Protocol of the Session on July 15, 2010

(Georg Schmid (CSU): Sie reden alles schlecht!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, darf ich mit dem Bayerischen Bildungsbericht fortfahren? Jeder sechste junge Mensch zwischen 20 und 30 Jahren hat keinen Berufsabschluss. Toll, leistungsstarkes Bildungswesen, Glückwunsch! Hinzu kommt, die Situation für 20und 30-Jährige mit Migrationshintergrund ist besonders dramatisch. Ein Drittel aller jungen Menschen mit Migrationshintergrund hat keinen Berufsabschluss und qualifiziert sich nicht weiter. Dies gilt für Bayern und nicht für Deutschland. Wollen Sie das weiter hinnehmen? Übrigens sind diese Zahlen nicht neu, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dazu zitiere ich die starken Sprüche der vergangenen Regierungserklärungen vor fünf und vor acht Jahren. Zu diesen Zeitpunkten hätten die Zahlen schon auf den Tisch gelegt werden können. Immer wieder höre ich: Wir sind auf einem guten Weg; wir werden massiv verbessern. Wann erreichen Sie mit Ihrem Weg endlich das Ziel? Wann finden Sie eine Lösung für diese bayerischen bildungspolitischen Probleme?

Ich möchte ein paar Sätze zur Bildungsungerechtigkeit in Bezug auf die Migrationskinder sagen. Die Chancen von Kindern mit Migrationshintergrund sind unabhängig von ihren Fähigkeiten - von wegen individuelle Förderung - nur aufgrund ihres Migrationshintergrundes 3,5-mal geringer als bei deutschen Kindern. Kolleginnen und Kollegen, Sie diskriminieren eine ganze Gruppe in diesem Land bereits seit vielen Jahren. Sie erklären jedes Jahr stupide und langweilig

aufs Neue, dass wir leistungsstark seien und die beste Teilhabegerechtigkeit hätten. Mit dieser Strategie der Bildungspolitik werden Sie nicht weit kommen.

Nun möchte ich auf Ihre Aussage, das individuelle Bildungspotenzial werde unabhängig von der jeweiligen sozialen Herkunft ausgeschöpft, eingehen. Ich bin angesichts einer solchen Sprücheklopferei sprachlos. Das ist heiße Luft. Seit zehn Jahren erklären Sie das Gleiche. Können Sie mir erklären, wie individuelles Bildungspotenzial ausgeschöpft werden kann, wenn die Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder durch ein von Ihnen unterstütztes formal strukturiertes Bildungssystem konsequent missachtet werden? Glauben Sie wirklich, das individuelle Bildungspotenzial junger Menschen wäre dann ausgeschöpft, wenn man sie mit der Brechstange ab dem 10. Lebensjahr in verschiedene Schularten hineinselektiert? Glauben Sie, damit wird das individuelle Bildungspotenzial ausgeschöpft?

(Beifall bei der SPD)

Kolleginnen und Kollegen, da sind Sie massiv auf dem Holzweg. Diese Selektion widerspricht dem Grundsatz der individuellen Förderung. Für sie gibt es keinerlei pädagogische Begründung in ganz Deutschland und ganz Europa. Das ist eine rein ideologisch begründete Schulstruktur. Mit dieser Aufteilung treiben Sie es auf die Spitze. Die CSU kann nun wirklich nichts dafür. Das will ich gerne zugeben.

Sie haben eine Gelenkklasse eingeführt. Die Schulen und die Eltern sind sprachlos. Die Gelenkklasse ist die einzige Innovation, die von der FDP übrig geblieben ist, nachdem sie versprochen hat: Wir sind der größte Kontrast zur CSU nach der Landtagswahl. Wissen Sie, wie das mit der Gelenkklasse geht? Wir selektieren im zehnten Lebensjahr durch Übertrittszeugnis - 2,33/2,66 -, dann gehen die Kinder in eine andere Schulart, je nachdem, und die fünfte Jahrgangsstufe wird zur Gelenkklasse. Das geht so: Nach dem Halbjahr werden die Kinder erneut überprüft, ob sie eine andere Schulart besuchen können oder ob die Schulart, in der sie sind, richtig gewählt wurde. Das übrigens zum Thema Übertrittszeugnis. Man muss das Übertrittszeugnis in der fünften Jahrgangsstufe jetzt also erneut überprüfen. Schaffen Sie es gleich ab; dann brauchen Sie diese Überprüfung nicht.

(Beifall der Abgeordneten Isabell Zacharias (SPD))

Was ist die Konsequenz? - Sie werden den Leistungsdruck in der fünften Jahrgangsstufe verdoppeln, Sie werden den Nachhilfebedarf in der fünften Jahrgangsstufe verdoppeln, Sie werden dafür sorgen, dass sich

Leistungsdruck und Schulstress nicht nur ab der dritten Jahrgangsstufe ergeben, sondern sich bis in die fünfte Jahrgangsstufe hineinziehen. Das ist die Konsequenz Ihrer Gelenkklasse. Das ist der Schmarrn des Jahres, würde ich dazu sagen.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Teilhabegerechtigkeit habe ich schon geredet. Ich will ein paar Sätze zur Frage der Abschlüsse sagen.

Lieber Herr Staatsminister, Sie haben erklärt, ein Drittel der mittleren Schulabschlüsse komme nicht aus Real- und Wirtschaftsschule, sondern vom M-Zweig. In einem anderen Zusammenhang erklären Sie, dass die meisten Kinder mit Migrationshintergrund die Berufliche Oberschule wählen, und loben sich auch noch dafür. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dahinter ist doch eine Botschaft. Die Botschaft ist ganz eindeutig: Für Kinder mit Migrationshintergrund gibt es den Weg der Beruflichen Oberschule, und für die anderen gibt es den Weg des Gymnasiums.

(Renate Dodell (CSU): So ein Quatsch!)

Was Sie hier treiben, ist eine Aufteilung der Menschen in zwei Klassen.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der CSU)

Und dafür loben Sie sich auch noch. Ich sage Ihnen: Sie sollten etwas demütiger sein.

Intensivierungsstunden. - Sie sagen: Am Gymnasium haben sich die Intensivierungsstunden hervorragend bewährt. Ich darf Ihnen sagen: Am Gymnasium gibt es drei Intensivierungsstunden. Diese Intensivierungsstunden - das hat Spaenle indirekt auch zugegeben werden mittlerweile dazu genutzt, Unterrichtsausfall auszugleichen, sie werden zur Hausaufgabenbetreuung oder für allgemeine Betreuung genutzt. Von Intensivierung kann im Großen und Ganzen überhaupt nicht die Rede sein, auch wenn Sie das hier immer wieder erwähnen und es den Menschen weismachen wollen. Das wissen Sie auch selber.

(Zurufe von der CSU)

Dann kommt die zweite Intensivierungsstunde. Herzlichen Glückwunsch! Für Hauptschule und Mittelschule geben Sie ab dem fünften Schuljahr künftig eine Förderstunde. Ich bin richtig baff ob Ihrer Kraft, die Sie hier an den Tag legen. Ich bin richtig erschrocken vor der Massivität, mit der Sie hier Stunden zuschalten.

(Zurufe von der CSU)

Eine einzige Förderstunde! Wollen Sie sich denn mit einer solchen Strategie in den Schulen ganz lächerlich machen? Und das erwähnen Sie auch noch lobend. Herr Ministerpräsident, eine Förderstunde! Sie wären der Erste, der in Berlin auf die Barrikaden ginge, würde dies eine andere Regierung beschließen.

(Zurufe von der CSU)

Hinsichtlich der Realschule formulieren Sie, Sie wollten einen bedarfsorientierten Ergänzungsunterricht einführen. Was ist jetzt das? Im Erfinden von neuen Wörtern sind Sie wirklich Weltmeister. Da gibt es eine Trias, ein magisches Viereck, einen bedarfsorientierten Ergänzungsunterricht - ich habe mir das aufgeschrieben -, eine Kommunikationsstrategie. Ich gebe Ihnen einen guten Rat. Das habe ich gestern schon getan. Vielleicht wollen Sie ihn annehmen. Lassen Sie das Erfinden von neuen Wörtern sein und machen Sie die Klassen kleiner. Das wäre eine echte Alternative.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der CSU)

Lassen Sie das Erfinden von neuen Wörtern sein und stellen Sie mehr Lehrer ein. Lassen Sie das Erfinden von neuen Wörtern sein und entfristen Sie die 1.500 befristeten Arbeitsverhältnisse an den bayerischen Schulen. Dann würden auch wir Beifall klatschen. Alles andere ist Humbug.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der SPD: Bravo!)

Ich komme zu einem weiteren Punkt. Auch insoweit muss man wirklich einmal entzaubern. Formulierung Staatsregierung: Wir treiben den Ausbau der Ganztagsschulen in staatlicher Trägerschaft weiterhin massiv voran. Wir haben im Jahr 2009/2010 617 Ganztagsschulen eingerichtet, sagt Spaenle, und Sie klatschen. Auch da lügen Sie die Menschen an. In Wahrheit sind es 617 Klassen und keine Schulen. Sie erwecken immer den Eindruck, als würden Sie die Schullandschaft umkrempeln. Sie geben ein paar Klassen ein Ganztagsschulangebot und behaupten, dies sei eine massive Ausweitung, und sagen dann noch Folgendes: 206 neue Klassen - übrigens bei 5.000 Schulen - seien 50 % Steigerung, und Sie alle klatschen.

(Zurufe von der SPD: Wahnsinn! - Das ist ver- rückt!)

Soll ich Ihnen einmal eine andere Rechnung aufmachen? In Bayern gibt es 52.883 Klassen. Ihr Ausbau um 206 ist ein Ausbau von 0,3 %.

(Christa Naaß (SPD): Wow!)

Ist das Ihr massiver Ausbau von Ganztagsklassen? Halleluja, kann ich da nur sagen!

(Beifall bei der SPD)

Ich darf Ihnen vielleicht die absoluten Zahlen nennen. An hundert Grundschulen haben Sie gebundene Ganztagsklassen, an zwölf Gymnasien haben Sie gebundene Ganztagsklassen, an zehn Realschulen haben Sie gebundene Ganztagsklassen. Und da trauen Sie sich, hier zu sagen: Wir treiben das massiv voran.

Dieselbe Formulierung habe ich übrigens in einer Regierungserklärung des Herrn Staatsminister Schneider von vor fünf Jahren gefunden. Darin stand das Gleiche. Vielleicht schreiben Sie ja die Regierungserklärungen ab. Was bleibt Ihnen auch anderes übrig, wenn Sie nichts Neues verkünden können? Dann müssen Sie halt von den letzten Regierungserklärungen abschreiben.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der CSU)

Darin war dieselbe Formulierung enthalten: Wir treiben das massiv voran. Glückwunsch, das haben Sie wirklich gut hinbekommen!

Zu den offenen Ganztagsangeboten darf ich Ihnen auch sagen: Sie loben sich selber für ein offenes Ganztagsangebot für 60.000 Schülerinnen und Schüler. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt 1,8 Millionen Schülerinnen und Schüler. Ihr Ausbau offener Ganztagsangebote beträgt in Bayern 3,1 %. Kolleginnen und Kollegen, wenn das Ihr Verständnis von massivem Ausbau ist, dann gute Nacht! Dann warten wir bis zum nächsten Jahrtausend, bis sich an Bayerns Schulen irgendetwas verändert.

(Zurufe von der CSU)

Ich habe gelesen, im Schuljahr 2011/2012 solle der Ausbau gebundener Ganztagsschulen an Real- und Wirtschaftsschulen und an Gymnasien beginnen. Ich bin sehr gespannt, wie viele Lehrerstellen mehr im kommenden Doppelhaushalt - dort müssen Sie es für 2011/2012 hineinschreiben - enthalten sind, um die Ganztagsschule an Realschulen, Gymnasien und Wirtschaftsschulen auszubauen.

(Zurufe von der CSU)

Ich befürchte, es ist gar nichts enthalten; denn bei Ihrer Definition eines massiven Ausbaus genügen fünf Lehrer. Das fällt nicht ins Gewicht. Wenn das massiv ist, herzlichen Glückwunsch!

Ich will zum Schluss kurz auf die Frage der Migration zurückkommen. Es stimmt: Wir haben bei der Migrationsfrage und in Bezug auf die Bildungsgerechtigkeit kein gutes, aber auch kein miserabel schlechtes Ergebnis in Bayern. Nur, auf einen Umstand gehen Sie natürlich nicht ein. Das verschweigen Sie auch: Die Kluft zwischen der Teilhabe von deutschen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund, das Auseinanderdriften dieser beiden Gruppen, ist in keinem einzigen deutschen Bundesland so massiv wie in Bayern. Das heißt, der Unterschied zwischen der Teilhabegerechtigkeit deutscher Kinder und Migrationskinder ist in Bayern massiv schlechter, obwohl sich Bayern insgesamt etwas besser stellt. Es hilft auch nicht, wenn Sie behaupten, das stimme nicht. Dann sage ich Ihnen ganz einfach: Lesen Sie Ihre eigenen Berichte.

Zum Schluss: Herr Spaenle, Sie haben gesagt: Wenn wir aufgrund neuerer Erkenntnisse einen Nachsteuerungsbedarf sehen, handeln wir konsequent. Ich befürchte, dass Sie auf dem Auge blind sind, mit dem man einen Nachsteuerungsbedarf feststellen kann, und fordere Sie auf: Handeln Sie wirklich konsequent, aber verschließen Sie die Augen nicht vor dem echten Problem und verwenden Sie nicht jede bundesweite Vergleichsstudie dazu, eine Propaganda à la CSU zu betreiben.

(Anhaltender Beifall bei der SPD)

Als Nächster hat der Kollege Georg Eisenreich das Wort.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! So richtig kraftvoll, Herr Pfaffmann, war Ihr Beitrag auch nicht.

(Beifall bei der CSU)

Für den erwarteten Generalangriff auf die bayerische Bildungspolitik war er nicht kraftvoll. Es fehlen aber auch die richtigen Argumente dafür.

(Beifall bei der CSU)