Protocol of the Session on February 21, 2013

(Namentliche Abstimmung von 14.12 bis 14.17 Uhr)

Die fünf Minuten sind um. Wir schließen die Abstimmung und bereiten die nächste namentliche Abstimmung vor. Es geht um den Dringlichkeitsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 16/15721. Dafür haben wir ebenfalls die Abstimmungsurnen bereitgestellt. Für diese Abstimmung nehmen wir uns drei Minuten Zeit.

(Namentliche Abstimmung von 14.17 bis 14.20 Uhr)

Die drei Minuten sind um. Damit schließe ich die namentliche Abstimmung. Wie immer werden wir die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen außerhalb des Saales ermitteln.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Interesse fahre ich gerne in der Tagesordnung fort. Das mache ich aber nur, wenn vorher wieder Ruhe einkehrt und sich die Gesprächskreise in allen Teilen des Saales auflösen. Bitte setzen Sie sich alle wieder hin. Ich mache nur weiter, wenn ihr euch hinsetzt. Führt eure Koalitionsgespräche bitte draußen.

(Alexander König (CSU): So weit wird es nicht kommen!)

Frau Kollegin Zacharias, bitte setzen Sie sich hin. Herr Kollege von Gumppenberg, bitte setzen Sie sich hin.

Zur gemeinsamen Beratung rufe ich folgende Dringlichkeitsanträge auf:

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Markus Rinderspacher, Martin Güll, Karin Pranghofer u. a. und Fraktion (SPD) Fördern statt Sitzenbleiben - Pädagogischen Unsinn beenden (Drs. 16/15703)

und

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Hubert Aiwanger, Florian Streibl, Günther Felbinger u. a. und Fraktion (FREIE WÄHLER) Notwendiges Wiederholungsjahr intelligent ausgestalten (Drs. 16/15722)

und

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Renate Will, Karsten Klein, Tobias Thalhammer und Fraktion (FDP), Georg Schmid, Karl Freller, Georg Eisenreich u. a. und Fraktion (CSU) Pflichtwiederholung muss auch zukünftig als letzte Konsequenz erhalten bleiben (Drs. 16/15723)

Dazu eröffne ich die gemeinsame Aussprache. Erster Redner ist Herr Kollege Güll. Ihm folgt Herr Kollege Felbinger. Bitte schön, Herr Kollege Güll.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es passt gut zu dem Schulthema, dass man zuerst für Ruhe sorgt und dann in Ruhe sprechen kann. Das macht man in der Schule genauso.

Das Thema Sitzenbleiben wird die Wogen vielleicht nicht so aufwühlen wie das vorhergehende Thema. Die Diskussion, ob Sitzenbleiben gut oder schlecht ist, ist so alt wie die pädagogische Forschung und wahrscheinlich auch so streitbar. Einig sind sich eigentlich nur die Erziehungswissenschaftler und die Psychologen, die schon im 20. Jahrhundert immer festgestellt haben: Sitzenbleiben hat pädagogisch wenig bis gar keinen Sinn.

(Unruhe − Glocke des Präsidenten)

Neue empirische Forschungen zeigen auch, dass diese Annahme stimmt. Leider gibt es in Deutschland dazu nicht sehr viele Studien − man muss ins europäische Ausland oder in die USA gehen. Dort wird dies sehr gut nachgewiesen.

Was bedeutet Sitzenbleiben? − Darüber muss man auch einmal sprechen. Ein Schulkind bleibt dann sitzen, wenn es in zwei oder mehreren Fächern die Mindestanforderungen nicht erfüllt. Dann muss es zurück und ein ganzes Schuljahr mit allen Fächern wiederholen. Es verlässt also seine Lerngruppe und geht in eine neue, ist dann meistens älter mit all den Problemen, die damit verbunden sind. Warum brauchen wir das Sitzenbleiben? Warum gibt es Befürworter? − Wahrscheinlich deshalb, weil man der Meinung ist,

(Unruhe − Glocke des Präsidenten)

Schüler müssen ab und an einmal einen Schuss vor den Bug bekommen, damit sie ihre Anstrengungsbereitschaft wieder erhöhen, oder aber, weil man der Meinung ist, die schlechten, schwächeren Schüler sollen doch die stärkeren in der Klasse nicht bremsen und sollen deshalb aussortiert werden und den anderen Schülern die Chance nicht rauben, ungestört lernen zu können.

Die Frage lautet: Ist dies sinnvoll? Darüber kann man natürlich im Einzelfall streiten. Ich will gar nicht bestreiten, dass dies so ist. Darum geht es aber nicht. Es geht vielmehr darum, ob Sitzenbleiben ein institutionalisiertes Verfahren ist, das man nach wie vor braucht, oder nicht. Hierzu gibt es eine klare Absage. Das braucht man so nicht. Auch die Forschungsergebnisse zeigen, dass das keinen Sinn macht.

Ich darf aus der Pressemitteilung des Ministeriums zu diesem Thema zitieren. Der Pressesprecher sagte − ich zitiere -, das Wiederholen abzuschaffen, ist für Minister Spaenle pädagogischer Unsinn. Er verweist in seiner Einschätzung auch auf den möglichen Erfolg eines Wiederholens, der in einer Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung bei einer Untersuchung von 2.500 ehemaligen Schülerinnen und Schülern festgestellt worden ist.

Tatsächlich gibt es dieses Gutachten. Dieses Gutachten stammt übrigens aus dem Jahre 2004. Damals wurden tatsächlich 2.500 ehemalige Schüler befragt. Der Gutachter ist zu dem Ergebnis gekommen: Sitzenbleiben nützt den Schülern. Was haben die Gutachter aber gefragt? − Sie haben die Leute danach befragt, wie sie denn im Nachhinein einschätzen, dass sie sitzengeblieben sind. Diejenigen, die sitzengeblieben sind, sind gefragt worden, ob sie denn hinsichtlich des Reifegrades vorne oder hinten sind. Das ist eine völlig unsinnige Fragestellung, die nicht einmal für 300 von den 2.500 Probanden ein zutreffendes Ergebnis brachte.

Lieber Herr Kultusminister, vielleicht sollte man einmal den Herrn Pressesprecher oder vielleicht auch die Grundsatzabteilung bitten, die Gutachten zunächst zu

lesen und sie erst dann als Beleg zu bringen; denn so ist das keine Begründung für das Sitzenbleiben.

Ich will aber zum Antrag zurückkommen. Der Antrag will das Sitzenbleiben überflüssig machen und es damit letztlich, wenn dies geht, auch abschaffen. Dies geht tatsächlich nur unter folgender Annahme. Ich will hierfür extra Erziehungswissenschaftler zitieren, Frau Julia Krone und Klaus-Jürgen Tillmann von der Universität Bielefeld, die 2006, abgedruckt in der Zeitschrift "SchulVerwaltung" formuliert haben − ich zitiere -: Nur wenn diese Heterogenität der Lerngruppe, wenn diese individuellen Förderbedürfnisse von Lehrkräften als Teil ihrer pädagogischen Alltagsarbeit angesehen und angenommen werden, wird die Abschaffung des Sitzenbleibens zu besserer individueller Förderung führen.

Genau dadurch wird der Zusammenhang aufgezeigt. Abschaffen kann man das Sitzenbleiben nur dann, wenn man die individuelle Förderung entsprechend aufbaut. Diese These wird auch durch die Klemm-Studie, die noch nicht so alt ist − sie ist zwei, drei Jahre alt − bestätigt. Die Klemm-Studie, die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt wurde, sagt noch etwas anderes. Sie sagt: Sitzenbleiben ist nicht nur pädagogisch unsinnig, sondern auch noch teuer. Diese Aussage könnte jetzt natürlich bedeuten: Aha, die SPDFraktion will Geld sparen, wenn sie das Sitzenbleiben abschaffen will. Mitnichten wollen wir das. Wir wollen die errechneten circa 250 Millionen Euro pro Jahr tatsächlich für die individuelle Förderung verwenden. Rechnerisch sind dies immerhin 125.000 Lehrerstunden, die man jährlich den Schulstunden hinzufügen könnte, um Kinder zu fördern. Entscheidend ist also, dass man diese Förderung auch vornimmt.

(Unruhe − Glocke des Präsidenten)

Ich will deshalb das Hohe Haus bitten, diesem Dringlichkeitsantrag zuzustimmen. Mit diesem Antrag wird die Staatsregierung aufgefordert, die individuelle Förderung so zu organisieren, dass Sitzenbleiben überflüssig wird. Deshalb bitten wir um Zustimmung zu diesem Antrag.

Ich will auch noch zwei Sätze zu dem nachgezogenen Antrag der FREIEN WÄHLER sagen: Soll ich der Überschrift glauben, oder soll ich dem Inhalt glauben? Wir müssten den Antrag deshalb eigentlich ablehnen. Wenn man so fördern würde, wie ihr es für den Fall fordert, dass man sitzenbleibt, wäre die Konsequenz, dass man die Förderung gar nicht bräuchte, wenn man sie schon vorher anbieten würde. Also: entweder oder. So, wie der Antrag geschrieben steht, müssen wir ihn leider ablehnen.

Nun zum Antrag der CSU und der FDP. Diesem Loblied auf das Schulsystem brauchen wir bestimmt nicht zuzustimmen. Das ist bestimmt kein Grund. Eines kann ich Ihnen nicht ersparen: Sehen Sie einmal in die Begründung hinein. In der Begründung des Antrages steht, man brauche das Sitzenbleiben deshalb, weil es Schüler gibt, die bewusst und dauerhaft schulische Leistung verweigern oder die Schule schwänzen. Warum verweigern diese Schüler, warum schwänzen sie die Schule? − Wenn sie im Januar wissen, dass sie keine Chance haben, werden sie auch nichts mehr tun. Deshalb werden sie auch verhaltensauffällig. Ich fordere Sie auf: Lasst uns diese Schüler entsprechend fördern! Dann brauchen wir das Instrument des Sitzenbleibens nicht. Deswegen plädiere ich selbstverständlich für Ablehnung.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Güll. Nächster Redner ist Herr Kollege Felbinger. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mein Vorredner, Kollege Güll, hat sehr viel von Studien und Aussagen der Wissenschaftler erzählt. Ich möchte einfach ins normale Leben zurückkehren. In Bayern haben im vergangenen Jahr 2,3 % der Gymnasiasten, 2,6 % der Realschüler und knapp 1 % der Mittelschüler eine "Ehrenrunde" gedreht. Sicher ist das Wiederholen für jeden eine schmerzhafte Zäsur, aber − das sage ich jetzt einfach mal − es hat noch niemandem geschadet, schon gar nicht hat es irgendwelche Karrieren beeinträchtigt. Sollte man deshalb das Sitzenbleiben abschaffen? − Dazu sagen wir FREIE WÄHLER ein klares Nein. Das Leben, meine Damen und Herren, ist kein Ponyhof. Man kann der Schule keine Käseglocke überstülpen, man kann nicht so tun, als wäre immer das System schuld, wenn jemand nicht vorankommt. Werden und Wirken finden nicht im schmerzfreien Raum statt, und eine völlige Abschaffung des Sitzenbleibens wäre eine naive Erleichterungspädagogik.

(Harald Güller (SPD): Das steht aber so im Antrag nicht!)

Die Pädagogen unter uns wissen, dass es einige wenige Schüler gibt, die von Jahr zu Jahr gerade so durchkommen. Irgendwann tun sich dann kumulierte Wissenslücken auf. Das zumindest latent vorhandene Risiko eines Scheiterns ist ein wichtiger Antrieb, mehr zu tun und sich mehr anzustrengen − wie im richtigen Leben. Wenn die Schule auf das richtige Leben vorbereiten will, darf auch das Pflichtwiederholen wegen mangelhafter Leistungen nicht völlig abgeschafft wer

den. Wer glaubt, durch die Abschaffung der Möglichkeit, eine Klassenstufe wiederholen zu müssen, veränderten sich Lernmotivation und Leistung zum Positiven, der täuscht sich.

Herr Kollege Güll, Sie haben vorhin die Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung erwähnt. Hier kommt unterm Strich auch heraus, dass 50 % der Wiederholer zu einem besseren Abschluss kommen als vergleichbare Nichtwiederholer, bei aller Umstrittenheit dieser Studie, von der Sie auch gesprochen haben. Tatsache ist, dass die Zahl der Pflichtwiederholer in den letzten Jahren deutlich rückläufig ist. Inzwischen wurden auch zahlreiche Förderinstrumente eingeführt. Das heißt natürlich nicht, dass wir in Zukunft nicht mehr genau hinschauen müssen, wenn bei einer Schülerin oder einem Schüler die Leistung abfällt. Nein, ganz im Gegenteil, wir müssen sehr genau hinschauen, um die möglichen Ursachen eines Leistungsabfalls zu erkennen. Oft machen jungen Menschen nicht schulische Anforderungen zu schaffen, sondern entwicklungs- und altersspezifische Probleme, Probleme in ihrem privaten Umfeld oder eine bevorstehende Trennung der Eltern, ein Krankheitsfall, ein Todesfall oder Ähnliches. Junge Menschen brauchen hier eine Anlaufstelle, an die sie sich wenden können. Deswegen fordern wir FREIE WÄHLER mehr Schulsozialarbeiter, aber auch mehr Schulpsychologen, mehr Beratungslehrer, überhaupt mehr Lehrkräfte, damit mehr Zeit für das einzelne Kind und seine individuellen Bedürfnisse ist.

(Beifall bei Abgeordneten der FREIEN WÄHLER)

Natürlich brauchen wir auch für die Schüler, die sich mit dem Lernstoff schwer tun, Fördermöglichkeiten, um die Lücken im Idealfall gar nicht erst entstehen zu lassen und um sie da, wo sie aus welchen Gründen auch immer entstanden sind, möglichst schnell zu schließen. Denn eines ist klar: Wir alle wollen unseren Kindern ein möglichst unbeschwertes Aufwachsen ermöglichen.

Wir haben aus meiner Sicht auch die Verpflichtung, die Zahl der Pflichtwiederholer möglichst gering zu halten. Aber − das betone ich ausdrücklich − wir FREIE WÄHLER wollen das Instrument der Pflichtwiederholung nicht abschaffen. Genau aus diesem Grund haben wir auf Drucksache 16/15722 einen Dringlichkeitsantrag eingereicht, dessen Überschrift, wie Kollege Güll vorhin gesagt hat, geändert wird. Die Überschrift heißt: "Notwendiges Wiederholungsjahr möglichst vermeiden", nicht, wie ursprünglich ausgedruckt, "Notwendiges Wiederholungsjahr intelligent ausgestalten". Das ist uns bei der Abänderung leider durch die Lappen gegangen.

Der Grundsatz "Fördern und Fordern" begleitet uns Menschen durch das ganze Leben; die eigenen Schwächen und Grenzen erfährt ein Kind auch außerhalb schulischer Einrichtungen. Gerade deshalb sollten wir aber nicht Kuschelpädagogik betreiben; wir sollten vielmehr Lernerfahrungen liebevoll, aber auch konsequent ermöglichen. Deswegen werden wir den Antrag der SPD ablehnen, dem Dringlichkeitsantrag der FDP und der CSU hingegen werden wir zustimmen.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

Danke schön. Als Nächste hat sich Frau Kollegin Will zu Wort gemeldet. Bitte schön.

(Von der Rednerin nicht autori- siert) Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! "Fördern statt Sitzenbleiben − Pädagogischen Unsinn beenden", so lautet der blumige Titel eures Antrags. Zum ersten Teil Ihres Antrags "Fördern statt Sitzenbleiben" kann ich der SPD nur empfehlen, mal genau hinzuschauen, welche Maßnahmen auf den Weg gebracht wurden, um jedes einzelne Kind zu fördern und um das Sitzenbleiben zu verhindern, was auch sinnvoll ist. Die Zahl der Pflichtwiederholer in Bayern ist nicht automatisch oder zufällig kontinuierlich gesunken. An den Volksschulen hat sich die Zahl in den letzten elf Jahren von 1,4 auf 0,5 % um zwei Drittel verringert, an den Realschulen hat sie sich von 4,8 auf 2,6 % fast halbiert, und an den Gymnasien ist sie von 3,1 auf 2,0 %, also um ein Drittel zurückgegangen.

(Beifall bei der FDP)

Warum ist das gelungen, meine Damen und Herren? − Weil wir die Rahmenbedingungen in der bayerischen Bildungspolitik verbessert haben. Mehr Lehrkräfte sorgen bei immer weniger Schülerinnen und Schülern für mehr individuelle Förderung. Mehr Ganztagsangebote schaffen mehr Zeit zur individuellen Förderung. Förderlehrer unterstützen an den Grund- und Mittelschulen die Lehrkräfte im Unterricht gezielt. Die Kooperation von Mittel- und Realschulen sorgt für mehr Durchlässigkeit, mehr Differenziertheit und mehr Chancen. Mehr flexible Grundschulen − sie können durchaus noch mehr werden − sind ein ganz wichtiger Schritt in Richtung auf individuelle Lernzeiten. Des Weiteren können in der 4. Jahrgangsstufe Klassen mit mehr als 25 Kindern geteilt werden. Es gibt zusätzliche Förderangebote im Rahmen der Gelenkklassen in der 5. Klasse. Es gibt in der 5. und 6. Jahrgangsstufe zusätzliche Förderung, in den Mittelschulen gibt es Intensivierungsstunden, an den Gymnasien dazu ab nächstem Schuljahr ein Frühwarnsystem, die Möglich

keit eines Flexibilisierungsjahres und weitere Fördermodule in der Mittelstufe der Gymnasien, und so weiter und so fort. All diese Maßnahmen dienen dazu, den Schülerinnen und Schülern mehr individuelle Lernzeit und Unterstützung zu gewähren.

(Die Rednerin hustet - Eberhard Sinner (CSU): Soll ich Ihnen einen Kamillentee bringen?)

− Nützt nichts.