Protocol of the Session on April 26, 2018

Sehr geehrter, geschätzter Herr Kollege, auch an Sie: Herzlich willkommen!

(Beifall)

Inklusive Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit sozial-emotionalen Beeinträchtigungen fördern Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 15. Juni 2017 (Drucksache 19/1127)

Dazu

Mitteilung des Senats vom 19. September 2017 (Drucksache 19/1244)

Wir verbinden hiermit:

Schulischer Inklusion zum Erfolg verhelfen Antrag der Fraktion DIE LINKE vom 15. Juni 2017 (Drucksache 19/1128)

und

Gelingende Inklusion braucht geeignete Bedingungen und Weiterentwicklung Antrag der Fraktion der CDU vom 8. August 2017 (Drucksache 19/1169)

sowie

Schulischer Inklusion zum Erfolg verhelfen; Gelingende Inklusion braucht geeignete Bedingungen und Weiterentwicklung Bericht und Antrag der staatlichen Deputation für Kinder und Bildung vom 19. April 2018 (Drucksache 19/1627

Dazu als Vertreterin des Senats Frau Senatorin Dr. Bogedan.

Gemäß § 29 unserer Geschäftsordnung hat der Senat die Möglichkeit, die Antwort, Drucksache 19/1244, auf die Große Anfrage in der Bürgerschaft mündlich zu wiederholen.

Ich gehe davon aus, Frau Senatorin, dass Sie darauf verzichten wollen, sodass wir gleich in die Aussprache eintreten können.

Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Herr Dr. Güldner.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute eine etwas ausführlichere Debatte zu dem Thema Inklusion, was ich sehr gut finde, weil es in unserer Stadt einfach ein Thema ist, das sehr viele Menschen bewegt und auch Emotionen auslöst. Wir können uns heute mit einer gewissen Ausführlichkeit diesem Thema hier widmen. Deswegen möchte ich ein bisschen weiter ausholen und nicht nur etwas zu der Großen Anfrage oder den Anträgen sagen. Ich will kurz noch einmal daran erinnern, welchen Hintergrund die Debatte eigentlich hat.

Es gibt am Ende des Tages unterschiedliche politische, gesellschaftliche, philosophische Traditionen, die dahinter stecken. Zum einen gibt es die Tradition der Aussonderung von Abweichungen, generell muss alles, was abweicht, irgendwie ausgesondert und an den Rand gedrängt werden. Dem steht eine humanistische Tradition gegenüber, die die Wertschätzung jedes Menschen, unabhängig von äußeren und inneren Merkmalen, zum Inhalt hat, und im Kern geht es natürlich in dieser Frage Inklusion auch immer um diesen Widerspruch zwischen diesen beiden Traditionen. Ich finde es gut, mein Eindruck ist, dass der ganz überwiegende Teil dieses Hauses sich der zweiten, der humanistischen Tradition verpflichtet fühlt. Das ist schon einmal eine sehr gute Grundlage für diese Diskussion.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, FDP)

Auf dieser Basis gibt es unterschiedliche Traditionen in Ländern, und da kommen wir schon ein bisschen näher an die Schwierigkeiten, die wir teilweise auch in der Praxis in Deutschland haben. In Italien gibt es, aus welchen Gründen auch immer, die ich historisch nicht erforscht habe, eine sehr, sehr lange Tradition des gemeinsamen Unterrichts, des gemeinsamen Seins sozusagen, in der Bildung, in der Gesellschaft, wo diese Tendenz, Menschen mit Abweichungen auszusondern, schon sehr lang erfolgreich bekämpft wurde. Man hat dort eine lange Tradition, gemeinsam voranzugehen, gerade auch in der Bildung.

In Deutschland gibt es eine ganz andere Geschichte mit sehr viel mehr Brüchen und Widersprüchen. Wenn Sie sich einmal im Lichte der Frage, über die wir heute sprechen, die Situation im Dritten Reich, in der Nachkriegszeit überlegen, die Reformbestrebungen, die danach kamen: Es ist vielleicht schon relativ bemerkenswert, dass das, worüber wir heute im engeren Sinne als Inklusion in den Schulen diskutieren, eine Reformbestrebung ist, die weit im 21. Jahrhundert durchgedrungen ist, nicht etwas, was in den Sechziger-und Siebzigerjahren auf der Agenda stand, sondern etwas, was jetzt erst, in den letzten paar Jahren, dann wirklich in den Schulen angekommen ist, und dies auch noch einmal nach Bundesländern sehr unterschiedlich.

Meines Erachtens sind diese Brüche, diese massiven Unterschiede ein Punkt, der die gewisse Unsicherheit im Umgang mit diesem Thema erklärt. Es erklärt, warum es notwendig ist, sich permanent neu darüber zu verständigen, nachzujustieren, es legt einen hohen Erklärungs- und Kommunikationsbedarf nahe. Das heißt, wir sind in einem Prozess, in dem es viele individuelle Problemlösungen gibt und wir es vielfach wegen der Punkte, die ich gerade erläutert habe, auch noch mit einer gewissen Überforderung zu tun haben. Das müssen wir erst einmal wissen, wenn wir nicht schwarz oder weiß malen, Dinge verurteilen, sie gut oder schlecht heißen, denn das ist ein Prozess, in dem wir mittendrin sind, und das ist ein sehr, sehr junger Prozess, der nicht ausgereift und über Jahrzehnte eingespielt ist und von dem man sagen kann, klar, das wissen wir doch alle, das haben wir schon immer so gemacht, und deswegen ist es kein Problem! Daher kommt meines Erachtens auch diese Aufladung, die diese Debatte manchmal hat.

Es gilt meiner Ansicht nach in den nächsten Jahren, dieses System einerseits zu stabilisieren und es andererseits gleichzeitig weiterzuentwickeln.

Auch das ist eine Balance, die schwierig ist, weil wir Fundamente weiterentwickeln müssen und gleichzeitig aber auch Ruhe und Stabilität in dieses System der Inklusion hineinzubringen versuchen müssen. Das kommt in den Anträgen, die heute von der CDU und von der LINKEN vorliegen, und der Großen Anfrage der Grünen zum Ausdruck. Es kommt auch in dem Abschlussbericht der Expertenkommission zur Evaluation der Schulreform zum Ausdruck, denn viele Dinge, die auch in den Anträgen der CDU und der LINKEN angesprochen worden sind, tauchen auch in diesem Bericht wieder auf. Wir haben uns alle in verschiedener Form mit diesen Fragen beschäftigt.

Meines Erachtens sind wir aber in einer Phase, in die wir gerade in der letzten Woche eingetreten sind, der Beratung für einen neuen Schulkonsens, in der wir noch nicht alle Fragen, die aufgeworfen werden, heute schon abschließend beantworten können. Meine Hoffnung wäre, dass wir sie mit in die Beratung über die Verlängerung des Schulkonsenses hineinnehmen und dort mit einem möglichst breiten Konsens über diese Fragen wieder herauskommen, weil es nämlich genau diesen Zielen – einerseits Stabilisierung, andererseits Weiterentwicklung des inklusiven Schulsystems – sehr dienen würde. Dazu müssen wir Grundlagen, die wir haben, etwa den Entwicklungsplan Inklusion aus dem Jahr 2010 – immerhin auch schon acht Jahre alt – und die Erste Verordnung für unterstützende Pädagogik aus dem Jahr 2013 anschauen, sie im Lichte der Praxis auswerten und in der tatsächlichen Umsetzung unsere Schlüsse daraus ziehen, nachjustieren und das dann in Beschlüsse, die uns dann für die nächsten zehn Jahre weiterführen, einspeisen.

In Bezug auf die einzelnen Punkte muss man noch einmal festhalten, dass die Expertenkommission uns vorhält, dass es in Bremen eine extreme Vielfalt unterschiedlicher Ansätze gibt, die Inklusion umzusetzen. Für mich gibt es von diesem Begriff „Vielfalt“ eine positive und eine negative Seite. Es gibt auch die positive Seite, auf der sich Vielfalt abbildet, weil Schülerinnen und Schüler, die ja vielfältig sind, im Fokus stehen, also in einer schülerzentrierten Abarbeitung des Themas Inklusion an der jeweiligen Schule ist Inklusion, finde ich, positiv besetzt, denn Vielfalt bedeutet, dass man es weitgehend Schulen überlassen hat oder überlässt, wie sie Inklusion umsetzen und sozusagen tastend vorankommen, wie sie die entsprechenden Verordnungen und Entwicklungspläne interpretieren und auslegen. Da kann Vielfalt auch – und das hat die

Expertenkommission kritisiert – bedenklich werden, weil wir dann eine gewisse Beliebigkeit im System haben, sodass man sich, wenn man Kinder hat, nicht darauf verlassen kann, wie Inklusion in den jeweiligen Schulen dann tatsächlich umgesetzt worden ist. Ich glaube, dass die Diskussion am Gymnasium Horn teilweise auch ein Ausdruck dieser Unsicherheit und solcher Missverständnisse über die Schulpraxis ist. Ich würde auf den Punkt auch gern noch einmal wieder zurückkommen.

Genauso haben wir es mit der Frage zu tun, wie wir mit Heterogenität in Klassen umgehen. Wir haben heute eigentlich den bildungspolitischen Konsens, dass wir zieldifferenzierten Unterricht anbieten, Heterogenität als eine selbstverständliche Grundlage haben. Gleichzeitig müssen wir aber auch da wieder die Balance finden – –.

(Glocke)

Ihre Redezeit beträgt zehn Minuten!

Dann beende ich den Satz und komme in der nächsten Runde noch einmal mit den Einzelheiten zu diesen Punkten wieder, wie wir die Balance zwischen dem vereinheitlichenden Aspekt, gleiche Standards gelten zu lassen, und andererseits der Heterogenität in ihrer Vielfalt der Schülerinnen und Schüler auch gerecht werden.

Ich komme in einem weiteren Beitrag dann zu den einzelnen Punkten aus den Anträgen und zu den Punkten, die jetzt sehr konkret vor uns stehen und für die nächste Zeit zu regeln sind. – Vielen Dank!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Vogt.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier heute mehrere Initiativen im Zusammenhang mit der Inklusion, die zum Teil schon fast ein Jahr zurückliegen. Die Große Anfrage der Grünen und unser Antrag sind fast zeitgleich, glaube ich, gefaxt worden, sie liegen in Bezug auf die DrucksachenNummer auch nur knapp auseinander.

Was wir jetzt allerdings in die Debatte einbeziehen müssen, ist natürlich der Evaluationsbericht der Expertinnen und Experten, die die Schulreform und auch die Inklusion ausgewertet haben. Wenn man

diese vorliegenden Anträge, den der LINKEN, der CDU, die Anfrage und den Expertenbericht hinzunimmt, dann kann man heute sehr fundiert in die Debatte einsteigen. Bei allem, was der Kollege Dr. Güldner eben zu den unterschiedlichen Systemen beziehungsweise auch Herangehensweisen an die Beschulung von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen vorweggenommen hat, muss man trotzdem sagen, schaut man sich die Anfrage an, aber eben auch den Abschlussbericht der Experten, dann muss man festhalten, die Inklusion in Bremen ist massiv unterausgestattet, und das ist einer der zentralen Befunde.

Wörtlich steht in dem Abschlussbericht: „Die Unterausstattung des Systems geht zulasten der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf.“ Das halten wir für sehr bedenklich, denn das ist keine Oppositionsrhetorik, das ist der wissenschaftliche Befund!

(Beifall DIE LINKE)

Es fehlt an Personal, es fehlt an ausgearbeitetem Lehrmaterial, es fehlt an Räumen, und es fehlt die Zeit für die Kolleginnen und Kollegen, um die notwendigen Absprachen in den Teams zu treffen. Im Ergebnis, so der Evaluationsbericht, kommen letztlich – Zitat – „in der Klasse zu wenig Förderstunden an.“ Das steht auf Seite 139 des Berichts.

Trotzdem – und ich gehe ein bisschen auf die Grundsatzdebatte, die mein Kollege eben erwähnt hat, ein – gibt es eine gute Nachricht, denn die prinzipielle Zustimmung zur inklusiven Beschulung ist im Moment immer noch ungebrochen. Unter den pädagogischen Fachkräften und unter den Schulleitungen herrscht nach wie vor eine große Akzeptanz der inklusiven Beschulung, auch wenn man – zu Recht, wie ich finde! – hochgradig unzufrieden mit den realen Umständen an den Schulen ist.

(Beifall DIE LINKE)

Der Kollege Dr. Güldner hat es eben schon erwähnt, ich finde insbesondere deswegen wichtig, dass diese hohe Akzeptanz vorhanden ist, weil die Schulleiterin des Gymnasiums Horn, die sich aus Gründen gegen die gemeinsame Beschulung an einem Gymnasium wehrt, die ich tatsächlich nicht nachvollziehen kann, weil sie den Begriff der inklusiven Beschulung nicht verstanden hat, denn es geht ja nicht darum, dass alle das gleiche Leistungsziel erreichen sollen, sondern es geht darum,

dass alle gemeinsam die Möglichkeit zu lernen haben sollen. Aber diese Schulleiterin ist – auch das kann man dem Befund der Evaluation entnehmen – eher die Ausnahme als die Regel und steht nicht für eine generelle Haltung in Bremen, und das finde ich gut so.

(Beifall DIE LINKE)

Wirklich neu ist dieser Befund der Evaluationskommission allerdings nicht. Den Ressourcenmangel im Bereich der Inklusion haben wir immer wieder zurückgespiegelt bekommen. Ich erinnere hier nur symptomatisch an die diversen Brandbriefe aus dem Bremer Westen, wo der Förderbedarf bremenweit – Stadt Bremen, muss man sagen – am höchsten ist. Die Schulleitungen haben klar benannt, dass Sie mit der derzeitigen Ausstattung weder den Kindern mit noch den Kindern ohne Förderbedarf gerecht werden.

Unser Antrag, der heute nach einem Dreivierteljahr debattiert wird, ist ein Ergebnis zweier Anhörungen, die wir durchgeführt haben, einer nicht öffentlichen Anhörung in einem geschützten Raum und einer öffentlichen Anhörung, die wir vor circa einem Jahr in Gröpelingen mit unterschiedlichen Akteuren der Inklusion durchgeführt haben. Dabei sind wir sehr in die Tiefe gegangen. Was brauchen wir eigentlich jenseits der Frage der Personalausstattung? Wie müssen wir Inklusion konzeptionell ausgestalten? Welche Grundlagen waren damals in dem Entwicklungsauftrag richtig benannt, und welche müssen wir nach sieben beziehungsweise acht Jahren Praxis vielleicht noch einmal neu definieren? Deswegen haben wir diesen Antrag mit den Schlussfolgerungen, die wir aus diesen beiden Anhörungen gezogen haben, gestellt.

Es ist für Schulen und Lehrkräfte schon fast als tragisch zu bezeichnen, dass unser Antrag und auch der Antrag der CDU so lange in der Deputation liegen geblieben sind und im Haushalt nur, ich sage einmal, begrenzte Maßnahmen ergriffen wurden, um die Inklusion zu stärken. Es sind Maßnahmen ergriffen worden, das will ich gar nicht in Abrede stellen, aber ich denke, die Debatte, die wir heute führen, hätten wir wirklich schon vor einem Jahr führen müssen, denn dann wäre man als Haushaltsgesetzgeber mit Sicherheit zu anderen Ergebnissen gekommen.

(Beifall DIE LINKE)

Der Senat hat aber in der Debatte davor immer nur darauf verwiesen, dass man auf die Evaluation

warte, und ohne den Bericht wisse man nicht, was zu unternehmen sei. Ehrlich gesagt fand ich – und das habe ich hier auch öffentlich gesagt –, das war nichts anderes als Ablenkung und Zeitschinderei. Durch das Warten auf den Bericht ist wertvolle Zeit ins Land gegangen, in der wir schon längst hätten handeln können und müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen!