Protocol of the Session on April 20, 2016

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Professor Dr. Hilz.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schwer, Worte zu dem Ausmaß dieses nun bekannt gewordenen Sozialmissbrauchs zu finden. Der Rechtsstaat muss, auch aus Sicht der Freien Demokraten, mit aller Härte gegen diesen Sozialmissbrauch und insbesondere gegen die Drahtzieher vorgehen.

(Beifall FDP)

Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, und es muss lückenlos aufgeklärt werden, wann, wie, wo sich dieser Sozialmissbrauch zu dieser Größe, zu dieser Dimension ausweiten konnte. Bisher ist weder die Höhe des Schadens für Bund, Land und Kommune noch die Zahl der Geschädigten – damit meine ich alle, die in die Hände der Schlepper geraten sind – bekannt.

Ein paar Aspekte, die bisher noch nicht gesagt wurden! Warum eigentlich Bremerhaven? Allein durch die Situation der Stadt hätte man bereits frühzeitig das Alarmsignal hören müssen, denn Bremerhaven ist eine Stadt mit sehr niedrigen Mieten. Sie hat eine hohe Arbeitslosigkeit, eine hohe Belastung der Mitarbeiter bei der Arbeitsagentur, und in den letzten Jahren wurde auch immer der politische Wunsch nach Wachstum geäußert. Diese Kombination führt dazu, dass Bremerhaven eine Stadt ist, die ein mögliches Ziel gerade dieser Schlepper ist.

Andere Städte – Duisburg, Dortmund – werden immer genannt. Auch dort hat man mit einem sehr hohen Zuzug eben dieser EU-Zuwanderer zu kämpfen. Bei uns hat es sich zu einem kriminellen Missbrauch der Sozialsysteme ausgeweitet. Warum hat man dies nicht schon vorher erahnt, Vorkehrungen getroffen, damit es gar nicht erst so weit kommt?

Jetzt steht die Strafverfolgung ins Haus, und wir müssen an allen Enden Strafverfolgung durchziehen und alles dafür tun, dass alles aufgeklärt wird. Zu Recht ist es auch so, dass jeder Einzelne, der sich hier strafbar gemacht hat, verfolgt wird, obwohl er an sich Opfer einer kriminellen Machenschaft geworden ist. Wir haben die Ausführungen von meinen Vorrednern dazu gehört.

Die Frage ist aber auch: Ist Bremerhaven alleine dafür zuständig? Wo sind die Drahtzieher in den Heimatländern derjenigen, die gekommen sind? Muss man hier nicht größer denken und grenzübergreifend das Pferd aufzäumen und hier auch die Schlepper im Land, in Bulgarien direkt mit zur Verantwortung ziehen? Das hat mir bisher in der Debatte und auch in der Berichterstattung, die es dazu gegeben hat, gefehlt.

Einige wichtige Fragen sind bisher ungeklärt: Wie haben sich diese Vereine, die betroffen sind, in Bremerhaven etabliert? Wie haben sie ihr Netzwerk gefunden und versucht, bis in die regierende Partei hinein Strukturen zu schaffen? Wo ist die Grenze? Herr Öztürk senior, der hier noch nicht genannt wurde, hat selbst für die SPD für die Stadtverordnetenversammlung in Bremerhaven kandidiert; ist mittlerweile nicht mehr Mitglied der Partei. Wie kann man verhindern, dass auch Parteien für solche Netzwerke genutzt werden?

Weitere Fragen tun sich auf: Welche Fördermaßnahmen, welche Fördermittel haben diese Vereine in den letzten Jahren erhalten, um damit aktiv ihr kriminelles Netzwerk auszubauen? Das sind auch Fragen, die geklärt werden müssen. Welcher Schaden ist am Ende entstanden?

Wir brauchen dazu Aufklärung von allen Seiten, und insbesondere Sie, Herr Öztürk, stehen hier in der Verantwortung. Sie als gewählter Abgeordneter haben selbst aktiv in einem dieser Vereine mitgearbeitet. Jetzt ist von Ihnen verlangt, aktiv Aufklärung zu betreiben – strafrechtlich, aber auch moralisch –, und das Ganze, soweit es geht, öffentlich zu machen, aktiv beizutragen, dass die kriminellen Strukturen in Fesseln gelegt werden und jeder Einzelne bis ins Letzte zur Verantwortung gezogen wird! Das ist auch Ihre Verantwortung, Herr Öztürk, und ich schließe mich Herrn Röwekamp an: Es wäre gut, wenn Sie sich heute hier erklären würden! – Vielen Dank!

(Beifall FDP, CDU, ALFA, Abg. Tassis [AfD])

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Janßen.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Gemeinschaftlicher Betrug, das ist der Vorwurf, der gegen zwei Vereine in Bremerhaven im Raum steht. Sie haben in der Vergangenheit – die Zahlen schwanken noch etwas – zwischen 1 000 und 1 500 Arbeitsverträge mit Menschen vor allen Dingen aus Rumänien und Bulgarien geschlossen und dabei selber kräftig abkassiert. Einige dieser Arbeitsverträge waren nach den derzeitigen Kenntnissen fingiert; es fand keine Arbeit statt. In anderen Fällen wurden allerdings Arbeiten verrichtet, und zwar zu unmenschlichen Bedingungen: weit unter Mindestlohn, ohne Gesundheitsschutz. Das sind Verhältnisse, die in Deutschland, in Bremen, in Bremerhaven, aber eigentlich nirgendwo vorkommen

dürften, und genau deshalb ist es auch richtig, diesen Vorgang einen Skandal zu nennen!

(Beifall)

Es handelt sich bei dem Vorgang um gewerbsmäßige und organisierte Ausbeutung. Die Opfer sind Menschen, deren Notlage rücksichtslos ausgenutzt wurde, die nicht die Chance hatten, daraus zu entkommen, oder zumindest nicht die Möglichkeiten hatten, das gesamte Konstrukt zu durchschauen. Daher ist es richtig, diesen Vorfall rückhaltlos aufzuklären, und genau das erwarten wir von den Behörden, selbstverständlich von der Staatsanwaltschaft, aber auch von Senat und Magistrat.

(Beifall)

Profitiert haben von der Ausbeutung im Endeffekt vor allen Dingen die beiden Vereine, die sowohl Pauschalen dafür genommen haben, überhaupt in die Kartei aufgenommen zu werden, aber gleichzeitig einen monatlichen Anteil von den so erschlichenen Sozialleistungen angenommen und damit Profite gemacht haben. Die Betroffenen haben also nicht nur teils zu Hungerlöhnen und ohne Gesundheitsschutz gearbeitet, sondern mussten auch noch von den dann zusätzlich erhaltenen Sozialleistungen Abgaben machen. Die Profite, die dabei erwirtschaftet wurden, sind auf die Konten der Vereine gegangen. Einzelne Personen haben durch diese kriminellen Machenschaften ganz erheblich profitiert.

Profitiert haben aber auch die Unternehmen, die Firmen, bei denen diese Arbeit verrichtet wurde. Denn dort konnten billig Arbeitskräfte eingesetzt werden, ohne dafür die notwendigen Schutzmaßnahmen einzurichten. Ehrlich gesagt, fehlt mir in der Debatte noch, dass genau diese Unternehmen auch zur Rechenschaft gezogen werden – also nicht nur die Vereine, die das organisiert haben, sondern auch die Unternehmen.

(Beifall)

Der Fokus der Aufklärung muss deshalb aus unserer Sicht genau hier liegen: Welche Unternehmen haben neben den Vereinen profitiert? Wo fanden diese ausbeuterischen, gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten statt? Warum haben weder der Zoll noch das Gewerbeaufsichtsamt beizeiten davon gewusst, und warum sind keine entscheidenden Schritte eingeleitet worden? Die Anzeige ist immerhin, wie wir schon gehört haben, älter.

Was ist passiert, seit die Anzeige erstattet wurde? Gab es wenig Interesse, oder waren die Staatsanwaltschaft und auch das Kommissariat für Wirtschaftskriminalität überlastet? Warum ist das vorher nicht aufgetaucht? Hier erwarten wir umfassende Antworten, auch von den zuständigen Senatoren.

Wir müssen aber auch noch ein paar grundsätzliche Fragen stellen, die bereits vor zwei Jahren im Raum standen: Im Mai 2013 hat die Bürgerschaft einen Beschluss gefasst, in dem es in einem Beschlusspunkt heißt – ich zitiere: „gegen ausbeuterische Unternehmerinnen und Unternehmer, die EU-Bürgerinnen und ‑Bürger aus Rumänien oder Bulgarien als ‚Scheinselbstständige‘ und weit unter Tarif beschäftigen, ist konsequent vorzugehen“.

Das heißt, im Jahr 2013 hat diese Bürgerschaft den Sachverhalt erkannt und einen Antrag beschlossen, der genau darauf abzielt, diesen Missstand zu beheben. Daraufhin wurde eine Staatsrätegruppe eingerichtet, die einen Bericht angefertigt hat, um Maßnahmen zu entwickeln und auch einen Sachstand zu erarbeiten. In dem Bericht heißt es dann auch – ich zitiere noch einmal, Seite 21:

„Es ist zu vermuten, dass im Hintergrund Vermittler und Auftraggeber an den allgemeinen Lebenssituationen der Menschen verdienen,...“

Meine Damen und Herren, Sie haben 2013 darüber debattiert. Es gab eine Staatsrätegrupppe, die zu einem Ergebnis gekommen ist: Ja, diese Vorfälle gibt es! Ja, sie gibt es in Bremerhaven; sie sind organisiert, und daran wird kräftig verdient. Was ist passiert? Heute stehen wir hier und debattieren einen massiven Fall genau dieser beschriebenen Punkte, und es ist anscheinend nicht gelungen, politische Schritte einzuleiten, um diese Form von Ausbeutung zu verhindern. Auch das ist ein Skandal, dass das nicht verhindert werden konnte!

(Beifall)

Es gibt in diesem Bericht etwas, was man Maßnahmenkatalog nennen könnte, wenn es nicht so dünn wäre, wo aufgelistet ist, wo eigentlich die Verantwortlichkeiten liegen: Landesfinanzbehörden, also Zoll, Kriminalpolizei, und die letzte Verantwortung liegt dann bei der Finanzsenatorin. Wenn wir aber schon so einen Überblick haben, dann müssen wir die Frage stellen: Hat also die Koordination der verschiedenen Verantwortlichkeiten nicht funktioniert? Oder haben weder der Zoll, noch die Kriminalpolizei, noch die Gewerbeaufsicht, noch die Landesfinanzbehörde oder das Ressort für Arbeit und Wirtschaft von dem Vorgang, der nun öffentlich diskutiert wird, Kenntnis gehabt? Sind sie nicht aktiv geworden? War die Vernetzung das Problem? Wo liegt denn das Problem, und wer trägt hierfür die politische Verantwortung? Diese Fragen muss der Senat beantworten, ganz unabhängig von den Ermittlungsverfahren, die gegen Einzelpersonen jetzt juristisch eingeleitet werden.

(Beifall)

Natürlich wirft der Skandal auch ein Licht auf europäische Verordnungen und Rechtsprechungen: Menschen aus Mitgliedstaaten genießen grund

sätzlich Freizügigkeit, haben aber in den Ländern keinen universellen Anspruch auf Sozialleistungen. In Deutschland gibt es erst ab drei beziehungsweise sechs Monaten oder bei Erwerbstätigkeit einen solchen Anspruch. Die jetzt bekannt gewordenen kriminellen Machenschaften nutzen genau diesen Konstruktionsfehler im EU-Recht. Die Einführung von universellen Teilhaberechten und ihre Verankerung als soziale Grundrechte in den Verträgen der EU wäre aus unserer Sicht lange überfällig, wenn man eine weitere EU-Integration will und wenn man solche Fehler und auch solche Ausnutzungsstrukturen ernsthaft bekämpfen wollte.

(Beifall DIE LINKE)

Wir stehen heute erst am Anfang einer Aufarbeitung, die noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Wenn sich aber nun bereits einige Mitglieder auch der SPD in Bremerhaven über vorläufige Ermittlungserfolge freuen dadurch, dass Bulgarinnen und Bulgaren nun das Land verlassen, empfinde ich solche Aussagen durchaus als zynisch.

(Beifall DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen)

Viele dieser Menschen leben noch immer in Bremerhaven, auch wenn sie aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden. Viele dieser Menschen haben jetzt noch weniger Geld zur Verfügung, als sie es vorher hatten, und leben unter unmenschlichen und ärmlichsten Bedingungen hier bei uns. Wir müssen darüber reden, wie damit umgegangen werden kann, wie auch diesen Menschen die Möglichkeit geboten werden kann, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Genauso albern ist daher auch die Diskussion über irgendwelche jetzt verbesserten Arbeitslosenstatistiken. Das ist nicht die Diskussion, die wir führen müssen.

(Beifall – Dr. Thomas vom Bruch [CDU]: Das ist ge- radezu zynisch!)

Da stimme ich Ihnen zu! Das ist eine nahezu zynische Diskussion. Das ist eine Scheindebatte; das ist nicht die Frage, die wir jetzt führen müssen. Wir müssen dieser organisierten kriminellen Ausbeutungsstruktur entgegentreten, und genau das ist unser Auftrag.

(Beifall)

Deshalb erwarte ich von Ihnen zum einen vollständige Aufklärung. Ich erwarte von Ihnen zum anderen aber auch zu hören, warum in den letzten Jahren, obwohl das Problem durchaus bekannt war, nichts passiert ist und was jetzt gemacht werden kann, um zu verhindern, dass solche Fälle noch einmal vorkommen. Das ist eine politische und das ist auch eine menschliche Verantwortung. – Danke schön!

(Beifall)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Böschen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich glaube, niemand von uns hier im Haus hätte sich vorstellen können, was für eine tatsächliche Tragödie sich in Bremerhaven abspielen würde, und ich spreche hier ganz klar von einer Tragödie. Denn ich höre zum Beispiel aus den Schulen, dass berichtet wird, dass Kinder ihrer Lehrerin erzählen, dass sie nicht mehr zur Schule kommen, weil sie verschwinden müssen, weil sie vielleicht untertauchen müssen, weil sie wegziehen. Was mit diesen Kindern, was mit diesen Familien passiert, weiß ich nicht. Aber wir alle sind uns einig darüber, dass diese kriminellen Aktivitäten, die anscheinend in Bremerhaven stattgefunden haben, unheimlich viele Menschen in ungeheures Elend stoßen.

(Beifall)

Für die SPD-Fraktion erkläre ich selbstverständlich, dass wir genau wie Sie, Herr Röwekamp, eine lückenlose und, wie Sie gesagt haben, rückhaltlose Aufklärung erwarten. Ganz gewiss tun wir das!

(Beifall SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE)

Das Ganze ist aber durchaus eine besondere Situation dadurch, dass der Beschuldigte der Vater eines unserer Abgeordneten ist. Das ist so, und daran kommen wir nicht vorbei. Hier aber die Forderung nach einer persönlichen Erklärung an Herrn Patrick Öztürk zu verbinden mit der Aussage, dann gelte die Unschuldsvermutung auch für ihn, weise ich entschieden zurück!

(Beifall SPD)

Für Herrn Öztürk gilt wie für jeden anderen die Unschuldsvermutung, egal, ob er sich im Parlament erklärt oder Ihnen gegenüber Rechenschaft ablegt, Herr Röwekamp!

(Beifall SPD, FDP)

Selbstverständlich lässt das die SPD-Fraktion und auch die Partei nicht ruhig schlafen, wenn wir hören, dass tatsächlich ein ehemaliger Genosse, dass der Vater eines unserer Abgeordneten in so einen Verdacht gerät, und wenn wir – das wissen wir ja – auch erlebt haben, dass die Agentur seines Vaters unseren Genossen unterstützt hat. Selbstverständlich reden wir mit Herrn Öztürk, und wir haben sowohl innerhalb der Fraktion als auch vonseiten der Partei mit ihm geredet.