Protocol of the Session on October 25, 2001

(Beifall bei der SPD)

Als Nächste erhält das Wort Frau Senatorin Adolf.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Inhaltlich sind wir uns, glaube ich, was das Ziel von Familienbildung ist, weitgehend einig, nämlich die Familien in ihren unterschiedlichen Lebensphasen und Entwicklungslagen zu begleiten und sie in der Erziehungskompetenz zu stärken. Das ist umso wichtiger, als sich die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse um die Familien herum permanent ändern und die Herausforderungen, die sich bei der Bewältigung des Familienalltages auftun, permanent wachsen. Deswegen brauchen Familien in diesem Feld auch Begleitung.

Als ein Beispiel für den Paradigmenwechsel in Erziehungsfragen ist natürlich das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung zu nennen. Die Anwendung von Gewalt, das haben wir bei dem Tagesordnungspunkt vorher auch schon besprochen, ist in unseren Familien immer noch viel verbreite

ter, als wir uns das alle wünschen. Der Kollege Böse hat vorhin eine Studie aus Kanada benannt, aus der hervorgeht, dass die Opfer elterlicher Gewalt später auch vermehrt selbst Täter von Gewalt in Familien sind. Dem müssen wir begegnen. Von daher ist es nur folgerichtig, dass auf Bundesebene nun endlich das Gewaltächtungsgesetz auf den Weg gebracht worden ist. Damit wird die Anwendung elterlicher Gewalt nun endgültig für unzulässig erklärt, und die Jugendhilfeträger sind folgerichtig verpflichtet, den Eltern generell unabhängig von einer aktuellen Problemlage durch Bildungs- und Beratungsangebote Wege aufzuzeigen, wie Konfliktsituationen in den Familien gewaltfrei gelöst werden können.

Solche Beratungsverpflichtung ergibt sich unmittelbar auch aus einem solchen Gesetz, das ist keine Frage. Wir haben eine hohe Verantwortung, wenn wir die Kompetenz der Familie, die Eigenkompetenz, wirklich stärken wollen. Wir müssen dabei natürlich die Familien möglichst frühzeitig ansprechen, nicht erst dann, wenn Konflikte eskalieren. Wir wissen auch, dass wir es dabei mit Schwellenängsten von gerade jungen Familien zu tun haben, die sich erst einmal scheuen, sich zu öffnen, die vielleicht auch die Probleme zunächst als zur normalen Entwicklung gehörig betrachten und nicht begreifen, dass sie in eine besondere Situation hineinschlittern, und die für sich Beratung vielleicht auch erst einmal als Stigma betrachten, weil sie fürchten, damit zu signalisieren: Ich komme allein nicht klar!

Wir müssen die Eltern motivieren, sich bereits zu Beginn ihrer Elternschaft mit Elternbildungsangeboten, die wir ja haben, vertraut zu machen und diese Angebote auch anzunehmen. Wir werden deswegen natürlich auch prüfen, ob wir Anreize geben können. Wir denken daran, das System einer Prämie ins Auge zu fassen, weil wir dabei das, was hier auch an Risiken eines solchen Bildungsgutscheines genannt worden ist, nämlich ein Mitnahmeeffekt oder nicht zu steuernde Ausgaben, vielleicht am besten im Griff behalten und über Teilnahmeprämierung auch sinnvolle Anreize geben können.

In der Stadtgemeinde Bremen, für die bin ich auf kommunaler Ebene zuständig, gibt es ein sehr differenziertes Netz an Familienbildungsangeboten. Daran gibt es keinen Zweifel. Wir haben das jetzt zum ersten Mal zusammengefasst und haben eine Auflage von 7000 Stück mit dem Programm sämtlicher Bildungsträger erstellt. Diese Auflage ist uns aus den Händen gerissen worden. Anders kann man es kaum bezeichnen.

Wir werden diese Broschüre mit der Zusammenfassung des Familienbildungsangebotes jetzt halbjährlich auflegen, und wir werden die Auflage erheblich steigern müssen. Das zeigt aber, dass die Bereitschaft von Eltern, sich solchen Angeboten zu öffnen, wirklich vorhanden ist und dass wir nur se

hen müssen, dass wir die Eltern auch mit Informationen richtig erreichen.

Der in dieser Legislaturperiode dann auch zu erstellende Kinder-, Jugend- und Familienbericht wird sich dann natürlich auch mit dem Schwerpunkt Familienbildung befassen und in diesem Rahmen eine ausführliche Bestandsaufnahme machen, die sich natürlich auch auf Bremerhaven beziehen muss, weil das Angebot dort, aus meiner Sicht und Kenntnis vor Ort, nicht so differenziert ist wie hier. Dann wird auch zu schauen sein, was dort eventuell an Nachbesserung noch vonstatten gehen muss.

Der Anspruch von Familienbildung ist, über ein allgemein zugängliches Angebot hinaus Familien anzusprechen, die bereits mit dem Risiko chronischer Überforderung leben und die so genannten institutionellen Bildungsangebote nur wenig oder gar nicht nutzen. Wir haben hier natürlich auch einen sehr engen Bezug zu den Angeboten der Jugendhilfe. Für diese Form der Familienbildung haben wir auch anerkannte Orte in den Stadtteilen. Wir haben dort Kindertagesstätten, wir haben Erziehungsberatungsstellen. Es gibt also bereits ein Netz von Institutionen, die dafür zuständig sind, die diese Aufgabe wahrnehmen können und die wir weiter stärken können.

Wir müssen die Familien durch kleinräumig angelegte Trainingsprogramme befähigen, Konflikte zu erkennen und zu lösen. Wir wollen natürlich für Bremen auch eine tragfähige und dauerhafte Lösung finden, um alle Angebote wirklich zu bündeln, auf den tatsächlichen Bedarf hin zu überprüfen und sie auf breiter Ebene auch thematisch und strukturell Familien mit unterschiedlichem Bildungsniveau zugänglich zu machen. Auch das dürfen wir nicht vergessen, dass wir da keine einheitliche Familie ansprechen, sondern dass die alle von sehr unterschiedlicher Zusammensetzung, von unterschiedlichem Bildungsniveau sind, der soziokulturelle Hintergrund ist sehr unterschiedlich, und die Lebenslagen sind letztlich auch sehr unterschiedlich.

Wir erarbeiten bei mir im Hause gegenwärtig ein Konzept für eine entsprechende Koordinierungsund Leitstelle für Familienbildung. Wir setzen darauf, dass wir in diesem Zusammenhang dann Hilfe vom Bund bekommen. Wir haben da Gespräche geführt. Ich werden Ihnen das Ergebnis demnächst in der Deputation präsentieren können, hoffe ich. Dann werden wir noch besser in die Lage versetzt sein, all das, was wir anbieten, wirklich auch zu koordinieren.

(Beifall bei der SPD)

Zusammengefasst lauten die Entwicklungsziele unserer Familienpolitik: alle Familien möglichst frühzeitig erreichen, Risikofamilien mit geeigneten Angeboten ansprechen, vorhandene Bildungsangebote vernetzen, die Erreichbarkeit vorhandener Ange

bote erhöhen und neue, innovative Angebote an Hand des tatsächlichen Bedarfs entwickeln. Dabei ist natürlich ein Schwerpunkt: Bildungsangebote für Migrantenfamilien.

Familienbildung wird, das haben Sie hoffentlich der Antwort und auch meinem Beitrag hier entnommen, vom Ressort mit hoher Priorität gesehen, weil dies eine Aufgabe für die Zukunft ist. Herr Pietrzok hat es gesagt, es gibt keine Alternative dazu, starke Familien zu fördern und zu wollen, wenn wir starke Kinder wollen und wenn die Zukunft für diese Kinder positiv verlaufen soll. Deswegen muss dieses Thema für uns alle Priorität haben. Ich freue mich, dass wir uns auch inhaltlich im Großen und Ganzen sehr einig sind.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Die Beratung ist geschlossen.

Die Bürgerschaft (Landtag) nimmt von der Mitteilung des Senats, Drucksache 15/825, Kenntnis.

Mehr Prävention und Hilfe bei Schulverweigerung

Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 12. September 2000 (Drucksache 15/454)

Wir verbinden hiermit:

Schulvermeidung

Mitteilung des Senats vom 18. September 2001 (Drucksache 15/826)

Dazu als Vertreter des Senats Senator Lemke, ihm beigeordnet Staatsrat Köttgen.

Meine Damen und Herren, der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Mehr Prävention und Hilfe bei Schulverweigerung“ vom 12. September 2000, Drucksache 15/454, ist von der Bürgerschaft (Landtag) in ihrer 22. Sitzung am 13. September 2000 an die staatliche Deputation für Bildung überwiesen worden. Diese Deputation legt nunmehr mit der Drucksache 15/826 ihren Bericht dazu vor.

Die gemeinsame Beratung ist eröffnet.

Das Wort erhält der Abgeordnete Mützelburg.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Im September vergangenen Jahres hat dieser Landtag ausführlich und grundsätzlich über die Frage der Schulverweigerung und Schulvermeidung debattiert und da––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

mals beschlossen, einen Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen, dem die Beantwortung einer Großen Anfrage der großen Koalition zugrunde lag, an die Deputation für Bildung zu überweisen. Wir haben damals das Thema Schulverweigerung und Schulvermeidung und insbesondere deren Prävention für ein sehr zentrales Thema der Bildungs-, Sozial- und der Jugendpolitik insgesamt gehalten.

(Abg. Frau H ö v e l m a n n [SPD]: Wir immer noch!)

Ich will nicht diese gesamte Debatte wiederholen, sondern nur darauf hinweisen, dass wir in diesem Fall von Schulvermeidung und Schulverweigerung von Schülern reden. Man könnte auch über Lehrer reden. Das wäre in dem Zusammenhang auch ein interessantes Thema, meine Damen und Herren.

Die Vermeidung und Verweigerung von Schulbesuch hat viele Aspekte und Facetten. Das fängt an beim gelegentlichen Kranksein, das die Eltern dann auch manchmal dulden, wenn ihre Tochter oder ihr Sohn morgens nicht in die Schule will, geht über den vorverlegten Ferienbeginn wegen einer günstigen Flugreise in ein Mittelmeerland, und es endet nicht zuletzt dabei, dass Eltern – oft auch ausländische Eltern – ihre Kinder, insbesondere Mädchen, zu Hause halten, um häusliche Arbeiten zu verrichten, oder dass Jugendliche in Jugendgangs durch die Straßen ziehen, was interessanter scheint, als die Schule zu besuchen. Wir haben das hier alles ausführlich debattiert, und ich will nicht noch einmal im Detail darauf eingehen.

Bündnis 90/Die Grünen hat in dieser Bürgerschaft durch Anfragen, Debatten und Beiträge verschiedentlich darauf hingewiesen, dass dies ein gesellschaftliches und bildungspolitisches Problem ist. Die Zahlen, die wir ja mittlerweile kennen, sowohl die Zahl der Sitzenbleiber, vor allen Dingen in der Sekundarstufe I, in den Haupt- und Realschulen, als auch die Zahl der Schüler – zehn Prozent, ich wiederhole es immer wieder –, die überhaupt keinen Abschluss machen, stehen auch im engen Zusammenhang mit dem Problem der Schulverweigerung und der Schulvermeidung und zeigen deutlich, dass es eine große Zahl von Schulkindern gibt, um die sich offensichtlich bisher weder das Elternhaus noch die Schule ausreichend gekümmert hat.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, es hat ein Jahr gedauert, bis der Antrag zurückgekommen ist. In diesem Fall bedauere ich noch nicht einmal, dass es so lange gedauert hat, denn es ist besser, eine solche Frage wird gründlich bearbeitet. Wir haben damals ja auch viele Vorschläge gemacht und diskutiert. Das, was der Senator jetzt hier vorgelegt hat, ist auf den

ersten Blick aus unserer Sicht erst einmal ein Erfolg. Es bestätigt, dass unser Antrag in die richtige Richtung gezielt hat.

Meine Damen und Herren, ich will nur drei Punkte benennen. Wir haben damals vorgeschlagen, den Jahr für Jahr geschrumpften so genannten Schulermittlungsdienst – Mitarbeiter der Behörde, die sich eben gerade um diese Kinder kümmern, die nicht zur Schule gehen – wieder aufzustocken und sein Arbeitsfeld neu zu beschreiben. Das ist geschehen. Es gibt jetzt die Beratungsstelle Schulvermeidung, und sie hat auch personell eine Stärke, mit der sie die Chance hat, erfolgreich zu arbeiten.

Wir haben damals vorgeschlagen, vor allem den Lehrern in den Hauptschulen intensivere Möglichkeiten zu geben, sich um diese Kinder zu kümmern. Die Klassenlehrer in den Hauptschulen erhalten eine Stunde Unterrichtsbefreiung, um mehr Luft zu haben, um sich um Eltern und Kinder, die die Schule verweigern, zu kümmern.

Wir haben vorgeschlagen, die Fortbildungsangebote des LIS, Landesinstitut für Schule, für Lehrer auch auf diesen Themenschwerpunkt auszurichten, und zumindest auf dem Papier ist das mittlerweile auch geschehen.

Das alles ist der Aktivität nicht nur unserer Fraktion, sondern der Parlamentarier insgesamt zu verdanken. Ich bedanke mich auch ausdrücklich beim Senator, dass er sich Mühe gegeben und ein bisschen Druck gemacht hat, dass die Behördenmühlen in Bewegung gekommen sind und erste Schritte und erste Erfolge auf diesem Gebiet zu verzeichnen sind.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Zumindest die Papierform ist gut, aber der Senator und auch alle anderen Fußballfreunde hier im Raum wissen das, die Wahrheit ist auf dem Platz, und der Platz ist nicht die Behörde, der Platz ist auch nicht nur die Schule, nicht nur die Hauptschule und Realschule, wo Schulverweigerung stattfindet, sondern der Platz ist oft auch weit außerhalb der Schule. Das sind die Einkaufszentren dieser Stadt, das sind Spielhallen, das sind Spielplätze, das sind Straßenecken, das sind auch Familien – ich habe schon darauf hingewiesen –, in denen die Kinder, vor allem die Mädchen, dann zu Hause sitzen und auf die kleinen Geschwister aufpassen. Das sind die tatsächlichen Räume, wo Schulvermeidung und Schulverweigerung stattfinden und wo die Jugendlichen sind, die man finden muss.

Leider, das muss ich jetzt doch sagen, kann das allein nicht eine Aufgabe der Schule sein. Wir waren uns vor einem Jahr einig, dass hier sowohl die Jugendhilfe, die Schulärzte, der Schulpsychologische Dienst, als auch die Polizei in Bremen gefordert sind, sich um diese Kinder und Jugendlichen zu kümmern.

Wenn wir den Bericht gründlich lesen, dann stellen wir in einer kurzen Passage fest, dass sich die Fachdeputationen für Soziales und Inneres bis heute leider überhaupt noch nicht damit beschäftigt haben,

(Abg. Frau S t a h m a n n [Bündnis 90/ Die Grünen]: Schade eigentlich!)

ich glaube, der Jugendhilfeausschuss auch nicht, und dass die Initiativen in diesen Behörden bisher leider noch nicht hinreichend mit denen der Bildungsbehörde koordiniert sind, so dass genau das, was wir hier als einzig erfolgversprechendes Mittel debattiert und vorgeschlagen haben, nämlich eine vernetzte Arbeit der zuständigen Ressorts, und zwar nicht der Ressortspitzen an den Schreibtischen, sondern derjenigen, die vor Ort in den Stadtteilen arbeiten, kaum umgesetzt wurde. Davon ist bis heute leider erst sehr wenig zu sehen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)