Protocol of the Session on January 22, 2014

Taten statt Worte – Armut endlich wirksam bekämpfen

Dazu als Vertreter des Senats Herr Bürgermeister Böhrnsen.

Meine Damen und Herren, die Beratung ist eröffnet.

Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Röwekamp.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Anlass für die von uns beantragte Aktuelle Stunde sind der Neujahrsempfang des Senats und die Ansprache des Präsidenten des Senats, der das Thema Armutsbekämpfung in Bremen und Bremerhaven zu einem zentralen Anliegen der Politik der nächsten Wochen und Monate gemacht und damit zur Chefsache erklärt hat.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann für die CDU-Fraktion erklären: Jawohl, Herr Bürgermeister, Sie haben recht, Armutsbekämpfung muss in Bremen und Bremerhaven Aufgabe des Präsidenten des Senats sein, und es ist gut, dass Sie im Gegensatz zur rot-grünen Mehrheit in diesem Parlament den Mut haben, es auch zu tun!

(Beifall bei der CDU)

Als wir als CDU-Fraktion im Sommer letzten Jahres einen Antrag zum Thema „Armutsbekämpfung neu denken“ in dieses Parlament eingebracht und im November debattiert haben, wurden wir noch als scheinheilig verunglimpft. Herr Möhle hat für die SPDFraktion erklärt, wir bräuchten keine Kommission. Wir wissen genau, was wir tun müssen, hat er wortwörtlich gesagt. Er hat gesagt: Seit Jahren versuchen wir, Armutsbekämpfung zu machen. Meine Damen und Herren, das ist genau das Problem. Herr Möhle: Seit Jahren versuchen Sie, es zu machen, Erfolg hat sich bis heute nicht eingestellt.

(Beifall bei der CDU)

Die Situation hat sich seit der Debatte im November übrigens weiter verschärft, und vielleicht ist das ja auch der Grund dafür, dass der Bürgermeister die Neujahrsansprache genutzt hat, um insbesondere in den Reihen seiner Koalition für das Thema Armutsbekämpfung zu werben.

Wir haben im Dezember den Armutsbericht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bekommen, der sich insbesondere mit der Frage der regionalen Armutsentwicklung befasst hat, und es hat sich gezeigt: Die Armutslage ist in Deutschland stabil, einige Länder verzeichnen einen Rückgang von Armutsbedrohung, aber insbesondere in Bremen ist das Armutsrisiko der hier lebenden Menschen zum wiederholten Male gestiegen, ja, nach Aussage und Bewertung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sogar erschreckend gestiegen, weil die Tendenz, meine sehr verehrten Damen und Herren, anders als in anderen Bundesländern eben keine Wirksamkeit von Maßnahmen der Armutsbekämpfung zeigt.

In Bremen und Bremerhaven leben insgesamt 23,1 Prozent der Menschen in Armutsgefahr; bundesweit sind es nur 15,2 Prozent. Das heißt, das Risiko, von Armut betroffen zu sein, ist im Land Bremen 50 Prozent höher als im Durchschnitt in Deutschland. Der Hinweis der Sozialsenatorin aus der letzten Debatte, wir sähen im Großstädteranking noch relativ gut aus, ist durch diese Studie im Übrigen widerlegt. Wir sind auf Platz fünf der ausgewählten Großstädte, was das Armutsrisiko betrifft. Was erschreckend ist, ist, dass wir unter diesen fünf Großstädten diejenige sind, die den stärksten Zuwachs von Armutsbedrohung hat.

Das Armutsrisiko hat sich in Bremen in den Jahren 2007 bis 2012, das heißt in der Amtszeit der rotgrünen Regierung, von 19,1 auf 23,1 Prozent erhöht. Meine Damen und Herren, Sie haben den Menschen in Bremen und Bremerhaven mit Beginn der rot-grünen Koalition im Jahr 2007 insbesondere versprochen, die Schere zwischen Arm und Reich wieder zu schließen und Armut wirksam zu bekämpfen. Sie haben dies mit Regierungserklärungen und Koalitionsverträgen unterlegt, und heute, sechseinhalb Jahre nach dem Beginn dieser zentralen politischen Anliegen, muss man sagen: Sie sind bisher an dieser, Ihrer zentralen Aufgabe gescheitert, meine Damen und Herren! (Beifall bei der CDU)

Dabei will ich gar nicht in Abrede stellen, dass die rot-grüne Mehrheit viel Geld zur Verfügung gestellt hat, um die Folgen von Armut zu bekämpfen. Ja, es stimmt, die Höhe der Transferleistungen ist in diesem Zeitraum überproportional gestiegen, ja, es stimmt, Sie haben viel Geld investiert in Ganztagsschulprogramme, Schulausstattung, U3-Betreuung und Kindertagesstätten. Aber, meine Damen und Herren, offensichtlich sind damit die Ursachen von Armut eben gerade nicht bekämpft. Deswegen haben wir darum geworben, einen neuen Ansatz in der

Armutsbekämpfung zu finden. Es ist eben so, Herr Möhle, dass Sie nicht genau wissen, was Sie tun müssen. Sie wissen, was Sie tun, aber Sie wissen nicht, was erforderlich ist, um Armutsursachen nachhaltig zu bekämpfen.

(Beifall bei der CDU)

Vielleicht war die Debatte im November noch zu stark von dem gerade zurückliegenden Bundestagswahlkampf geprägt, denn Ihre Patentlösungen zur Armutsbekämpfung lagen damals in der Rentenpolitik, in der Frage von Mindestlohn und in der Frage der Finanzausstattung von Kommunen. Mit Abschluss der Regierungsvereinbarung zwischen der SPD und der CDU im Bund gibt es für diese von Ihnen benannten Probleme Lösungen.

Ja, ich finde es richtig, dass es in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn geben wird,

(Beifall bei der CDU)

und ich hoffe, meine Damen und Herren, wie der Bürgermeister auch, dass diese Festlegung dazu führen wird, dass wir wieder mehr tarifgebundene Arbeitsverhältnisse in Deutschland haben werden. Der Mindestlohn kann nur die Ultima Ratio sein. In Wahrheit sind die Tarifvertragsparteien gefordert, wieder zu möglichst flächendeckenden Tarifbedingungen in Deutschland zurückzukehren, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gerechte Löhne finden, und wenn der Mindestlohn der Weg dafür ist, diese möglichst ansteigende Zahl von tarifgebundenen Arbeitsplätzen wieder zu erhöhen, dann sage ich für die CDUFraktion: Dann ist das als Ultima Ratio der richtige Weg, und ich bin froh, dass wir diese politische Debatte in Deutschland beendet haben.

(Beifall bei der CDU)

Ja, ich nehme auch – insbesondere aus Reihen der CDU, aber auch aus Reihen der Wirtschaftsverbände – die Kritik an den Rentenbeschlüssen der Koalitionsvereinbarung in Berlin wahr. Aber, meine Damen und Herren, ich finde es gerecht, dass nicht ein Stichtag wie der 1. Januar 1992 darüber entscheidet, ob Mütter, die sich dafür entschieden haben, ihren Beruf für die Erziehung ihrer Kinder einzustellen, in der gesetzlichen Rente benachteiligt werden oder nicht. Was unterscheidet eigentlich eine Mutter, die ein Kind im Jahr 1992 geboren hat, von der Lebenssituation einer Mutter, die das Kind im Jahr 1991 geboren hat?

Wir erleben doch Altersarmut von Frauen gerade auch als Antwort auf die Situation, dass viele Frauen – gerade in den Siebziger-, Achtziger-, aber auch noch zu Beginn der Neunzigerjahre – ihre Berufstätigkeit eingeschränkt, ja, sich teilweise sogar die Anwartschaften aus der Rentenversicherung haben aus

zahlen lassen, um sich der Erziehung und dem Familienauftrag zu Hause zu widmen. Ist das eigentlich weniger wert gewesen, als arbeiten zu gehen, meine Damen und Herren? Wir sagen: Nein, es ist nicht weniger wert gewesen, und deswegen ist das, was da jetzt beschlossen wird, eine Anerkennung für die Leistung, die die Frauen damals in dieser Lebenssituation erbracht haben.

(Beifall bei der CDU)

Es mag ja sein, dass Menschen meiner Generation und jünger der Auffassung sind, dass das damals falsche Lebenswege gewesen sind. Natürlich hat sich die Lebenssituation heute verändert. Heute sind die Frauen in der Regel neben der Kindererziehung, die auch mehr gemeinschaftlich von beiden Elternteilen getragen wird, mehr berufstätig. Aber das ist doch keine Antwort auf die Anliegen der Frauen, die das damals eben nicht gewesen sind, und deswegen finde ich es richtig, dass man sich darauf verständigt hat, einen Teil der Altersarmut eben auch durch – wenn sich auch nur geringfügig auswirkende – höhere Bezüge in der Mütterrente zu gewähren.

Meine Damen und Herren, ich glaube allerdings, dass diese Beschlüsse, die noch einen Schwerpunkt der Debatte im November gebildet haben, allein nicht ausreichen werden, um die Armut in Bremen und Bremerhaven zu bekämpfen, weil richtig ist, dass wir nicht nur über Transferleistungen reden müssen, sondern über die Frage der Ursachen von Armutsbekämpfung. Wenn Sie sich anschauen, wie sich das ohnehin schon hohe Armutsrisiko in Bremen innerhalb der Stadt und in Bremerhaven innerhalb der Stadt regional verteilt, dann können Sie sagen: Das wird sich bundespolitisch eben nicht lösen lassen, weil die Ursachen dafür nicht in der Bundespolitik liegen.

Wenn beispielsweise sämtliche Leitungen von städtischen Kindertagesbetreuungseinrichtungen in Gröpelingen in diesen Tagen ein sehr differenziertes Papier unterzeichnen, zugeleitet und in die politische Debatte gebracht haben, dann ist das eben nicht nur der Ruf nach mehr Geld, sondern die Anforderung an den Senat, Armutsbekämpfung nicht ressortbezogen, sondern ganzheitlich zu denken. Deswegen, Herr Bürgermeister Böhrnsen, ist Ihr Anliegen genau richtig: Armutsbekämpfung in Bremen und Bremerhaven ist nicht alleinige Aufgabe der Sozialsenatorin; Armutsbekämpfung ist eine Aufgabe, die gesamtgesellschaftlich ist und deswegen auch alle Senatsbereiche betrifft.

(Beifall bei der CDU)

Was ist das eigentlich für ein Staat, der über die Schulpflicht Eltern zwingt, ihre Kinder möglichst zunehmend ganztägig in staatliche Betreuungseinrichtungen zu schicken und am Ende vor dem Ergebnis dieser staatlichen Schulpflicht versagt? Es kann doch nicht sein, dass das Ergebnis eines Schulbetriebes ist,

dass das betroffene Kind von der Schulbetreuung unmittelbar in die staatliche Jugendhilfe überführt wird!

(Glocke)

Es ist doch ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, Herr Präsident, dass sich die Kosten der Jugendhilfe in den letzten Jahren mehr als verdoppelt haben. Das sind genau die Jugendlichen, die wir über viele Jahre in unseren staatlichen Bildungs- und Erziehungssystemen betreut haben. Deswegen ist das Versagen dieser Jugendlichen eben auch ein Versagen von politischer Verantwortung!

(Beifall bei der CDU)

Wir haben – ich komme zum Schluss, Herr Präsident! – dem Parlament angeboten und hätten uns gewünscht, dass das Parlament auch den Mut gehabt hätte, das Thema Armutsbekämpfung für den Rest der Legislaturperiode in das Zentrum seiner weiteren politischen Beratungen zu stellen. Den Mut haben Sie im November nicht besessen.

Der Präsident des Senats hat den Mut gehabt, das Thema Armutsbekämpfung zur Chefsache zu erklären. Es gilt damals wie heute: Die CDU-Fraktion erklärt sich bereit, mit dem Senat gemeinsam und den betroffenen Verbänden geschlossen für einen neuen Denkansatz in der Bekämpfung der Armutsursachen zu suchen. Wir sehen uns als Teil dieses Parlaments und der politischen Gesellschaft in Bremen und Bremerhaven in der Verantwortung, die Menschen in ihrer Armut nicht alleinzulassen. – Vielen Dank!

(Beifall bei der CDU)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Wendland.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Bremerinnen und Bremer! Mit zwölf Jahren bin ich mit meiner Mutter aus der ehemaligen DDR nach Bremerhaven gekommen. Groß geworden bin ich dort im Stadtteil Lehe. Lehe, das war das Umfeld, in dem ich jeden Tag Armut vor meinen Füßen hatte: in der Nachbarschaft, in der Schule, bei den Klassenkameraden, in Bremerhaven in einem Stadtteil, in dem die materielle Armut wirklich wohnt. Das Wort „Chance“ kam da gar nicht vor. Im Grunde wird Armut vererbt. Das war damals schon so, und das ist so geblieben: Armut wird vererbt. Gesellschaftliche Schichten bleiben unter sich, ganze Stadtteile sind auf dem Abstellgleis, es hat sich so gut wie gar nichts verändert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Ziel ist Bekämpfung der Armut und Eröffnung von Wegen aus der Armut. Es freut mich, dass in diesem Hohen Haus

niemand mehr die armen Menschen für das Problem hält und diese bekämpfen will.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Dieser Konsens ist eine wichtige Grundlage, um über den besten Weg der Bekämpfung der Armut und ihrer Ursachen zu reden.

Armut ist die größte Herausforderung, vor der wir in Bremen und Bremerhaven stehen. 23 Prozent der Menschen in unseren beiden Städten sind armutsgefährdet. Besonders betroffen sind Kinder. Jedes dritte Kind ist materiell arm. Unser Ziel ist es, Menschen den Weg aus der Armut zu ermöglichen. Daran müssen wir uns als Politik und auch als Gesellschaft messen lassen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Wenn wir uns diesem strengen Maßstab stellen, müssen wir anerkennen, dass unsere bisherigen Aktivitäten und Maßnahmen nicht zum erwünschten Erfolg geführt haben. Wir Grüne, die inzwischen seit über sechs Jahren am Senat beteiligt sind, aber auch die Sozialdemokratie, die in Bremen seit Menschengedenken an der Regierung ist,

(Heiterkeit)

müssen den Mut aufbringen, unser bisheriges Handeln sehr kritisch auf den Prüfstand zu stellen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der CDU)

Wir müssen einräumen, dass wir unsere Ziele bisher nicht erreicht haben.

Aber das Thema fordert auch die Opposition. Die Auseinandersetzung mit Armut ist zu wichtig, um nur alle paar Monate hier im Haus die gleichen Debatten zu führen und wie ein Zuschauer von den Sitzplätzen eines Fußballstadions alles besser zu wissen. Wir brauchen weiter eine ernsthafte und das heißt vor allem eine konstruktive Debatte. Wir müssen bereit sein, neue Wege zu gehen und aus Fehlern zu lernen, anstatt sie auszuschlachten. Herr Röwekamp, Sie haben uns im November hier dargelegt, dass sich Ihre Einstellung zur Armut geändert hat. Wir nehmen Sie beim Wort. Wir laden Sie ebenso wie DIE LINKE ein, mit uns gemeinsam aktiv zu werden!