Alles in allem: Das Übertrittsverfahren in Bayern ist verfassungskonform, leistungsgerecht und in unseren Augen pädagogisch sinnvoll, damit der richtige Weg. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist daher abzulehnen.
Danke schön, Frau Kollegin Trautner. – Die nächste Wortmeldung kommt vom Kollegen Piazolo. Bitte schön, Herr Piazo lo.
Sehr geehrte Frau Präsiden tin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema, das uns heute beschäftigt, ist eines, auf das man draußen vielfach angesprochen wird. Es ist eines, das viele Eltern umtreibt, und insofern ist es eines, bei dem es sich lohnt, durchaus auch jedes Jahr einmal darüber zu reden und eine Bestandsauf nahme vorzunehmen und vielleicht auch Druck abzu bauen. Ich glaube, die 22 Proben – es wurde inzwi schen ein bisschen verändert –, auch angekündigte, sind schon eine Belastung; das ist klar. Also macht es auch Sinn, darüber nachzudenken, ob man ein sol ches Verfahren ändern möchte.
Nächster Punkt: Verfassungswidrigkeit/Verfassungs mäßigkeit? – Es ist immer ganz erstaunlich: Die SPD weiß, das Ganze ist verfassungswidrig; die CSU weiß, es ist verfassungsgemäß. Ich sage ganz offen: Ich weiß es nicht. Es ist eine Grundrechtskollision zwi schen dem Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes, der sagt: Pflege und Erziehung sind grundsätzlich Sache der Eltern, und dem Artikel 7: Die Aufsicht über die Schule hat der Staat. Insofern bin ich sehr gespannt, wie das verfassungsrechtlich gesehen wird. Ich glau be, wie ich die Rechtsprechung des Bayerischen Ver fassungsgerichtshofs kenne, dass es ein bisschen schwierig wird, dass es eher als verfassungsgemäß angesehen wird. Aber selbst wenn es so ist, heißt das nicht, dass man nichts ändert.
Die Kollegin Trautner hat schon die Entzerrungen in der Vergangenheit angesprochen: Die Elternrechte sind gestärkt worden, die individuelle Förderung ist gestärkt worden, Probeunterricht ist eingeführt wor den, und auch die Durchlässigkeit insgesamt ist in Bayern inzwischen besser. Trotzdem glaube ich, dass
es verschiedene Gründe gibt, warum man zu der Auf fassung kommen kann, den Elternwillen freizugeben, aber auch Gründe dafür, warum nicht. Es gibt inzwi schen 14 Bundesländer, die machen es so. Ich glau be, das ist aber noch kein Argument, warum es alle so machen sollten. Die 14 Bundesländer können auch einen Fehler machen.
Die Stressminderung ist für mich ein ganz entschei dendes Argument. Allerdings ist natürlich immer die Frage, wenn wir den Stress durch Freigabe des El ternwillens in der vierten Klasse, vielleicht schon in der dritten Klasse, reduzieren, ob wir ihn in der fünften und sechsten Klasse potenzieren. Das sind Dinge, die man sich überlegen muss. Wir FREIE WÄHLER sind aber durchaus offen bei der Entscheidung. Es gibt dann sicherlich weniger Konflikte, gerade zwischen Lehrern und Eltern. Ich glaube, das wird sich reduzie ren. Allerdings meine ich schon, dass die Lehrer vor Ort die Fachleute sind; sie haben den Vergleich zwi schen den verschiedenen Kindern. Jedoch ist zu be denken, dass in der Erziehung durch die Eltern nicht immer auf die Fachleute Rücksicht genommen wird; die Eltern können grundsätzlich entscheiden, wie sich ihre Kinder entwickeln sollen. Wenn sich Eltern dazu entscheiden, ihr 15jähriges Kind nach Australien zu schicken, können sie das tun; dabei wird auch nicht nach dem Lehrerwillen gefragt; der ist dann auch nicht entscheidend.
Das Beispiel BadenWürttemberg, das den Elternwil len freigegeben hat, zeigt, dass die Veränderung nur 2 % betragen hat. Insofern ist es nicht ganz so ent scheidend, aber das gilt in beiden Richtungen. Das heißt, die Freigabe hat nicht viel verändert, es gibt keinen großen Unterschied zu bisher, als die Lehrer entschieden haben.
Für uns FREIE WÄHLER steht das Kindeswohl im Vordergrund. Dabei stellt sich natürlich die Frage: Was ist für das Kind das Beste? Das kann man viel leicht nicht pauschalisieren. Es gibt bei Freigabe des Elternwillens sicherlich Eltern, die ihr Kind auf eine Schule drängen, auf die es vielleicht gar nicht passt. Aber natürlich kann das auch passieren, wenn die Lehrer das in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Bildungsaspiration der jeweiligen Eltern tun. Ich könnte mir – darüber werden wir sicher noch im Aus schuss reden – auch vorstellen, dass man sich bei einer solchen Debatte noch einmal Fachleute anhört. Ansonsten sind wir FREIE WÄHLER – das sage ich ganz offen – noch nicht entschieden, wie wir verfah ren. Bis jetzt waren wir nicht für eine Veränderung des bisherigen Verfahrens. Aber in der Diskussion werden wir uns darüber noch einmal intensiv miteinander un terhalten. Ich bin auch offen für jedes neue Argument. Entscheidend ist jedenfalls das Kindeswohl.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn sich Dinge nicht än dern, muss man sie immer wieder nennen, damit sie sich irgendwann ändern. Ich weiß nicht, wie oft wir über das G 9 geredet haben, bis sich etwas geändert hat. Ich bin optimistisch, dass sich auch das Über trittsverfahren ändert. Deswegen werden wir auch dem Gesetzentwurf der SPD wohlwollend beitreten und ihm zustimmen. Wenn er von der CSU käme, würden wir ihm auch zustimmen; denn wir entschei den sachgerecht und nicht nach parteipolitischer Prä ferenz.
Beim Betrachten der Situation müssen wir einfach feststellen, dass der Übertritt im bayerischen Bil dungssystem eine Schlüsselstelle ist. Zugleich ist er eine große Schwachstelle. Wenn aber eine Schlüssel stelle eine Schwachstelle ist, haben wir ein Problem. Das spüren vor allem die Kinder, die Schülerinnen und Schüler in der dritten und vierten Klasse der Grundschule. Sie empfinden Stress, sie erleben Druck, sie erleben Benachteiligungen, und sie erleben Versagen, weil sie etwas nicht können. Das sind Dinge, die man sich merkt und die man sein ganzes Leben lang im Hinterkopf behält. Die Würzburger Stu die, auf die die SPD in ihrem Gesetzentwurf hinweist, macht sehr deutlich, dass der Stress der Kinder in Bayern höher ist als in anderen Bundesländern. Wir wissen das auch aus Umfragen von Krankenkassen. Das Übertrittsverfahren macht erstens auf Kinder, auf Schülerinnen und Schüler Druck, der schlecht ist.
Zweitens macht es Stress bei den Eltern. Tatsächlich machen auch Eltern Stress. Auch das liegt wieder an dem Übertrittsverfahren. Die Eltern werden wir nicht ändern; aber wir werden das Übertrittsverfahren än dern können. Dann werden wir auch ein verändertes Verhalten der Eltern wahrnehmen können. Das Über trittsverfahren schädigt die pädagogische Arbeit der Lehrkräfte. Es durchkreuzt tagtäglich eine gute Grundschulpädagogik an vielen Grundschulen in die sem Land. Deswegen muss das Übertrittsverfahren geändert werden. Denn es ist weder kindgerecht – ich nenne die Stichworte Stress und Druck – noch bega bungsgerecht. Welche Begabung wird da getestet? Wer ist für das Gymnasium begabt? Wenn das so ist, muss man sagen: Zwei Drittel der Oberbayern sind begabt, und zwei Drittel der Niederbayern nicht. Das
sagt nämlich das Ergebnis des Übertrittsverfahrens. Ich weiß nicht, ob es in der CSUFraktion auch so ge sehen wird, dass die Oberbayern und die Niederbay ern so unterschiedlich begabt sind. In der GRÜNEN Landtagsfraktion haben wir diesen Eindruck nicht; da sind alle gut begabt. Aber vielleicht bei Ihnen nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen muss das Übertrittsverfahren geändert werden. Denn es ist nicht nur nicht kindgerecht und nicht begabungsgerecht, sondern es ist auch nicht gerecht.
Denn in keinem anderen Bundesland – das besagt die IGLUStudie – hängt der Übertritt so sehr vom fa miliären Hintergrund ab wie in Bayern.
Dies ist nicht trotz dieses Verfahrens, sondern mit die sem Verfahren so. Deswegen gilt es, dieses Verfah ren zu ändern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Weg, auf dem dies geht, sehen wir heute an unseren Grundschulen. In allen Grundschulen in Bayern gibt es nämlich mitt lerweile die Möglichkeit der Leistungsfeststellungsge spräche, bei denen die Lehrkraft, die Eltern und die Schülerinnen und Schüler an einem Tisch sitzen und über die Leistung reden. Das ist anstelle des Zwi schenzeugnisses möglich – es ist eine Maßnahme der Staatsregierung –, und wir stellen fest, dass das an vielen Schulen gemacht wird, dass die Möglichkeit von den Schülerinnen und Schülern positiv angenom men wird, weil sie sich wahrgenommen fühlen, dass sich Eltern ernst genommen fühlen und dass die Mög lichkeit von den Lehrkräften positiv wahrgenommen wird. Dort wird geredet: Wo sind die Stärken, wo sind die Schwächen? Was muss besser gemacht werden? Wohin geht es, und was ist die Perspektive? Aber mit diesem guten Instrument ist es nach der dritten Klas se vorbei; denn in der vierten Klasse kommt ja das komische Übertrittsverfahren. Warum kann man also ein solches Leistungsfeststellungsgespräch nicht auch in der vierten Klasse führen? Warum kann man es nicht beim Übertritt führen? Dann gibt es ein klares Beratungsgespräch, und die Grundschullehrerinnen und lehrer fühlen sich in ihrer Kompetenz tatsächlich ernst genommen. Dann werden die Eltern entschei den können, und dann werden wir einen guten Weg gehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns im Ausschuss nicht über ein Verfahren nach dem alten Muster, sondern in diese Richtung diskutieren.
Zum Schluss noch eine Aussage, weil mich jedes Jahr etwas ärgert. Jedes Jahr kommt die Umfrage des Kultusministeriums zur Zufriedenheit der Eltern mit dem Übertrittsverfahren. Bei dem, was ich jetzt sage, muss ich vorsichtig sein. Aber ich muss einfach sagen, dass die Pressemitteilung des Kultusministe riums dazu nicht der Wahrheit entspricht. In diesen Umfragen wird nicht gefragt: Liebe Eltern, wie finden Sie das Übertrittsverfahren? Da wird nicht gefragt: Wie finden Sie das mit dem Notendurchschnitt von 2,33?
Das wird nicht gefragt. Es wird gefragt: Wie finden Sie die Informationsveranstaltungen? Wer ist dagegen, dass es Informationsveranstaltungen gibt? Da wird gefragt: Wie finden Sie den Prüfungszeitraum? Rela tiv viele Eltern sind dafür. Aber die Grundfrage, ob die Eltern das Übertrittsverfahren gut finden oder nicht, wird in dieser Umfrage nicht gestellt. Deswegen ist es wirklich unsäglich, sich immer wieder auf diese Um frage zu beziehen. Zumindest Sie als Abgeordnete sollten das nicht tun.
Danke schön, Herr Kollege Gehring. Bleiben Sie bitte noch am Mik rofon. Zu einer Zwischenbemerkung hat sich die Kol legin BrendelFischer gemeldet. Bitte schön.
Herr Gehring, ich bin nicht aus Nie derbayern. Aber mich würde doch interessieren, wie Sie die erfolgreiche Entwicklung des Regierungsbe zirks Niederbayern sehen. Denn Sie haben es gerade so dargestellt, als würde die niedrige Übertrittsquote aufs Gymnasium
quasi einen großen Nachteil für diesen Regierungsbe zirk darstellen. Sie sehen also das Gymnasium als den absoluten Königsweg und für die Menschen, die diesen Weg nicht gehen, anscheinend wenig Erfolgs perspektive. Wie erklären Sie mir dann das tolle Mo dell Niederbayern?
Es ist doch schön, wenn wir als Franken und Schwaben jetzt die Niederbayern loben. Tatsächlich leisten die Niederbayern tolle Dinge. Auch die, die nicht auf das Gymnasium gehen, leisten tolle Dinge. Sie haben mich wieder einmal be
wusst missverstanden. Ich zitiere ja nur das, was das Übertrittsverfahren aussagt. Es besagt: begabt fürs Gymnasium: ja oder nein. Mir kann kein Mensch er zählen, dass die Begabung fürs Gymnasium in Bay ern so unterschiedlich verteilt ist. Das hat gar nichts mit dem zu tun, was die Leute dann machen, ob sie aufs Gymnasium übertreten oder nicht. Es geht um die Attestierung, um das, was die Schüler von den Schulen bekommen: Ihr seid begabt oder nicht be gabt. Das ist unterschiedlich verteilt.
Da muss ich sagen, eine solche Begabungszuwei sung kann doch nicht in Ordnung sein. Gerade weil die Niederbayern, wie ich glaube, ziemlich viel auf der Platte haben, sind sie begabter, als ihnen das Über trittsverfahren zumisst. Das Problem haben also nicht die Niederbayern, das Problem hat das Übertrittsver fahren. Aber ich denke, Sie werden das sicher sehen, wenn Sie einmal nachschauen, wie man das auch an ders regeln kann. In anderen Bundesländern wird es, wie gesagt, anders geregelt. Es geht hier nicht um die Übertrittsquote, sondern darum, ob die Leute das Eti kett "Übertritt ja" oder "Übertritt nein" bekommen. Bei 2,33 entscheidet sich das Ja oder Nein. Wenn eine Note so unterschiedlich verteilt ist, ist das ein Problem der Note und der Notengebung und nicht der Men schen. Insofern kann ich Ihnen eigentlich nur sagen: Toll, was die Niederbayern machen, und toll, was die anderen Bundesländer machen; aber schlecht, was das Kultusministerium macht.
Danke schön, Herr Kollege Gehring. – Die Aussprache ist geschlos sen. Ich schlage vor, den Gesetzentwurf dem Aus schuss für Bildung und Kultus als federführendem Ausschuss zu überweisen. Besteht damit Einver ständnis? – Das ist der Fall. Dann ist das so be schlossen.
Abstimmung über Anträge, die gemäß § 59 Abs. 7 der Geschäftsordnung nicht einzeln beraten werden (s. Anlage 1)
Hinsichtlich der jeweiligen Abstimmungsgrundlagen mit den einzelnen Voten der Fraktionen verweise ich auf die Ihnen vorliegende Liste.
Wer mit der Übernahme des jeweils maßgeblichen Ausschussvotums entsprechend der aufgelegten Liste einverstanden ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Fraktionen der CSU, der SPD, der
FREIEN WÄHLER und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN. Gibt es Gegenstimmen? – Keine Ge genstimmen. Enthaltungen? – Auch nicht. Dann über nimmt der Landtag diese Voten.
Interpellation der Abgeordneten Hubert Aiwanger, Florian Streibl, Prof. Dr. Michael Piazolo u. a. und Fraktion (FREIE WÄHLER) Studieren 2020 (Drs. 17/15411)
Ich eröffne die Aussprache. Die Gesamtredezeit der Fraktionen beträgt nach der Geschäftsordnung 72 Mi nuten. Gemäß § 68 Absatz 2 Satz 3 der Geschäfts ordnung hat in der Aussprache die interpellierende Fraktion das erste Wort. In diesem Fall ist also zu nächst einer Rednerin bzw. einem Redner der Frak tion FREIE WÄHLER das Wort zu erteilen.
Sehr geehrte Frau Präsiden tin, sehr geehrte Damen und Herren und liebe Kolle gen auch aus dem Hochschulausschuss!
Doch; es sind schon noch ein paar mehr da. Auch die Zuschauertribüne ist besetzt. Insofern freue ich mich, dass wir uns heute etwas länger über die Hoch schulpolitik unterhalten können. Das gelingt ja nicht immer.