Protocol of the Session on June 30, 2004

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ich damit deutlich machen will, ist, dass ich eine grundsätzlich andere Einstellung zu dem habe, was Herr Rohmeyer hier gesagt hat. Sitzenbleiben als Ultima Ratio, weil ein Schüler in Physik und Mathematik die vom Lehrer gesteckten Lernziele nicht erreicht, halte ich für nicht richtig. Sie haben einen Ansatz, der den Schüler als defizitäres Wesen ansieht: Wo sind die Schwächen, wo sind die Defizite, was erreicht der Schüler nicht? Der Weg muss aber doch eigentlich umgekehrt sein: Wo liegen die Stärken der Schüler und Schülerinnen?

Schön, Sie melden sich noch einmal, dann geht es hier noch munter weiter! Ich glaube, wir brauchen eine viel stärkere individuelle Sichtweise auf den Schüler, wie Schüler besser gefördert werden können, und ich glaube, mit gezieltem Förderunterricht und nicht nur vier, sechs oder zwölf Wochen in den Oster- oder Herbstferien, sondern gezielt und durchgängig, damit können wir bessere Ergebnisse erreichen.

Es muss doch so sein, dass der Schulleiter der Qualitätsbeauftragte für den gesamten Unterricht der Schule ist und dass der Lehrer sich verantwort

lich fühlt für jeden Schüler und für jede Schülerin. Das ist das Umdenken, das wir brauchen. Das ist der Paradigmenwechsel, den wir brauchen, den ich vorhin versucht habe, deutlich zu machen. Nicht das Aussortieren muss im Vordergrund stehen – der Lehrer, der sagt, wir sind noch 34, am Ende des Schuljahres, stelle ich mir vor, sind wir nur noch 25 –, das soll der Vergangenheit angehören.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD – Abg. K a s t e n d i e k [CDU]: Hauptsache, meine Vorurteile stimmen!)

Herr Rohmeyer, Sie traben hier daher, nicht als Ritter der Ehrenrunde, sondern, ich sage, als Retter der Ehrenrunde, und Sie können keine wissenschaftliche Begründung abliefern, warum Jugendliche und Kinder sitzen bleiben sollen. Es gibt nämlich keine wissenschaftliche Untersuchung. Auch viele Lehrer haben erkannt, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler anders fördern müssen. Deswegen hat das Schulzentrum Findorff ja 44 Kinder probeversetzt und hat mit gutem Erfolg erreicht, dass mehr als die Hälfte auch die nächste Klasse erreicht hat mit gezieltem Förderunterricht, mit der gezielten Einbindung der Eltern. Das ist das, was wir brauchen, und dieser Weg muss weiter beschritten werden.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Ich kann auch noch einmal sagen, das, was Sie uns hier immer verkaufen, aussortieren, bis der Arzt kommt, das kann doch nicht die Lösung sein. Ich habe gesagt, die Länder, die besser sind, die skandinavischen Länder, fördern die Kinder viel gezielter.

(Widerspruch bei der CDU – Abg. K a s - t e n d i e k [CDU]: Abenteuerlich! Haupt- sache, meine Vorurteile stimmen!)

Die Vorurteile habe ich von Herrn Rohmeyer gehört! „Wir bleiben unter uns!“, das ist doch die Botschaft, die Herr Rohmeyer dem Haus hier verkaufen will.

(Zurufe von der CDU)

Dann muss er das hier gleich noch einmal klar stellen. Das ist das, was seine Rede hier ausstrahlt, dass man meint, man könnte ganz homogene Lerngruppen erzielen, und wer da nicht hineinpasst, der wird aussortiert. Das ist das, was die Rede von Herrn Rohmeyer ausgestrahlt hat.

Wir sagen an dem Punkt noch, Noten sind subjektiv, bringen nichts, auch dafür gibt es keine wissenschaftliche Untersuchung. Noten sind Quatsch. Sie schaden eher, als dass sie nützen, und ich glaube auch nicht, dass die Mehrzahl der Eltern Noten will. Wir haben bisher im Schulgesetz eine ausreichende Regelung gehabt, Herr Rohmeyer. Sie war

ausreichend, das haben alle Schulgremien gesagt. Schulen konnten selbst entscheiden, ob sie Noten haben wollten oder nicht.

(Abg. K a s t e n d i e k [CDU]: Jeder kann doch machen, was er will!)

Das heißt nicht, Herr Kastendiek, dass jede Schule machen kann, was sie will, sondern der Weg, den der Bildungssenator geht – hören Sie mir zu! –,

(Unruhe bei der CDU – Abg. K a s t e n - d i e k [CDU]: Das sind doch die Ergeb- nisse aus Iglu! Das hat doch Iglu gezeigt, woran es gelegen hat!)

einheitliche Lernentwicklungsberichte, sind richtig. Wir sagen aber, Noten bringen nichts. Das, was Sie machen, ist ein Schulsystem von gestern und von vorgestern. Das habe ich Ihnen schon siebenmal gesagt, und das sage ich Ihnen auch gern noch das achte Mal. – Danke!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Rohmeyer.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Liebe Frau Stahmann, Ihre kleine Fabel war süß, und sie war der beste Beweis für einen begabungsgerechten Unterricht in einem gegliederten System, meine Damen und Herren.

(Unruhe beim Bündnis 90/Die Grünen)

Sie können einem Adler nicht das Schwimmen, Sie können einem Kaninchen nicht das Schwimmen beibringen. Sie müssen jeden nach seinen Begabungen fördern. Ich freue mich, dass Sie endlich bei uns angekommen sind. Vielen Dank für Ihre kleine Geschichte!

(Beifall bei der CDU – Unruhe beim Bünd- nis 90/Die Grünen)

Meine Damen und Herren, wir hatten hier in vielen Punkten Gemeinsamkeiten festgestellt, und dann kam Frau Stahmann in ihrer zweiten Runde. Ich weiß nicht, in welcher Realität Sie leben. Wir wollen kein Schulsystem von gestern, sondern wir wollen das bisherige Schulsystem, das ausgewiesenermaßen schlecht war, deutlich besser machen, und wir werden es besser machen. Wir haben hier gute Kompromisse gefunden, weil, ich habe es schon einmal gesagt, Lernentwicklungsberichte in Klasse drei und vier kombiniert mit einem Ziffernzeugnis sowohl ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

die Lernentwicklung als auch den Leistungsstand zeigen.

(Abg. Frau S t a h m a n n [Bündnis 90/ Die Grünen]: Quatsch mit Soße!)

Weder das eine noch das andere kann beides bieten. Die Kombination aus beiden, der Kompromiss, den die Koalition im September 2002 beschlossen hat, wird so umgesetzt, und das wird Eltern, Schüler und Lehrer gleichermaßen zu mehr Förderung bringen.

Wir wollen niemanden zwangsweise beglücken. Frau Hövelmann hat das ja auch noch einmal gesagt, es wird ein Angebot auch in den Ferien geben. Da haben die Schüler und die Eltern dann freie Wahl. Wir wollen und können niemanden zwingen.

Frau Stahmann, das ist eine Dogmatik, da muss ich sagen, ich weiß nicht ganz genau, ob Sie mit Zwang auch andere Bereiche der Gesellschaft gestalten wollen. Die Förderangebote außerhalb des Unterrichts und die Förderangebote im Unterricht müssen kombiniert werden. Das Konzept hierfür, das muss ich sagen, Herr Staatsrat, liegt noch nicht vor. Ich habe das vorhin schon einmal gesagt. Im Februar haben wir darüber gesprochen. Es wäre schön, wenn wir dann noch zeitnah über die Details reden könnten, weil wir hier zurzeit auch nur politische Zielvorgaben austauschen können. Wir müssen dann natürlich auch noch einmal mit der Verwaltung und den Praktikern an den Schulen reden. Es gibt ja eine Reihe von erfolgreichen Modellen an den einzelnen Schulen, da können wir sicher Erfahrungen aufnehmen. Dagegen spricht doch niemand.

Wenn Sie hier aber so tun, als wenn wir hier ohne zu fördern die Schüler alle sitzen bleiben lassen wollen, dann ist das einfach falsch. Sie haben mir vorhin nicht zugehört, weil ich Ihnen genau gesagt habe, dass, wenn wir Leistungsstandards definieren, es nicht sein kann, wenn Sie eine Prognose haben, dass ein Schüler niemals diesen Leistungsstand erreichen wird, wenn Sie ihn dann automatisch vorrücken lassen. Am Ende steht eine zentrale Abschlussprüfung, und nach der Schule kommt das weitere Leben. Da können Sie ihn dann nicht entlassen nach dem Motto: Du hattest eine schöne Schulzeit, viel Spaß in der Arbeitslosigkeit! Das ist eine Auffassung, Frau Stahmann, die wir nicht teilen!

(Beifall bei der CDU)

Darum sagen wir: Leistung muss definiert und entsprechend gewürdigt werden, nicht erreichte Leistung muss nachgebessert werden, und wenn es nicht mit freiwilliger oder verpflichtender Förderung im Laufe des einen Schuljahres funktioniert, muss das Lernziel dieses Schuljahres eben nachgearbeitet werden. Bei allen Nachprüfungsmöglichkeiten, die wir haben, muss man auch irgendwann sagen, ir

gendwann ist auch einmal ein letzter Punkt erreicht, und wenn dieser Punkt nicht erreicht wird, muss leider noch ein Jahr nachgearbeitet werden. – Vielen Dank!

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Die Aussprache ist geschlossen.

Die Bürgerschaft (Landtag) nimmt von der Antwort des Senats, Drucksachen-Nummer 16/322, auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Kenntnis.

Einführung der Familiencard in Bremen

Antrag der Fraktionen der CDU, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 2. Juni 2004 (Drucksache 16/273)

Wir verbinden hiermit:

Einführung einer Familien-Card

Antrag der Fraktionen der CDU und der SPD vom 16. Juni 2004 (Drucksache 16/315)

Dazu als Vertreter des Senats Herr Staatsrat Dr. Knigge.

Die gemeinsame Beratung ist eröffnet.

Das Wort erhält der Abgeordnete Karl Uwe Oppermann.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Was bedeutet heute eigentlich noch der Begriff Familie? Da habe ich einmal in Meyers Lexikon geschaut und dort folgendes Zitat gefunden: „Familie: Soziale Gruppe, die in der Industriegesellschaft in der Regel aus den Eltern und ihren unselbständigen Kindern besteht.“ Ich habe nicht das allerneueste Exemplar, so etwas kauft man sich ja nicht ständig neu, aber dass dieser Begriff heute so nicht mehr haltbar ist, ist sicherlich jedem von uns klar. Es folgen dann noch weitere Erklärungen des Begriffs Familie.

Wir wissen, dass dies heute leider nicht mehr der Tatsache entspricht. Familie, das ist heute die traditionelle Familie mit einer veränderten Arbeitsteilung, die Patchworkfamilie, das sind allein Erziehende mit Kind oder Kindern, und wenn wir genau hinschauen, spiegelt sich das auch hier im Parlament wider. Alles, was wir heute Familie nennen oder, knapp gesagt, wo mindestens ein Elternteil und mindestens ein Kind zusammenleben, ist Familie.

Warum sage ich das als Vorlauf? Weil Wunsch und Wirklichkeit im Familienleben stark auseinander gehen, meine Damen und Herren, und leider muss ich hier ein paar Zahlen bemühen! Die Politik hat die Familie wiederentdeckt. Wenn man sich ernsthaft mit der Familie beschäftigt und damit, wie man ihr helfen will, kommt man an folgenden Tatsachen nicht vorbei: Die Menschen zwischen 29 und 34 Jahren wünschen sich im Durchschnitt 2,4 Kinder, bekommen aber in Wirklichkeit nur 1,39. Das ist Statistik, deswegen die Zahlen hinter dem Komma! Das ist völlig klar, weil hier deutlich wird, wie sehr Wunsch und Wirklichkeit bei der Familienplanung auseinander gehen.

Im Jahr 2000 gab es noch 418 000 Eheschließungen, im Jahr Jahr 2002 nur noch 392 000. Die Quote der Scheidungen hat sich vom Jahr 2000 von 194 000 um 10 000 bis zum Jahr 2002 erhöht. Wir haben heute die niedrigste Geburtenrate, die es je in Deutschland gab. Von 2000 bis 2003 gab es jedes Jahr einen Rückgang um 70 000 Lebendgeburten in Deutschland. Die Zahl der kinderlosen Ehepaare in unserer Republik nähert sich der Zehn-Millionen-Grenze. Mit der Geburtenrate liegt Deutschland – nun hören Sie gut zu! – auf Platz 185 von 202 Nationen, die es auf diesem Erdball gibt, also nicht nur im Fußball ist da ein Abstieg gewesen, sondern auch in der Geburtenrate. Das sind gewichtige Gründe, warum die Familie in der Bundes- und in der Landespolitik neu entdeckt wird, der Verbund, der zu lange vergessen wurde, um ihn attraktiv zu halten.

Leider muss ich feststellen, ein Bericht, der von der hessischen Landesregierung in Auftrag gegeben wurde, besagt, dass den Familien von allen Regierungskonstellationen nach dem Krieg immer mehr genommen als gegeben worden ist.