Protocol of the Session on October 12, 2000

Meine Damen und Herren, die 25. Sitzung der Bürgerschaft (Landtag) ist eröffnet.

Ich begrüße die anwesenden Damen und Herren sowie die Zuhörer und die Vertreter der Presse. Auf dem Besucherrang begrüße ich herzlich eine Gruppe von Polizei- und Feuerwehrbeamten aus dem Bremer Westen.

(Beifall)

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Für Zivilcourage und Engagement gegen Extremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt

Antrag (Entschließung) der Fraktionen der SPD, der CDU und Bündnis 90/Die Grünen vom 10. Oktober 2000 (Drucksache 15/487)

Die Beratung ist eröffnet.

Das Wort hat der Abgeordnete Beckmeyer.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Dieses Parlament hat vor vier Wochen eine eindrucksvolle Debatte zu einem fast gleichen Thema geführt, „Demokratie, Menschenrechte und Toleranz, gegen Menschenverachtung, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt“, und hat auch einen wichtigen Beschluss zu diesem Thema gefasst. Gleichwohl sind in der letzten Woche mehrere Ereignisse geschehen, die dieses Parlament erneut zu interessieren haben.

Es muss uns bremische Abgeordnete alarmieren, wenn die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde dieser Stadt über die zunehmende Verunsicherung und Angst unter den in Bremen und Bremerhaven lebenden Juden spricht. Wer wie ich über Jahre die eindrucksvollen Begegnungen mit ehemals in Bremen und Bremerhaven wohnenden Juden erlebt hat, die Lebensgeschichte dieser verfolgten und gepeinigten Menschen gehört hat, ihre Furcht und Angst, die sie damals durchlebten, geschildert bekam, der weiß noch bewusster, solches Leid darf es in dieser Stadt Bremen und in Bremerhaven niemals wieder geben.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Der öffentliche Ruf der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Frau Elvira Noah, muss verstanden werden, und wir, die Mitglieder dieses Hauses, haben

ihn verstanden. Ich frage: Wer, wenn nicht wir, die wir als frei gewählte Abgeordnete dieses Landes Verantwortung tragen und im Auftrag der Bürgerinnen und Bürger in Bremen und Bremerhaven handeln, sollte überzeugend antworten mit einem unmissverständlichen Bekenntnis zu dieser Glaubensgemeinschaft? Wer jetzt in Bremen und Bremerhaven noch wegschaut nach dem Motto „Das betrifft mich ja nicht“, gibt ein dramatisch falsches Zeichen. Jeder Aufgeklärte weiß, nicht die Vernichtung der Juden stand am Anfang nationalsozialistischer Vorstellungen von einer deutschen Volksgemeinschaft, sondern die Ausgrenzung von Bürgern. In Bremen und Bremerhaven leben mehr als 1000 Personen jüdischen Glaubens. Sie haben wie alle Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch auf ein Leben ohne Angst in unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Diese Mitbürger jüdischen Glaubens dürfen nicht noch einmal das Vertrauen in dieses Land verlieren. Antisemitismus darf nicht zum Alltag in Bremen, in Bremerhaven und in Deutschland werden, und wir dürfen diese Mitbürger nicht mit ihren Ängsten allein lassen. Dafür haben wir alle aktiv einzustehen, mit der staatlichen Macht, aber auch mit der Macht eines jeden einzelnen Menschen in unseren beiden Städten, jederzeit den Mut und die Bereitschaft zu zeigen, sich entschlossen und solidarisch gegen die unsäglichen Erscheinungsformen dreister antijüdischer Gewalt zu stellen. Wir wollen, dass unsere jüdischen Mitbürger spüren, dass wir sie hier bei uns haben wollen, dass wir aufpassen, Schulter an Schulter an Schulter mit ihnen stehen. Es macht Mut, wenn in Bremerhaven gut 500 Schülerinnen und Schüler verschiedener Oberstufenzentren gegen die volksverhetzenden Nazischmierereien am Geschwister-Scholl-Schulzentrum und die Schändung des Gedenksteins der ehemaligen Bremerhavener Synagoge demonstrieren.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Wir bekunden Respekt und unsere Unterstützung für die von der Schülervertretung initiierte Aktion. Sie ist ein überzeugendes Signal dieser jungen Menschen, die Verantwortungsbewusstsein beweisen, die nicht wegsehen, die das Geschehene nicht einfach hinnehmen wollen. Ich sage für mich persönlich, ich habe Freude empfunden, als ich von der spontanen Schülerdemonstration hörte und tags darauf die Berichte in der Zeitung las. Die Schülerinnen und Schüler sollen wissen, dass dieses Parlament und die Öffentlichkeit in Bremerhaven und Bremen ihre Aktion schlicht richtig und gut finden.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Gleichzeitig erwarten wir, dass solche Schmierereien und Schändungen rasch aufgeklärt werden und die Täter zügig zur Verantwortung gezogen werden.

Zum Schluss: Hinsehen statt Wegsehen ist auch ein Motto des Bündnisses für Demokratie und Toleranz, das am 9. November 2000 mit einer Menschenkette quer durch Bremerhaven ein öffentliches Zeichen für mehr Solidarität in unserer Gesellschaft setzen will. Gemeinsam mit vielen Organisationen der Stadt will der Deutsche Gewerkschaftsbund unter der Schirmherrschaft des Bremerhavener Oberbürgermeisters zeigen, dass es gerade in Bremerhaven keinen Platz für Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus gibt und dass es keine Toleranz für Intoleranz geben kann.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Ich bin mir sicher, dass dieses Haus aus ganzem Herzen dieses Zeichen der Solidarität unterstützt, damit braune Gewalt keine Chance hat. – Herzlichen Dank!

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich sehr herzlich auf dem Besucherrang eine Gruppe Kommunalpolitiker aus Tirol begrüßen.

(Beifall)

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Güldner.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Lieber Herr Beckmeyer, vielen Dank für die Vorrede und für das Vorstellen des gemeinsamen Antrags von SPD, CDU und Grünen heute aus diesem sehr betrüblichen Anlass!

Lassen Sie uns noch einmal auf den aktuellen Anlass der Debatte schauen! Es gibt ja auch einen langfristigen Anlass, immer wieder darauf hinzuweisen, aber leider wurden wir in den letzten Tagen und Wochen mit sehr vielen Dingen konfrontiert, die uns heute bewogen haben, hier noch einmal das Parlament zu befassen. Anschläge auf Synagogen, Schändungen jüdischer Friedhöfe, in Bremerhaven – es ist gesagt worden – Schändung eines Gedenksteins, antisemitische Schmierereien. Es ist ein grauenvoller Gedanke, dass Juden in Deutschland wieder mit Angst in die Synagoge gehen und mit Angst ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

ihre Kinder in den Kindergarten schicken. Das darf schlichtweg in Deutschland nicht passieren!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde im Lande Bremen, Frau Noah, ist zitiert worden. Sie hat auch gesagt, und da kann man ihr nur zustimmen und braucht es nicht zu kommentieren, Düsseldorf ist viel zu nah an Bremen, als dass man das ignorieren könnte. Das müssen wir hier auch so aufnehmen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Lassen Sie mich an dieser Stelle aber noch einen kleinen Schlenker machen, der meiner Ansicht nach auch notwendig ist, betont zu werden! Es gab in den letzten Tagen auch Anschläge – Essen ist das Beispiel, das dafür steht, aber in Frankreich ist das noch ein ganz anderes Problem – und sogar sehr heftige Gewaltübergriffe auf Synagogen aus Demonstrationen heraus, die einen anderen politischen Anlass hatten, nämlich den Konflikt im Nahen Osten. Ich finde, wir sollten auch sagen, dass, egal aus welchem Anlass, egal wer es unternimmt, wir an dieser Stelle sagen, dass wir Angriffe auf Synagogen, egal welchen politischen Zusammenhang sie versuchen herzustellen, auf keinen Fall dulden, auch nicht in diesem Bereich!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Es war nach dem Düsseldorfer Anschlag sehr positiv, dass Politiker aller Parteien nicht nur in Bekundungen, sondern auch im praktischen Handeln sehr schnell reagiert haben und vor Ort waren. Der Bundeskanzler war vor Ort, aber auch Politiker aller anderen Parteien haben sehr schnell Präsenz gezeigt und ihre Solidarität ausgesprochen. Ich glaube, das ist genau der richtige Weg, um diese Dinge eindämmen zu helfen. Lassen Sie mich einen anderen Punkt ansprechen, der in diesem Zusammenhang sehr besorgniserregend ist und möglicherweise Wasser auf die Mühlen derer gießt, die dort so aus dem Ruder laufen, und zwar ist das der Punkt der Zwangsarbeiterentschädigungen, der leider immer noch nicht geklärt ist und wirklich droht, zu einer endlosen und, einmal vorsichtig ausgedrückt, sehr unbefriedigenden Geschichte zu werden, zumal wenn wir wissen, dass diejenigen, die dort begünstigt und für ihr Leiden kompensiert werden sollen, nun in einem gewissen Alter sind, in dem die Spanne relativ klein ist, in der sie das noch zu Lebzeiten empfangen können! Wenn ich heute höre, dass gestern aus der deutschen Wirtschaft heraus der seltene Ruf nach dem

Staat laut geworden ist, nun 1,8 Milliarden DM zuzuschießen, weil die Wirtschaft das nicht aufbringen könnte, dann muss ich auch sagen, das ist für mich in diesem Zusammenhang vollkommen unannehmbar. Wer sonst immer nach Privatisierung, nach Rückzug des Staates ruft und dann, wenn es etwas kostet, sagt, der Staat soll bezahlen, auch das kann so nicht sein!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Es ist sehr zu begrüßen, dass wir diesen Antrag gemeinsam vorgelegt haben und dass wir uns auch in Bremen mit diesem Thema befassen, weil auch Bremen nicht aus der Welt, sondern auch betroffen ist von antisemitischen Vorgängen, wir haben es von Herrn Beckmeyer gehört. Es ist heute auch eine ganz andere Situation als zum Beispiel vor zehn Jahren. Das muss hier auch noch einmal erwähnt werden. Vor zehn Jahren gab es eine ganz kleine jüdische Gemeinde von meistens schon älteren Menschen, die sich einmal die Woche zum Sabbat und vielleicht zu ein paar Festen getroffen hat. Heute haben wir nach der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion eine Situation, in der nicht nur über 1000 Menschen Mitglieder der jüdischen Gemeinde sind, sondern wo durch einen Kindergarten, Kinderhort, Seniorenclub, Jugendclub, Chor, Theatergruppe praktisch den ganzen Tag, sieben Tage die Woche Präsenz vor Ort ist. Das heißt natürlich, dass auch das Potential an Bedrohung sehr viel größer ist. Die Eltern der Kinder, das haben wir uns in den letzten Tagen immer wieder bestätigen lassen, sind sehr besorgt, mögen ihre Kinder nicht mehr in den Kindergarten schicken. Hier ist also den ganzen Tag über Gott sei Dank wieder Gemeindeleben entstanden, über das wir sehr froh und glücklich sind, und da wir sehr froh und glücklich über dieses neue Gemeindeleben sind, müssen wir es auch entsprechend schützen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Ich möchte auch die Reaktion in Bremen sehr positiv erwähnen, auch wieder über alle Parteien hinweg. Der neue Staatsrat des Innenressorts, Dr. Böse, hat sich sehr schnell vor Ort informiert und in Bezug auf die Sicherheitskonzepte Flagge gezeigt. Ich habe gehört, dass Senatorin Adolf den jüdischen Kindergarten, ich glaube, heute oder morgen besucht. Politiker aller Parteien haben sich durch Wort oder Präsenz vor Ort entsprechend geäußert. Wir Grünen werden nächste Woche einen Besuch bei der Gemeinde machen, und ich glaube, es ist der richtige Weg. Auch die beiden großen Kirchen haben sich entsprechend verhalten. Auch das sollte man an dieser Stelle würdigen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Man sollte auch positiv würdigen, dass bisher die Finanzierung der gemeindlichen Aktivitäten gerade im sozialen Bereich immer wieder, auch wenn es manchmal gehakt hat, gut geklappt hat und dass im nächsten Jahr zusätzlich eine Lehrerstelle finanziert werden soll, weil natürlich immer mehr Aufgaben hinzukommen, die aus eigenen Kräften gar nicht möglich sind, wenn man sieht, wie die Gemeinde anwächst.

Lassen Sie mich aber einen letzten Punkt ansprechen, der sozusagen noch der Vollendung harrt, der unserer Meinung nach jetzt in die Zeit sehr gut passen würde, wenn man ihn endlich lösen könnte! Bremen ist eines von nur vier Bundesländern neben Baden-Württemberg, Brandenburg und dem Saarland, das noch keinen Staatsvertrag mit der jüdischen Gemeinde unterschrieben hat. Zwölf andere Länder haben dies getan, und die jüdische Gemeinde hat immer wieder darum ersucht, dies endlich zu tun. Es muss klar sein, dass dies, und das muss man immer bedenken, keine finanzielle Mehrbelastung für unser Land bedeutet, sondern auf dem gleichen Niveau eigentlich festgeschrieben werden würde, was im Moment geleistet wird. Ich möchte sehr gern die beiden großen Fraktionen, ihre Vorsitzenden und auch die anderen Senatoren bitten, diese Frage im Senat oder in den entsprechenden Gremien noch einmal anzusprechen und darauf hinzuwirken, dass wir dies noch einmal überdenken.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Warum brauchen wir diesen Staatsvertrag unbedingt? Aus zwei Gründen: Erstens, er bietet der jüdischen Gemeinde langfristige Rechtssicherheit, die sie gerade in dieser Zeit unbedingt braucht, so dass sie nicht von Jahr zu Jahr befürchten muss, dass sie ihre Aktivitäten nicht mehr gestalten kann. Diese langfristige Rechtssicherheit wäre ein sehr positives Zeichen.

Es gibt aber einen viel wichtigeren Grund in dieser Zeit, auch aus dem Anlass heraus, warum wir heute hier zu dieser Debatte zusammengekommen sind: Es wäre gerade in der aktuellen Bedrohung und Stimmung ein hoch symbolisches Zeichen, jetzt als eines der letzten Bundesländer diesen Staatsvertrag zu unterschreiben. Gerade die vielen jüdischen Neubürger, die in den letzten zehn Jahren hierher gekommen sind, würden es sicher als ein sehr positives Zeichen dieses Bundeslandes sehen, wenn das jetzt endlich zustande käme.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wir befürworten den vorliegenden Antrag aus vollem Herzen. Also, grüne Forderung an das Rathaus: Wir möchten den Senat und die Senatskanzlei bitten, noch einmal alle Bedenken, die bisher gegen diesen Staatsvertrag standen, zu überprüfen,

mögliche rechtliche Unsicherheiten, die sich möglicherweise aus unserer bremischen Landesverfassung ergeben, aus dem Wege zu räumen und mit der Unterschrift unter diesen Staatsvertrag auch ein entsprechendes politisches Zeichen im Land Bremen zu setzen. – Vielen Dank!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als Nächster erhält das Wort der Abgeordnete Eckhoff.