Protocol of the Session on May 7, 2009

Ich darf bei dem Satz bleiben: "Bayern steht für Deregulierung." Wir haben uns in der letzten Sitzung darüber ausgetauscht, ob die Breitbandinitiative ein Bürokratiemonster ist. Herr Kollege Förster hat vorhin zu Recht die Verteilung der Mittel aus dem Konjunkturpaket II angesprochen. Ich bitte doch, zuerst einmal vor der eigenen Haustür zu kehren.

(Beifall bei den GRÜNEN und des Abgeordneten Dr. Linus Förster (SPD))

Geradezu grandiose Beispiele für Ihr Hin und Her und die Tatsache, dass Sie in Brüssel so und woanders anders reden, sind der Beitritt von Rumänien und Bulgarien und der mögliche Beitritt der Türkei zur EU. Die Diskussion über den Beitritt Rumäniens und Bulgariens ist gar nicht so lang her. Ich kann mich erinnern, dass CSU-Politiker hier und auch in Brüssel gesagt haben, diese Länder wären noch nicht weit genug, man werde einen Antrag stellen, dass der Beitritt noch nicht stattfindet. Stellen wollte man den Antrag über die Schiene der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament. Den Antrag gab es tatsächlich, aber sehen Sie bitte im Protokoll nach, wer ihn tatsächlich gestellt hat. Den Antrag hat die Fraktion der GRÜNEN im Europäischen Parlament gestellt. Die CSU-Abgeordneten im Europäischen Parlament waren froh, unter den Rock der Fraktion der GRÜNEN schlüpfen zu können.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Frau Ministerin Müller, was die Türkei betrifft, darf ich Sie zitieren. Sie haben gerade gesagt:

Seit 40 Jahren will sich die Türkei in Europa integrieren. Sie hat es seitdem aber nicht geschafft,

fundamentale Menschenrechte oder Pressefreiheit zu akzeptieren oder die Kurdenfrage zu lösen.

- Hat die Türkei das vor zehn Jahren geschafft, Frau Ministerin Müller? - Nein, sie hat es auch nicht geschafft. Aber vor zehn Jahren waren Sie in Deutschland der größte Trommler für einen Beitritt der Türkei zur EU. Über viele Jahre hinweg war die CSU die politische Kraft, die sich am heftigsten für einen EU-Beitritt der Türkei eingesetzt hat.

Frau Kollegin Pauli - ich sehe Sie gerade nicht - muss man in einem Punkt korrigieren. Sie hat gesagt, die Kriterien wären bereits erfüllt. Es ist aber ganz klar, dass die Türkei aktuell noch meilenweit von der Beitrittsreife entfernt ist. Es gibt den "Acquis communautaire" und die Kopenhagener Kriterien, die es abzuarbeiten gilt. Wir sagen aber ganz klar: Pacta sunt servanda. Jetzt die Tür zuzuschlagen und das, was zugesichert worden ist zurückzunehmen, das wollen wir nicht; denn damit würde gewaltiger Schaden angerichtet.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich darf Ihnen aus einer Presseerklärung vorlesen. Dort heißt es:

Die Türkei darf auf dem Weg nach Europa nicht diskriminiert werden. Es dient nicht europäischen Interessen, wenn die Türkei auf ihrem Weg nach Europa durch Übertaktieren vor den Kopf gestoßen wird. Für Europa und die Türkei muss klar sein, dass ein türkischer Beitrittsantrag grundsätzlich an den gleichen Kriterien gemessen wird wie der jedes anderen europäischen Staates.

Ich fahre mit dem Zitat fort:

Angesichts der Dimension ist die Heranführung der Türkei an Europa sicher eine größere und schwierigere Aufgabe als in jedem anderen Fall. Das kann aber nur bedeuten, dass die Anstrengungen größer, die Fristen großzügiger bemessen sein müssen. Am Ziel darf es keinen Zweifel geben. Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei in Europa zu sehen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das ist eine Pressemitteilung der CSU-Landesgruppe. Das Zitat stammt von Michael Glos in den Endzeiten der vorletzten Regierung unter Ihrer Beteiligung, also im Dezember 1997. Er hat gesagt, es ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, aber er hat auch gesagt, die Türkei ist ein europäisches Land, was hier immer bestritten wird. Er hat aber vor allem auch gesagt, der Beitritt sei im deutschen Interesse. Meine Damen und Herren, dann bleiben Sie doch bei Ihren Positionen und

betreiben Sie nicht aus Wahlkampfgründen billigen Populismus.

Zu den Einsatzdefiziten - das ist jetzt meine zweite Überschrift. Die erste Überschrift war, wie Sie hoffentlich herausgehört haben: Brummkreisel, das Hin und Her, Herumtaktieren, mal so, mal so, je nachdem, wo man gerade spricht und wann man spricht.

Zu den Einsatzdefiziten könnten wir jetzt viel ausführen: zur Umweltschutzpolitik, zur Verbraucherschutzpolitik. Da haben wir nicht das entsprechende Anschieben aus Bayern, seitens der CSU, in Richtung Brüssel gesehen. Das Gleiche gilt für den Anlegerschutz, beispielsweise für die Finanzmarktregeln. Ich mag aber nur ein Kapitel etwas detaillierter ausführen, nachdem es hier auch angesprochen worden ist und nachdem falsche Dinge behauptet worden sind: Das sind die kommunale Selbstverwaltung und die kommunale Daseinsvorsorge.

Sie erinnern sich hoffentlich: Im Dezember 2003 gab es zu diesem Thema den ersten hier diskutierten Antrag zum - wie er damals hieß - Verfassungsvertrag. Er stammte - wie kann es auch anders sein? - aus der grünen Fraktion und hieß "EU-Verfassungsvertrag kein explizites Recht zur europäischen Gesetzgebung im Bereich der Daseinsvorsorge". Dieser Antrag ist erfreulicherweise - einstimmig angenommen worden, aber die Staatsregierung hat sich dann eben nicht entsprechend "eingespreizt", hat nicht den entsprechenden Einsatz gebracht, um das, was eigentlich hier beschlossen worden ist, auch durchzudrücken.

Im Februar 2008 beispielsweise haben wir noch einmal die gleiche Causa auf die Tagesordnung hier setzen lassen. Damals haben wir in einem Dringlichkeitsantrag gefordert:

Die Staatsregierung wird aufgefordert, sich unverzüglich über den Bundesrat und auf allen ihr ansonsten zur Verfügung stehenden Wegen dafür einzusetzen, dass die Möglichkeiten der Organe der EU, horizontal in Angelegenheiten der kommunalen Daseinsvorsorge hineinzuregieren, verhindert bzw. begrenzt werden.

Auch da - bedauerlicherweise - wieder Fehlanzeige. Jetzt, im Vertrag von Lissabon, finden wir zum ersten Mal exakt die Möglichkeit, dass hier horizontal hineinregiert wird. Ich kann auch den Wortlaut vortragen. Im EGV - er heißt ja dann anders: Vertrag über die Zusammenarbeit der Organe der Union - gibt es den Artikel 16 bzw. die Ergänzung des alten Artikel 16, der lautet:

Diese Grundsätze und Bedingungen werden vom Europäischen Parlament und vom Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren festgelegt.

Das Problem ist - das wissen Sie, Frau Kollegin Müller: Es geht hier immer um die Definitionen: Was sind Dienste von allgemeinem Interesse, was sind nicht-wirtschaftliche Dienstleistungen auf der anderen Seite? Da ist die Union und da ist die Kommission immer sehr schnell dabei, Dinge, von denen wir sagen, die wollen wir ganz ausschließlich selber geregelt wissen, in die andere Kategorie hineinzudefinieren, also als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse.

Ich erinnere hier an die Mitteilung der Kommission vom - wie ich glaube - vorletzten November, in der es um die Sozialdienstleistungen ging. Da haben sie dann aber irgendwann auch einmal Wasser und andere Kategorien in die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse hineingerechnet.

Da, meinen wir, ist einfach die entsprechende Formulierung nicht hinnehmbar und wird uns - bedauerlicherweise - vor große Probleme stellen.

Wir alle wissen, dass europäische Regelungen immer mehr und mehr das Handeln in und von Kommunen bestimmen: Die Binnenmarktregeln mit dem Zug zur Liberalisierung und partiell auch zur Privatisierung, das strikte Beihilferegime, das Wettbewerbs- und Vergaberecht zwängen die kommunale Selbstverwaltung mehr und mehr in ein enges Korsett. Beispiel: In-Haus-Vergaben sind ohne vorherigen Wettbewerb nur mehr dann zulässig, wenn die Kommune als Auftraggeber die auftragnehmende Einrichtung auch zur Gänze wie ein eigenes Amt beherrschen kann und wenn gleichzeitig der kommunale Auftragnehmer hauptsächlich für die öffentliche Hand seine Aufgaben erbringt.

Es gibt andere Beispiele wie die interkommunale Kooperation, also beispielsweise Zweckvereinbarungen, Zweckverbände. Das ist doch eigentlich nichts anderes als Aufgabendelegation, trotzdem soll es nach dem Willen der Kommission mehr und mehr wie eine Vergabe behandelt werden. Da - meinen wir - müssen wir gemeinsam aufmerksam sein und immer wieder dort, wo es angesagt ist, gegenhalten.

Nachdem ich an dieser Stelle schon einige wenige Ausführungen zum Vertrag von Lissabon gemacht habe, nur noch einige weitere Gedanken in ein paar Überschriften. Wir haben immer gesagt: Es gibt in diesem Vertragswerk viele sinnvolle Regelungen, aber es gibt auch Dinge, die wir nicht hinnehmen. Deswegen haben wir ja auch Ihren beiden - SPD und CSU - Jubelanträgen hier im Bayerischen Landtag nicht zustimmen können.

Kritische Punkte haben Sie, Frau Kollegin Männle, angesprochen, aber nicht hinreichend, meine ich. So werden die Demokratiedefizite meines Erachtens nicht ausreichend geheilt, indem ich den Katalog des Mitentscheidungsverfahrens erweitere. Wir sagen: Da, wo wir wirklich vergemeinschaftete Zuständigkeiten haben wollen, wollen wir ein Initiativrecht für das Europäische Parlament, wir wollen auch eine allumfassende Kontrolle.

An dieser Stelle erinnere ich an eines, nämlich an das Instrument der offenen Methode der Koordinierung. Das heißt im neuen Vertrag "Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedsstaaten". Es ist ein weiches Instrument, ein Benchmark-Instrument, aber geht völlig an den Parlamenten vorbei. Ihnen sagt man am Schluss "Vogel friss oder stirb!", und sie haben keine andere Möglichkeit der Einflussnahme.

Dieses Instrument wird auf weite Felder der Sozialpolitik, auf die Gesundheitspolitik ausgeweitet. Auch da müssen wir meines Erachtens wachsam sein.

Oder nehmen wir die fehlende Kompetenzabgrenzung. Der Zug geht in Richtung mehr Zentralisierung zum Beispiel durch die Flexibilisierungsklauseln oder durch die schon genannte offene Methode der Koordinierung.

Das alles sind Punkte, die wir weiterhin für kritikwürdig halten und die uns - auch als Bayerischer Landtag - in der Zukunft möglicherweise vor große Probleme stellen werden.

Zeitbedingt kann ich dazu leider keine weiteren Ausführungen machen, weil wir uns auch noch mit dem dritten Krisenfeld befassen wollen, nämlich dem Finanzmarktdebakel und der Wirtschaftskrise, selbstverständlich im Kontext mit der europäischen Integration.

Gleich vorweg - wir haben es an dieser Stelle schon öfter ausgeführt -: Dieses Finanzmarktdebakel hat uns jetzt abrupt in eine Krise hineingestoßen; sie wäre aber mit großer Wahrscheinlichkeit gekommen. Ich erinnere an die Explosion der Energiepreise, an die Welternährungskrise, an den Klimawandel und an vieles andere mehr.

Wenn wir uns jetzt anschauen, was die bisherige europäische Agenda und was der Vertrag von Lissabon an Antworten zur aktuellen Situation enthalten, müssen wir leider konstatieren: Herzlich wenig bis gar nichts; es ist wirklich so. Der Reformvertrag würde ein bisschen im sozialen Bereich tun, indem da die entsprechenden Kapitel zur Grundrechtecharta aufgenommen werden würden. Aber er sagt nichts zur Frage der sozialen Dimension der Europäischen Union. Umgekehrt würde die mit früheren Verträgen, vor allem mit der Einheitli

chen Europäischen Akte, angelegte Dominanz von Liberalisierungszwängen und finanzmarktradikaler Doktrin gegenüber öffentlich-wirtschaftlicher Betätigung und gegenüber sozialem Ausgleich verfestigt werden.

Da gilt es einfach noch einmal festzustellen, dass unter dem Dach der EU - ich spreche bewusst vom "Dach der EU", weil es die EU nicht per se macht, sondern es sind eigentlich die Staats- und Regierungschefs, die Exekutiven - möglichst einseitig auf weitgehend marktkonkurrenzielle Steuerung wirtschaftlicher Abläufe auch in nichtwirtschaftlichen Lebensgebieten gesetzt wurde. Also Gesundheitswesen, Sozialbereich - immer mehr musste hier nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten gesteuert werden. Das war das Ergebnis einer erfolgreichen Lobbyarbeit derjenigen, die die Partikularinteressen einiger weniger vertreten haben, das war aber auch das Ergebnis der Tatsache, dass manche in Brüssel erkannt haben: Wir sind zuständig für die Wirtschaft, also schauen wir uns die wirtschaftliche Seite von Lebensgebieten an, die eigentlich nicht unbedingt die Wirtschaft sind, und dann haben wir auch irgendwie etwas mitzureden!

Jetzt befinden wir uns in einer Phase, in der man befürchten muss, dass wir doch eine längere Zeit der Schrumpfung haben werden, einer Schrumpfung im relativ globalen Maßstab. Da ist - sagen wir - der Staat ganz besonders gefordert - als Regulierer, aber auch als Anbieter von Dienstleistungen, damit - in Krisenzeiten gibt es Krisengewinnler - eben die Umverteilung von unten nach oben, von Süd nach Nord, von morgen nach heute nicht noch weiter ansteigt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das heißt, wir brauchen da einen starken Staat, wir brauchen eine Gemeinwirtschaft. - Immer, wenn ich über Gemeinwirtschaft rede, ist der Kollege Wörner leider nicht da.

(Dr. Linus Förster (SPD): Doch! Der sitzt sehr gut da, der Ludwig!)

- Ja richtig, Ludwig!

Wir brauchen eine Stärkung oder Wiederbelebung der Gemeinwirtschaft, wobei Gemeinwirtschaft eben gar nicht nur heißt: öffentlich-wirtschaftliche Betätigung des Staates; es sind Teile des Genossenschaftswesens, es ist die frei-gemeinnützige Wirtschaft, und es ist vieles mehr. Das gilt es jetzt zu beleben.

Wenn wir uns anschauen, was Europa bisher gepredigt hat, was es bisher verlangt hat, was im Vertrag von Lissabon steht, sehen wir: Es ist genau das Gegenteil. Also auch da, meine Damen und Herren, müssen wir hinschauen und versuchen gegenzusteuern.

Wenn wir uns das Finanzmarktdebakel anschauen und die Folgerungen - was muss der Politiker eigentlich aus dem Finanzmarktdebakel lernen, was hat die Bundesregierung alles angerichtet, indem sie in den letzten Jahren, gleich in welcher farblichen Konstellation, windige Finanzmarktprodukte gefördert hat? -, müssen wir einfach feststellen: Das, was Brüssel bisher macht, und das, was im Vertrag von Lissabon steht, geht überhaupt nicht mit den Realitäten zusammen.

Wir können durchaus die Frage stellen, ob jedes wirtschaftspolitische Handeln dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet sein muss, so wie es im Vertrag steht. Mit Sicherheit nicht mehr angesagt ist die Verankerung der Liberalisierung des Kapitalverkehrs und der Liberalisierung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen in den Ziele- und Pflichtenagenden der Mitgliedstaaten oder das Verbot jeglicher Beschränkung des Kapitalverkehrs und des Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten wie auch zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten. Genauso, meinen wir, ist auch nicht angesagt eine Formulierung im Vertrag von Lissabon, in der es heißt: Die Mitgliedstaaten sind gehalten, über das Ausmaß der Liberalisierung der Dienstleistungen, zu welcher sie aufgrund von EU-Richtlinien verpflichtet sind, hinauszugehen. Das gilt für soziale Dienstleistungen gleichermaßen wie für Finanzmarktdienstleistungen. Hier ist, meine ich - als Botschaft für uns alle -, ein massives Umsteuern angesagt. Es reicht nicht zu sagen, wie es gestern im Europäischen Parlament klang - auch das ist vorher schon gesagt worden -, Private Equity Fonds und Hedgefonds gehen jetzt ab einem bestimmten Volumen, das sie verwalten, in die Aufsicht ein.

Ich möchte zunächst einmal wissen, was das heißt. Ich möchte wissen, wie es um die materielle Regulierung steht, die wir ganz dringend brauchen. Ich werfe beispielsweise die Frage auf, ob es weiterhin Leerverkäufe geben darf. Oder geht es nicht darum, die eingesetzten Hebel, also ganz viel Fremdkapital, mit dem ich eine entsprechende Eigenkapitalrendite erzielen kann, zu begrenzen und zu zügeln, um umgekehrt nicht die ganz üblen Auswirkungen haben zu müssen?

Nun bin ich beim Europäischen Parlament. Da wurde gestern beschlossen, dass die Banken fünf Prozent Eigenkapital hinterlegen müssen - ich drücke es in vereinfachter Form aus - für das Zeug, das sie an verbrieften Krediten raushandeln. Das ist einfach viel zu wenig. Es muss eine höhere Quote hineingeschrieben werden.