können Sozialleistungen in Anspruch genommen werden? Dass es dort eine gewisse Frist geben muss, ist offensichtlich, weil natürlich Menschen, die nur tage-, wochen- oder monatsweise hier arbeiten und dann wieder in ihr Heimatland zurückgehen, ganz andere rechtliche Situationen haben, als Menschen, die eine längere Zeit bei uns bleiben – genauso wie Menschen, die hier aus anderen europäischen Staaten einwandern wollen.
Das, was bei Ihnen und bei mir bei der Tarifbindung immer im Hintergrund ist, ist die Frage des Bauarbeiters und des ausgebeuteten Bauarbeiters, beispielsweise aus Rumänien oder Bulgarien, den ich vor Augen habe. Ich kann sehr verstehen, dass Sie für diesen Bauarbeiter eine bessere Entlohnung haben wollen. Das will ich im Übrigen auch. Ich sehe aber auch den Mitarbeiter von Airbus aus Toulouse, der in Bremen eine Zeit lang arbeitet, diese Probleme überhaupt nicht hat und für den das gleiche Recht gilt. In dem Fall muss ich mir
auch keine Gedanken machen, ob der für dieselbe Arbeit am selben Ort das gleiche Geld bekommt, weil der ein auskömmliches Gehalt bekommt und das mit seinem Arbeitgeber so verhandelt hat.
Diese Frage muss ich mir stellen, wenn ich diese Dinge hier als Forderung höre, und dann muss ich schauen, wie weit ich weiterhin einen Wettbewerb zwischen den Unternehmen haben will. Ein Wettbewerb ist das, was eine soziale Marktwirtschaft auch trägt. Da geht es nicht darum, gleiche Löhne für alle zu vereinbaren, sondern festzulegen, dass es Mindestlöhne, Lohnuntergrenzen gibt, die dann von allen gezahlt werden müssen, aber natürlich nicht darum, einen Wettbewerb zwischen Unternehmen zu verhindern. So, wie es hier formuliert ist, heißt es sogar, dass zwei deutsche Unternehmen den gleichen Lohn für die gleiche Tätigkeit zahlen müssen. So kann ich mir das nicht vorstellen.
Nein, möchte ich nicht. Der letzte Punkt, der hier noch anzusprechen ist, ist die Herausstellung der Subsidiarität der einzelnen Länder. Das ist genau das, was wir wollen – Subsidiarität. Die Staaten sollen erst selbst ihre Verantwortung wahrnehmen, und natürlich wollen wir, und da nehmen wir Subsidiarität ernst, denen nicht hineinreden, wie sie es regeln, denn das ist die Verantwortung der Länder.
Ich habe bei den LINKEN immer das Gefühl, dass sie von der Bremischen Bürgerschaft aus bis ins Athener Parlament regieren wollen. Ich glaube, das geht nicht, und das ist falsch. Das sollten wir unterlassen. Wir haben einige Punkte in der Europäischen Union, die dort schon vereinbart sind. Wir finden einige gute Ideen in dem Antrag, aber er hat einen Geist, den wir nicht teilen, und deswegen werden wir den Antrag ablehnen. – Vielen Dank.