Protocol of the Session on January 31, 2006

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 59. Vollsitzung des Bayerischen Landtags.

Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Ich darf zunächst einige Glückwünsche nachholen:

Jeweils einen runden Geburtstag feierten die Kollegen Franz Schindler am 13. Januar und Hans-Ulrich Pfaffmann am 18. Januar. Einen halbrunden Geburtstag haben die Kollegen Joachim Wahnschaffe am 19. Januar und Jürgen Dupper am 22. Januar gefeiert. Ich gratuliere den genannten Kollegen im Namen des gesamten Hauses und persönlich sehr herzlich und wünsche ihnen alles Gute und viel Erfolg für ihre parlamentarischen und sonstigen Aufgaben.

(Vereinzelter Beifall)

Die Zustimmung zu den guten Wünschen darf durchaus mit Beifall zum Ausdruck gebracht werden.

(Allgemeiner Beifall)

Die Landeswahlleiterin hat mir mit Schreiben vom 15. Dezember 2005 mitgeteilt, dass Herr Staatsminister a. D. Dr. Otto Wiesheu mit Ablauf des 31. Dezember 2005 auf sein Landtagsmandat verzichtet hat und damit aus dem Landtag ausgeschieden ist. Ich darf Dr. Otto Wiesheu für die Arbeit hier im Hause und für das Land Bayern herzlich danken.

(Beifall bei der CSU)

Die Landeswahlleiterin hat gemäß Artikel 58 des Landeswahlgesetzes Frau Ulrike Scharf-Gerlspeck aus Fraunberg als Listennachfolgerin festgestellt. Seit dem 1. Januar ist Frau Kollegin Scharf-Gerlspeck Mitglied des Bayerischen Landtags. Frau Kollegin, ich heiße Sie in unserer Mitte herzlich willkommen.

(Beifall bei der CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bitte Sie, sich zum Gedenken an den verstorbenen Altbundespräsidenten von den Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

Nur wenige Tage nach Vollendung seines 75. Lebensjahres ist am vergangenen Freitag Herr Bundespräsident a. D. Johannes Rau seiner schweren Krankheit erlegen. In einem Kondolenzschreiben habe ich namens des Hohen Hauses seiner Witwe und seinen drei Kindern mein Beileid und unser aller Mitgefühl ausgesprochen.

Johannes Rau war in seinem Denken und Handeln tief geprägt vom christlichen Glauben. Er ging auf die Menschen zu, und sie schenkten ihm ihr Vertrauen. Wie nahe er den Bürgerinnen und Bürgern war, zeigt sich auch daran, dass bereits am Wochenende Tausende ihre Trauer bekundet haben und sich in die Kondolenzbücher eintrugen.

Johannes Rau war fast fünf Jahrzehnte politisch aktiv gewesen, davon 20 Jahre als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und von 1999 bis 2004 als deutsches Staatsoberhaupt. In all seinen Aufgaben trat er mit Wort und Tat für mehr Glaubwürdigkeit, Toleranz, Ausgleich und Demokratie ein. Sein Beitrag zu einem positiven Deutschlandbild in der Welt war herausragend.

Ein besonderes Anliegen war ihm die Aussöhnung mit Israel, und es ist ein historisches Datum, dass er als erster Staatspräsident im israelischen Parlament in Deutsch gesprochen hat. Er wird auch in Israel als großer Versöhner und Brückenbauer gesehen und geachtet.

Die Gedanken, mit denen er die Richtung mit bestimmt hat, in die sich unser Land bewegt, sind von bleibendem Wert. In diesen Tagen war in manchen Artikeln zu lesen, dass er zeitweilig unmodern und überholt schien, dass ihn aber die Entwicklung in seinem beharrlichen Streben, Orientierungsmaßstäbe zu setzen, sehr bestätigt hat und dass er gerade auch das Menschliche in der Politik, im persönlichen Umgang, und auch in den politischen Inhalten der Politik immer wieder zum Ausdruck gebracht hat.

Der Bayerische Landtag verneigt sich in Trauer vor einer großen Persönlichkeit. Unser Land hat Johannes Rau viel zu verdanken.

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie nun, zweier ehemaliger Kollegen zu gedenken.

Am 26. Dezember 2005 ist Dr. Karl Baron von Brentano im Alter von 92 Jahren verstorben. Er gehörte dem Bayerischen Landtag von 1954 bis 1966 an und vertrat den Wahlkreis Oberbayern für die Fraktion der Bayernpartei, deren Fraktionsvorsitzender er zeitweise war. Im Parlament engagierte er sich in mehreren Ausschüssen, darunter dem für sozialpolitische Angelegenheiten und dem für Angelegenheiten der Heimatvertriebenen und Kriegsfolgegeschädigten.

Am 24. Januar verstarb der langjährige Kollege Max Falter mit 68 Jahren. Er war von 1974 bis 1986 Mitglied des Hohen Hauses und vertrat für die SPD den Wahlkreis Oberbayern. Max Falter war von Beruf Kaufmann und lebte in Bad Feilnbach. Er brachte reiche Erfahrungen aus der Kommunalpolitik in seine parlamentarische Arbeit ein, besonders auch in seine Aufgaben im Ausschuss für Eingaben und Beschwerden.

Der Bayerische Landtag wird den Verstorbenen ein ehrendes Gedenken bewahren. – Sie haben sich zu Ehren der Toten von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Gerade die Gedenktage des Jahres 2005 haben gezeigt, dass es in Deutschland in einem gewiss nicht einfachen und manchmal schmerzlichen Prozess gelungen ist, eine Kultur des Erinnerns zu entwickeln, die nichts verdrängt, die uns gleichwohl nicht auf diesen Abschnitt in unserer Geschichte verengt, eine Kultur der Erinnerung, die uns damit freier und souveräner gegenüber der Vergangenheit und für die Aufgaben von heute und morgen gemacht hat.

Der Bezugspunkt für diesen Gedenktag ist der 27. Januar 1945, als die Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz von russischen Soldaten befreit wurden. Wir gedenken heute nicht nur der jüdischen, sondern auch aller anderen Opfer des Nationalsozialismus. Stellvertretend nenne ich die ermordeten Sinti und Roma, die weiblichen und männlichen Homosexuellen, die Opfer der Euthanasie-Gesetzgebung, die Frauen und Männer des Widerstands.

Der Publizist Ernst Cramer, „deutscher Jude“, wie er sich selbst beschreibt, sagte in seiner eindrucksvollen Rede bei der Gedenkfeier des Deutschen Bundestages unter anderem:

Wenn ich zurückblicke, war das Schlimmste in der Anfangszeit der nationalsozialistischen Diktatur, dass Menschen, mit denen man bisher normal verkehrte, sich plötzlich rar machten.

Man fühlte sich auf einmal als Außenseiter, als Paria, als Ausgestoßener.

Und das war nicht nur, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg oft verharmlosend hieß, Feigheit oder Angst, es war für die meisten ein unverständliches Anpassen an das Böse, das man oft gar nicht mehr als solches erkannte.

Werte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Deshalb ist es wichtig, dass wir uns anlässlich solcher Gedenktage nicht nur mit den grauenhaften Ergebnissen, den unvorstellbaren Welten der Vernichtungs- und Konzentrationslager auseinander setzen, sondern vor allem immer wieder der Frage nachgehen: Wie hat es begonnen? Wie konnte es sich so entwickeln? – Dies schärft auch unsere Wachsamkeit für diese Zeit.

Beispielhaft und vorbildlich ist in diesem Sinne eine Arbeit der Projektgruppe „Spurensuche“ des Maria-TheresiaGymnasiums in Augsburg mit der Themenstellung: „Die jüdischen Schülerinnen und die Zeit des Nationalsozialismus an der Maria-Theresia-Schule Augsburg“.

Der Projektleiter Peter Wulf schreibt in der Broschüre, die mir von einem Kollegen zugesandt wurde:

Es vergehen viele Jahre, mehr als 50 Jahre, mehr als zwei Generationen. Wer kann uns jetzt noch von den fast 200 jüdischen Mädchen erzählen, die die Maria-Theresia-Schule besuchten?

Als ich mit Schülern sprach und ihnen im Jahresbericht von 1938 zeigte, dass nur mehr wenige jüdische Mädchen am Maria-Theresia-Gymnasium waren und dass auch diese schon wenige Monate nach Schulbeginn entlassen wurden, waren viele fassungslos: So was ist bei uns passiert? Die haben ja gar nichts angestellt! Nur weil sie jüdische Mädchen waren? Wo sind die denn hin?

Sind die Mädchen ausgelacht, ausgegrenzt worden? Wer fragt danach, wie die Mädchen damals darunter litten? Das Netz der Ausgrenzungen beginnt klein, sogar in unserer nächsten Nähe, und wird, wenn nichts dagegen unternommen wird, immer dichter.

Den jüdischen Mädchen wurde Unrecht getan, sie wurden aus der Schule gedrängt, in die Emigration gezwungen, manche deportiert, ermordet.

Die Schule hat eine kleine Ausstellung gestaltet, die wir noch in diesem Jahr hier im Landtag zeigen werden.

Das Ergebnis dieser Entwicklung beschrieb Ernst Cramer in seiner vorher schon erwähnten Rede im Bundestag so:

Der Zivilisationsbruch, den die Nationalsozialisten verübten und an dem viele Deutsche in den verschiedensten Formen mitwirkten, war auch die größte, wenn auch selbstverschuldete Katastrophe und gleichzeitig unbegreifl ichste Tragödie in der deutschen Geschichte. So tief war Deutschland vorher noch nie gesunken.

Ohne Täter und Opfer durcheinander zu bringen oder gar gleichzustellen, steht für mich fest: Die grauenhafteste Heimsuchung in der Geschichte der Juden war auch – spiegel- und schicksalsverkehrt – das größte Desaster in der Geschichte der Deutschen: eben der Tiefpunkt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rechtsradikales „Gedankengut“ – wobei der Begriff „Gedankengut“ eigentlich schon unpassend ist – und rassistische Äußerungen und Umtriebe treten immer wieder in Erscheinung – versteckt, aber auch offen: Unverbesserliche, die Hitler und sein Regime verharmlosen und sogar verherrlichen; hasserfüllte Angriffe und Anschläge auf Ausländer, auf Obdachlose, auf Menschen mit Behinderung und auf andere Minderheiten.

Angriffe gegen Minderheiten sind nur der Anfang eines schleichenden Prozesses, der unsere Gesellschaft immer dann insgesamt bedroht.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ungeachtet der in einer freien Welt selbstverständlichen Meinungsverschiedenheiten gilt unsere besondere Solidarität in der gegenwärtigen Situation Israel. In den palästinensischen Autonomiegebieten gewann die radikal-islamische HamasBewegung die Parlamentswahlen. Sie bestreitet das Existenzrecht Israels, und das ist kein unverbindlicher Verbalradikalismus.

Der Präsident des Iran hat mehrfach öffentlich Zweifel an der Existenz des Holocaust geäußert und Judenvernichtung als „Mythos“ bezeichnet. Er bestreitet das Existenzrecht Israels.

Eine neue Dimension und Eskalation der Bedrohung Israels steht im Raum. Die Existenz Israels hat ihren Ausgangspunkt im Holocaust, in der systematisch geplanten und durchgeführten Vernichtungsstrategie gegen ein Volk. Daraus ergibt sich unsere bleibende Verpfl ichtung einer besonderen Solidarität und Unterstützung für Israel, gerade in kritischen Zeiten.

Dem Erinnern und Gedenken darf die Dimension der lebendigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart nicht abhanden kommen. Geht diese Dimension verloren, wird das Gedenken zum Ritual. Es wird damit entwertet und dem Leiden der Opfer nicht gerecht, und damit kann man auch aus der Geschichte nicht lernen.

In diesem Sinne gedenken wir heute der Opfer, die der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg gefordert haben.

Ich bitte Sie, sich zu einer Minute des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

Ich danke Ihnen.

Ich unterbreche die Sitzung für wenige Minuten.