Protocol of the Session on July 18, 2006

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 72. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Ich bitte Sie, vor Beginn der Sitzung eines ehemaligen Kollegen zu gedenken.

(Die Anwesenden erheben sich)

Am 12. Juli verstarb Xaver Schleich im Alter von 85 Jahren. Er war im Jahr 1978 Mitglied des Bayerischen Landtags für die Fraktion der CSU. Das war eine verhältnismäßig kurze Zeit. Xaver Schleich war von den Erfahrungen der Kriegsgeneration und der Gefangenschaft und vom Einsatz für den Wiederaufbau geprägt. Im Parlament hat er seine Erfahrungen als Landwirt eingebracht, sein bürgerschaftliches Engagement als Kommunalpolitiker und seine Erfahrungen in der Landjugendarbeit. Der Bayerische Landtag wird dem Verstorbenen ein ehrendes Gedenken bewahren. – Ich danke Ihnen.

Ich darf einen nachträglichen Glückwunsch aussprechen. Gestern feierte Kollege Walter Nadler einen runden Geburtstag. – Soeben kommt er in den Saal. Herr Kollege Nadler, alles Gute und Gratulation im Namen des ganzen Hauses.

(Allgemeiner Beifall)

Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

Für die heutige Sitzung ist die Fraktion der SPD vorschlagsberechtigt. Die Aktuelle Stunde hat das Thema: „Bayern, Land der Bildungsungerechtigkeit?“. Die Modalitäten sind allen bekannt. Grundsätzlich hat jeder Redner einer Fraktion fünf Minuten Redezeit, zehn Minuten Redezeit, sofern dies beantragt wird. Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung für mehr als zehn Minuten das Wort, erhält eine Fraktion auf Antrag eines ihrer Mitglieder zusätzlich fünf Minuten Redezeit. Ich bitte, das Signal für die Redezeit zu beachten. - Die erste Wortmeldung kommt von Herrn Kollegen Pfaffmann.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst zwei Vorbemerkungen zum heutigen Thema machen.

Erstens. Wir erkennen durchaus an, dass Sie, Herr Staatssekretär, mit der Vorstellung des Bildungsberichts 2006 im Bayerischen Landtag eine offene Berichterstattung gewählt haben. Das ist bemerkenswert. Das war nicht immer so. Oft wurde vieles verheimlicht. Das ist anders geworden. Das ist in der Tat ein anerkennenswerter Richtungswechsel. Wir danken Ihnen dafür, dass Sie in diesem Bericht ungeschönt die Probleme benannt haben. Ich werte diesen Bericht auch als Hilferuf an Ihre eigene Fraktion, Herr Staatssekretär; denn ich bin der Meinung, dass alle Dinge, die Sie hier benennen – das sagen Sie selber –, eine grundsätzliche Herausforderung

an die Bildungspolitik in Bayern darstellen. Das ist im Ausschuss so gesagt worden. Das ist wahr. Hoffentlich sieht das auch Ihre Fraktion, sehen das vor allen Dingen die Kassenwarte Ihrer Fraktion so; denn wenn man alle Probleme, auf die ich noch zu sprechen komme, beheben möchte, dann muss man die Bildungsfi nanzierung ändern und die Mittel erhöhen. Ich gehe davon aus, dass genau das das Signal ist, das vom Kultusministerium an die CSU-Fraktion ausgesendet wird.

(Beifall der Abgeordneten Johanna Werner-Mug- gendorfer (SPD))

Ich hoffe, dass die CSU-Fraktion aus ihrem bildungspolitischen Dornröschenschlaf aufwacht und endlich erkennt, welche Probleme wir in diesem Land haben.

(Beifall bei der SPD)

Meine zweite Vorbemerkung: Der Bildungsbericht 2006 bestätigt die Haltung der Opposition, er bestätigt die Haltung der SPD-Fraktion. Seit Jahren bemängeln wir genau die Probleme in diesem Hause. Nur, bisher hat es Sie nicht die Bohne interessiert, was wir gesagt haben. Jeder Antrag von uns wurde grundsätzlich niedergebügelt. Erstmals benennt ein von Ihnen erstellter Bildungsbericht exakt dieselben Probleme, die wir seit Jahren aufzeigen. Seit Jahren hören wir: Wir sind die Besten, wir sind die Größten, Pisa gibt uns Recht.

(Beifall des Abgeordneten Prof. Dr. Gerhard Waschler (CSU))

Da brauchen Sie nicht zu klatschen. – Dieser Bericht spricht eine andere Sprache, egal ob Sie auf Pisa verweisen oder nicht. Jetzt können Sie klatschen.

(Beifall bei der SPD)

Das relativ gute Abschneiden – das will ich Ihnen, Herr Waschler, gerne bestätigen – bei der Pisa-Studie täuscht doch in keiner Weise über die Probleme hinweg, die wir in Bayern haben. Das macht dieser Bildungsbericht ganz besonders deutlich. Deswegen würde ich Ihnen gerne einen Rat geben: Vergessen Sie die Diskussion über das relativ gute Abschneiden bei Pisa. Schauen Sie endlich auf Ihre Schulen vor Ort. Wenn Sie auf Ihre Schulen vor Ort schauen, dann stellen Sie fest, dass da einiges im Argen liegt. Das wurde durch den Bericht eindeutig bestätigt.

Bayern macht eine schlechte Integrationspolitik, obwohl immer wieder davon geredet wird, dass Handlungsbedarf besteht. Kinder aus Migrationsfamilien sind in bayerischen Schulen schwer benachteiligt. Das hat der Bildungsbericht eindeutig bestätigt. Wenn Sie nicht umkehren, dann werden Sie in Zukunft ein viel größeres soziales Problem als heute haben. Dafür sind Sie verantwortlich.

(Beifall der Abgeordneten Johanna Werner-Mug- gendorfer (SPD))

Nur 25 % der Hauptschulabsolventen haben einen un mittelbaren Anschluss an eine berufl iche Ausbildung. Das ist eine Bankrotterklärung Ihrer Schulpolitik. Nehmen Sie das zur Kenntnis.

(Beifall bei der SPD)

75 % haben keinen Ausbildungsplatz, wenn sie die Hauptschule verlassen. Wollen Sie endlich einmal darüber nachdenken, wie man diese dramatische Zahl reduzieren könnte? Dieses Problem wird Sie einholen. Mit dieser Menge an jungen Leuten ohne Ausbildung schaffen Sie in der Zukunft ein Problem, das Sie heute noch gar nicht abschätzen können. Das grundsätzliche Fazit ist doch ganz klar: Das bayerische Bildungswesen ist in Beton gegossen, und Sie sind reformunfähig. Sie haben die letzten Jahre schlichtweg geschlafen,

(Beifall bei der SPD)

bei den Fragen unserer Zeit, bei der Integrationspolitik in den Schulen, bei der Frage der Bildungsgerechtigkeit und bei vielen anderen Fragen mehr. Dazu komme ich noch.

Ich möchte zum Übertrittsverhalten in weiterführende Schulen ein paar Sätze sagen. Das Übertrittsverhalten im zehnten Lebensjahr, nach der Grundschule, unterscheidet sich ganz eindeutig nach regionaler Herkunft, nach Geschlecht, Nationalität und nach dem Einkommen der Eltern. Das können Sie seit dieser Bildungsberichterstattung in diesem Haus nicht mehr wegleugnen. Das heißt im Klartext: Bildung hängt in Bayern vom Geldbeutel der Eltern ab. Bildung hängt in Bayern vom Wohnort ab, und Bildung hängt in Bayern von der Nationalität ab. Das sind, zusammengefasst, die Ergebnisse aus diesem Bildungsbericht, über den wir heute diskutieren.

Ich sage Ihnen noch etwas anderes: Das ist von Ihnen auch so gewollt.

(Engelbert Kupka (CSU): Nein! Von mir nicht!)

Lieber Herr Kupka, von Ihnen vielleicht nicht, aber von der Mehrheit Ihrer Fraktion. Wahrscheinlich haben Sie sich da nicht durchsetzen können.

(Engelbert Kupka (CSU): Das war gut!)

Ich darf aus einem internen Strategiepapier der CSU zitieren.

(Prof. Dr. Gerhard Waschler (CSU): Jetzt wird es spannend!)

Ja, jetzt wird es spannend. Da steht drin: „Bei Einführung – –

(Joachim Herrmann (CSU): Kenne ich das schon, Herr Pfaffmann?)

Das weiß ich nicht, ob Sie da schon aktuell waren, Herr Herrmann. Ich lese es Ihnen vor, dann wissen Sie es. Bei

der Einführung der R 6, Kolleginnen und Kollegen, wurde zu Papier gebracht:

Die R 6 wird einen deutlichen Rückgang für die Hauptschule bedeuten.

Das zum Thema – ich kann es Ihnen zeigen –: Der Hauptschule wird nichts passieren, wenn Sie die R 6 einführen. Das können wir nachweisen.

Ich zitiere einen weiteren Satz:

Es kommt deswegen, weil die Schülerzahlen bei den Hauptschulen zurückgehen werden, insbesondere darauf an, dass die verschärften Übertrittsbedingungen politisch gehalten werden.

Das steht in Ihrem internen Strategiepapier. Das heißt, Ihnen geht es nicht um die Zukunftschancen der Kinder und auch nicht um eine individuelle Förderung, sondern es geht Ihnen darum, die Schülerströme zu lenken.

(Engelbert Kupka (CSU): In die richtigen Bahnen zu lenken!)

Da frage ich Sie schon: Was hat das mit Zukunftschancen der Kinder zu tun? – Das zum Ersten.

Zum Zweiten: Ausländische Kinder haben beim Übertritt an das achtjährige Gymnasium oder die R 6 deutlich weniger Chancen als andere. Ausländische oder Kinder mit Migrationshintergrund gehen hauptsächlich in die Hauptschulen. 20 % der R 6-Anfänger stammen aus der Hauptschule; das ist richtig. Aber die meisten Schulartwechsler innerhalb der Schularten, die wir haben, gehen von der R 6 in die Hauptschule und vom G 8 in die R 6. Da ist der Nachweis erbracht: Ihre Schule ist ein Weg nach unten

(Beifall bei der SPD)

und nicht ein Weg der individuellen Förderung, meine Damen und Herren. Darum kommen Sie nicht herum.

Wollen Sie sich nicht endlich einmal die Frage stellen, ob die Qualität der Übertrittskriterien im zehnten Lebensjahr gut oder schlecht ist angesichts der Tatsache, dass nahezu 40 % der Schülerinnen und Schüler, die in ein Gymnasium gehen, das Ziel Abitur nicht erreichen, oder dass 30 % der Schüler, die in eine Realschule gehen, das Ziel Mittlere Reife nicht erreichen? Wollen Sie endlich einmal darüber nachdenken? – Das wäre gut im Interesse der Kinder und der Zukunft und der Chancengleichheit überhaupt.

Wir müssen – und ich hoffe, Sie kommen zu ähnlichen Ergebnissen – endlich die Rahmenbedingungen für die individuelle Förderung der Kinder in der Grundschule verbessern. Was machen Sie? – Sie schaffen Kombiklassen, anstatt die Förderung zu verbessern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Genau!)