Protocol of the Session on January 26, 2006

Die 54. Sitzung der Bürgerschaft (Landtag) ist eröffnet.

Ich begrüße die hier anwesenden Damen und Herren sowie die Zuhörer und die Vertreter der Presse.

Auf der Besuchertribüne begrüße ich recht herzlich die gerade eintretenden Schülerinnen und Schüler einer Klasse des Schulzentrums an der Bergiusstraße. – Herzlich willkommen!

(Beifall)

Meine Damen und Herren, in der 52. Sitzung der Bürgerschaft (Landtag) am 15. Dezember 2005 ist der Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, der SPD und der CDU mit dem Titel „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Arbeitnehmerkammer, KammerCard für Langzeitarbeitslose“, Drucksache 16/871, Neufassung der Drucksache 16/766 vom 30.9.2005, zur Beratung und Berichterstattung an die staatliche Deputation für Arbeit und Gesundheit überwiesen worden.

Aufgrund eines Schreibens des Senators für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales vom gestrigen Tag ist nunmehr interfraktionell beantragt worden, den Antrag stattdessen zur Beratung und Berichterstattung an die staatliche Deputation für Wirtschaft und Häfen zu überweisen.

Wer dieser Überweisung seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen!

Ich stelle fest, die Bürgerschaft (Landtag) überweist entsprechend.

(Einstimmig)

Meine Damen und Herren, ich hatte in der gestrigen Debatte über unsere Nationalhymne den Abgeordneten Tittmann gebeten, die Würde des Hauses zu beachten und sich bei seinen Äußerungen dementsprechend angemessen zu verhalten. Nachdem wir uns den Protokollauszug der Rede von Herrn Tittmann angesehen haben, sehe ich mich veranlasst, diese Debatte noch einmal aufzugreifen.

Herr Tittmann hat ausgeführt, ich zitiere aus dem Protokoll: „Meine Damen und Herren, vielleicht sollten einige der etablierten Politiker der Altparteien, die für eine niederträchtige Entwürdigung, für eine wissentlich falsche Auslegung und eine schäbige, verantwortungslose Lächerlichmachung unserer Nationalhymne verantwortlich sind, einmal darüber nachdenken, wie ihre speichelleckerische, knieweiche und mit dem Rückgrat eines Regenwurms betriebene Politik im Ausland angesehen wird.“ Soweit das Zitat aus dem Protokollauszug!

In diesen Äußerungen, insbesondere in der pauschalen Bezeichnung der Haltung eines gegnerischen Politikers im letzten Satz, liegt eine Beleidigung und Herabsetzung dieser Politiker. Auch wenn sich diese Äußerungen nicht auf eine konkrete Person bezogen haben, erteile ich Herrn Tittmann hiermit einen Ordnungsruf, um einer weiteren Verrohung der Sprache in der politischen Auseinandersetzung in diesem Parlament entgegenzuwirken.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Aktuelle Stunde

Meine Damen und Herren, für die Aktuelle Stunde ist von den Abgeordneten Frau Stahmann, Frau Linnert und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen folgendes Thema beantragt worden:

Wagen und weichen: Bürgermeister skizziert neue Strategie.

Dazu als Vertreter des Senats Bürgermeister Böhrnsen.

Die Beratung ist eröffnet.

Als erste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Linnert.

Fast wäre ich versucht zu sagen, der Senat müsste von nun an auf Schnee spielen, aber das wäre der Ernsthaftigkeit des Problems, glaube ich, nicht angemessen.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte hier heute für die Grünen zu dem Papier, das Bürgermeister Böhrnsen vorgelegt hat, „Mit Entschlossenheit und Augenmaß die finanzielle Zukunft und die Selbständigkeit für den Stadtstaat Bremen sichern“, sprechen. Er hat zugesagt, dass er einen öffentlichen Dialog darüber möchte, und die Grünen übernehmen hier in der Aktuellen Stunde auch Verantwortung dafür, ihren Teil dazu beizutragen. Insofern finden wir gut, dass dieses Papier vorgelegt wurde. Es ist eine gute Diskussionsgrundlage, auch wenn es vielleicht schwer sein wird, die Finanzdetails, die in dem Papier stecken, allgemein verständlich darzustellen.

Wir unterstützen auch die Strategie des Senats und des Bürgermeisters, mit diesem Papier einen Aufschlag zu machen, um vor aller Welt zu bekunden, dass wir bereit sind, die Eigenständigkeit Bremens zu verteidigen. Es entspricht auch den Vorstellungen der Grünen, wie hier in dem Papier dargestellt worden ist, einen Dreiklang in der Strategie gemeinsam

zu machen, der nämlich aus Verhandeln, Eigenanstrengungen und einer angestrebten Verfassungsklage besteht.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Auch Details in dem Papier finden die Unterstützung der Grünen oder decken sich mit der zum Teil von uns auch über Jahre geforderten Richtungsänderung oder mit unserer Programmatik. Ich fange einmal mit der Abschaffung des Investitionssonderprogramms beziehungsweise des Anschlussinvestitionsprogramms an. Es gibt keine Begründung dafür, dass man bestimmte Investitionen mit bestimmten Weihen versieht, es ist richtig, eine Gesamtschau auf den Haushalt zu machen und dann abzuwägen, was müssen wir zuerst machen, worauf können wir verzichten und in welcher Reihenfolge machen wir das.

Es ist auch richtig in dem Papier dargelegt, dass man zu den Eigenanstrengungen Bremens auch Investitionskürzungen dazurechnen sollte. Es ist auch richtig in dem Papier, das findet ausdrücklich die Unterstützung der Grünen, dass ein Punkt gesetzt wird bei der Frage, was können wir der Bevölkerung an Kürzungen zumuten, was ist mit den bevölkerungsnahen Dienstleistungen, was ist mit Bildung, Wissenschaft und Kultur, was ist mit der Frage, wie halten wir unsere Straßen in Schuss. Es ist richtig, sich da verteidigend hinzustellen und zu sagen, wir sind nicht bereit, in dem Punkt zu weiteren großen Kürzungen – es wird aber trotzdem einige geben müssen – zu kommen, weil wir sonst den Standort hier kaputtsparen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Es ist auch richtig, weniger Vorbelastung zukünftiger Haushalte zu versprechen. Es ist auch richtig, wie in dem Papier dargelegt worden ist, dass man den anderen Bundesländern und dem Bund, wenn sie uns dann helfen sollten, mehr Kontrolle über das Bremer Finanzgebaren anbieten sollte. Es ist auch richtig, jetzt nicht die vermaledeite Einwohnerwertung, an der man wahrscheinlich leider im Moment nicht viel wird ändern können, ins Visier zu nehmen, sondern ganz stark darauf zu setzen, dass wir von den anderen Bundesländern und dem Bund beziehungsweise dem Verfassungsgericht Mittel bekommen, um unsere hohe Schuldenlast zu reduzieren. All das entspricht auch den Vorstellungen der Grünen.

Die Architektur des Böhrnsen-Papiers ist, dass im Jahr 2009, also in der nächsten Legislaturperiode, ein ausgeglichener so genannter Primärhaushalt vorgelegt werden soll, das heißt, dass die aktuellen Einnahmen sich mit den aktuellen Ausgaben decken. Man rechnet die Zinsen, die ja eines der zentralen Probleme des Bremer Haushaltes darstellen, heraus und kommt dann zu einer Betrachtung der Einnahmen und Ausgaben. Das ist eine richtige Betrachtung,

wenn man die Strategie verfolgt, den Fokus der Betrachtung viel stärker auf die hohe Schuldenlast Bremens zu richten. Das heißt dann aber auch, dass bis in das Jahr 2009, wenn dieser ausgeglichene Primärhaushalt vorgelegt werden soll, Einsparungen in der Größenordnung von 400 Millionen Euro vorgelegt oder getätigt werden müssen.

Dies erreicht man vor allen Dingen durch erhöhte Einnahmeerwartungen. 330 Millionen Euro mehr will Bremen im Jahr 2009 an Einnahmen tätigen, als es heute der Fall ist. Der Zehnjahresdurchschnitt der letzten zehn vergangenen Jahre war weniger als ein Drittel davon. Die Architektur des Papiers baut also zuallererst auf sehr hohe Einnahmeerwartungen. Heute konnte man von Herrn Glos lesen, dass er nur mit zwei Prozent Wirtschaftswachstum rechnet.

Das würden wir auch als einen der Kritikpunkte an dem Papier sehen, dass es wieder mit doch sehr fraglichen Einnahmeerwartungen schon während des Sanierungszeitraums rechnet. Die 330 Millionen Euro, von denen Sie da ausgehen, mögen zur Befriedung in der Koalition beitragen, und das hilft Ihnen auch, der Öffentlichkeit zu sagen, dass jetzt nicht so wahnsinnig und schlimm gespart werden soll. In Wirklichkeit handelt es sich erst einmal wieder um einen halben Kanzlerbrief, von dem man nicht wissen kann, ob er überhaupt in dieser Größenordnung, die die Grünen jetzt hier für fraglich halten – es spricht wenig dafür, dass man solche Summen erreichen kann –, auch wirklich realistisch geschafft werden kann.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Weiterhin erreichen Sie den ausgeglichenen Primärhaushalt 2009 durch Umbuchen, indem Sie endlich Zinsen richtig im Haushalt veranschlagen. Das findet die Unterstützung der Grünen. Ich glaube, das, was Sie da gemacht haben, das wissen Sie selbst, hätte man nie tun dürfen. Nun wollen Sie es in einem Jahr korrigieren, das ist auch in Ordnung, das wird dann allerdings in der Darstellung unserer Finanztableaus auch zu einigen Verwerfungen führen. Außerdem sind Sie bereit, aufsattelnd auf die Beschlüsse, die Sie schon gefällt haben, immerhin im Jahr 2007 noch sieben Millionen Euro zusätzlich an Investitionen zu kürzen. Das ist die Architektur des Finanztableaus ausgeglichener Primärhaushalt 2009, wie tapfer!

Ihr Ziel, die Investitionen Bremens sollen auf das Niveau von Hamburg gesenkt werden, ist kühn. Hamburg ist Geberland. Glauben Sie wirklich, Herr Bürgermeister, dass es gelingen kann, den anderen Bundesländern und dem Bund deutlich zu machen, dass eine weiterhin so hohe Investitionsquote, nämlich auf dem Niveau Hamburgs, Bremen gestattet werden soll? Ich glaube, dass das nicht gelingen kann. Sie müssen sich Gedanken darüber machen, dass dieses hohe Niveau aus Sicht der anderen noch weiter viel zu hoch sein wird. Im Übrigen ist es ja auch eine statische Betrachtung. Die Finanzsituation in allen

Ländern ist problematisch. Dort wird man uns entgegenkommen und wird dort auch zu weiteren Einsparungen kommen, auch im Investitionsniveau.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Aus Sicht der Grünen ist es also zu wenig. Sie werden mehr anbieten müssen. Der Wahrheit zuliebe muss man hier auch noch einmal sagen, dass Ihre Primärhaushaltsbetrachtung, die wir im Prinzip als ein Parameter zur Betrachtung des Haushalts unterstützen, ausblendet, dass wir im Jahr 2009 880 Millionen Euro zusätzliche Schulden machen müssen.

Es ist also ein Ammenmärchen, wie es in der Öffentlichkeit dargestellt wurde, dass es bei Ihren Vorschlägen zu rabiaten Investitionskürzungen kommt. Gerade einmal sieben Millionen Euro 2007, und das schon tut weh, weil ja die Haushalte verpflichtet sind! Es gibt also eine subjektive Sichtweise, es gibt hohe Investitionskürzungen, weil Sie nichts Neues anfangen können, die Haushaltszahlen, und die spiegeln die reale Tätigkeit des Staates wider, sind völlig anders.

Der entscheidende Punkt in Ihrem Papier, über den will ich jetzt in der restlichen Zeit sprechen, bezieht sich darauf, was wir eigentlich außerhalb der Periode bis 2009, über die Sie hier gesprochen und für die Sie das Papier angelegt haben, also ausgeglichener Primärhaushalt 2009, machen. Da sagen Sie auf Seite zehn Ihres Papiers, ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin: „Um die Entscheidungsmöglichkeiten zukünftiger Senate und Parlamente nicht unvertretbar einzuengen, sollen grundsätzlich alle Investitionsmaßnahmen in den Haushaltsjahren abfinanziert werden, in denen sie ausgeführt werden. Vor- und Zwischenfinanzierung als Vorbelastung kommender Haushalte sollen im Regelfall nicht mehr erfolgen. Sie kommen nur noch in solchen Einzelfällen besonderer Größenordnung in Betracht, die die Leistungsfähigkeit der jährlichen Haushalte überschreiten.“

Das ist richtig! Das ist aber der entscheidende Punkt mit der CDU. Das Anschlussinvestitionsprogramm, das gedachte Investitionsvolumen des über- und übernächsten Parlaments, sollte 250 Millionen Euro zusätzlich betragen, und der Koalitionsdeal bestand darin, dass man heute schon 50 Prozent davon ausgeben durfte. Allein schon das ist eine Ungeheuerlichkeit und wird in keiner anderen Gebietskörperschaft in Deutschland so betrieben.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Bisher konnte die Koalition davon ausgehen, dass man aus diesem Zeitraum heute schon Mittel in einer Größenordnung von 200 Millionen Euro auf den Kopf hauen kann. Das, Herr Bürgermeister, versuchen Sie mit dieser Fußnote zuzustopfen. Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei, allerdings habe ich meine Zweifel, dass das gelingen kann. Das sind Mittel

außerhalb der Finanzplanung. Bisher ist es so gewesen, dass man sich in zukünftigen Zeiträumen außerhalb der Finanzplanung als Koalition fröhlich bedient hat.

Die nächsten Wirtschaftsförderungsausschüsse werden schon vorbereitet. Seit drei Jahren hat sich die SPD-Fraktion nur als Papiertiger betätigt, indem sie immer wieder gesagt hat, man darf das mit dieser Vorfinanzierung nicht mehr machen, das geht überhaupt nicht, vor allen Dingen wollen wir erst einmal wissen, wie viel überhaupt schon vorbelastet wurde. Aber Sie haben es immer wieder gemacht. Dieser Zeitraum ist hochgradig vorbelastet in einer Größenordnung, die wir nicht genau kennen. Die CDU geht davon aus, dass da noch Mittel in einer Größenordnung von 200 Millionen Euro stecken.

Ich sage Ihnen, hören Sie damit auf! Sie können nicht dem Bundesverfassungsgericht Haushalte 2006 und 2007 zeigen, in denen die Taten, die Sie in Wirklichkeit vollbringen, als Vorbelastung auf die Zukunft aus den Haushalten 2011 bis 2014 nicht auftauchen. Sie dürfen das nicht machen, im Interesse Bremens! Wenn Sie jetzt wieder in die Zukunft ausweichen und das Verfassungsgericht bemerkt, die Richter lesen auch Zeitung, dass das, was wir ihnen als Sparhaushalt vorweisen, gar nicht die wirklichen Investitionstätigkeiten widerspiegelt, sondern dass die in Wirklichkeit viel größer sind, dann wird uns das den Kopf kosten.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Das Papier ist an dem Punkt kein großer Wurf. Sie haben nicht den Mut gehabt und weichen deshalb vor der CDU, an dem Punkt stark zu bleiben und zu sagen, man muss damit aufhören, es darf diese Art der Finanzierung nicht weiter geben. Sie legen ein Kompromisspapier für eine große Koalition vor, deren Kitt weiterhin ist, zusammen Geld auszugeben. Leider ist es jetzt alle.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Sieling.