Protocol of the Session on April 3, 2019

Jetzt könnte man vielleicht denken: Da steht die SPD aber auf verlorenem Posten; die sollten ihren Gesetzentwurf wieder zurückziehen. Meine Damen und Herren, das ist alles eine Frage der Perspektive. Denn – ich habe es schon beim letzten Mal betont – Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Nord rhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben die diskrimi nierenden Wahlrechtsausschlüsse – Herr Hockenberger, Sie haben gesagt, Sie hätten zügig reagiert – bereits vor der Ent scheidung des Bundesverfassungsgerichts ersatzlos gestri chen,

(Abg. Ulli Hockenberger CDU: Das ist falsch!)

so wie wir es Ihnen mit unserem Gesetzentwurf auch vorschla gen. Am vergangenen Freitag – ich habe es im Livestream an geschaut – hat der Landtag von Rheinland-Pfalz das ebenfalls getan. Die AfD hat dort übrigens zugestimmt; das nur zu Ih rer Information.

Die anderen Landesparlamente – Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen – haben einen Gesetzentwurf mit unserer Lösung im Verfahren, überall im breiten Konsens mit allen Parteien.

In Niedersachsen haben die Abgeordneten der Koalition aus SPD und CDU sogar einem im Verfahren stehenden Gesetz entwurf der oppositionellen Grünen mit unserem Vorschlag zugestimmt. Das muss man sich einmal überlegen. In Bayern, Hessen und im Saarland ist der Druck momentan nicht so hoch, weil dort aktuell keine Kommunalwahlen stattfinden.

Wenn die bekannte Entschließung im Bundestag umgesetzt wird, dann entspricht sie genau unserem Vorschlag. Frau Dr. Leidig, wer hat denn das Ganze im Bund verhindert? Doch nicht wir, sondern das war die CDU/CSU, denn der Gesetz entwurf kommt aus dem Innen- und nicht aus dem Justizmi nisterium.

(Zuruf von den Grünen)

Die SPD versucht seit Monaten – das hat sie schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts getan –, eine Lösung hinzubekommen. Wir sind nicht daran schuld. Hören Sie al so auf, hier irgendwelche Märchen zu erzählen.

(Beifall bei der SPD)

Wir, die SPD, vertreten den Lösungsweg, den alle anderen deutschen Parlamente, die bereits ein Gesetzgebungsverfah ren eingeleitet haben, anstreben. Sie wollten keine Insellö sung, Sie sind eine Insel. Viele sagen jetzt vielleicht: „Egal, Hauptsache, die Menschen mit Behinderungen können wäh len.“ Klar, das kann man durchaus so sehen; aber Ihre Ent scheidung ist eine Entscheidung mit Hintertür, denn nach der Wahl suchen Sie erneut nach Möglichkeiten, zumindest teil weise weiterhin Wahlrechtsausschlüsse zu haben.

Aber fragen Sie doch einmal die Menschen mit Behinderun gen selbst; Sie haben die Stellungnahmen ja auch bekommen. Dazu möchte ich aus einem Schreiben der Lebenshilfe e. V. zitieren:

Für uns ist nicht nachvollziehbar, warum die Aufhebung der Wahlrechtsausschlüsse bis Herbst 2021 befristet sein soll. Es ist für Menschen mit Behinderung enttäuschend, dass es in Baden-Württemberg keine generelle Aufhebung der Wahlrechtsausschlüsse geben soll. Wir wollen keine Übergangsregelung, sondern fordern ein unbefristetes Wahlrecht, so wie es in vielen anderen Bundesländern schon umgesetzt wird und zukünftig auch auf Bundesebe ne.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der AfD: Behinder te sind nicht von der Wahl ausgeschlossen!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, besser hätte man es nicht ausdrücken können. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unse rem Gesetzentwurf zu, und wenn Sie nicht über Ihren eigenen Schatten springen können, stimmen Sie wenigstens unserem Entschließungsantrag zu, denn wir wollen eine gemeinsame Entscheidung im Einklang mit allen anderen Bundesländern.

Am Ende aber, wenn Sie unseren Gesetzentwurf ablehnen – was zu erwarten ist –, werden wir natürlich Ihrem Gesetzent wurf zustimmen; denn wenn das die einzige Lösung ist, nach der alle Menschen mit Behinderungen an der kommenden Kommunalwahl teilnehmen dürfen, wollen wir uns natürlich nicht dagegenstellen. Aber es ist kein Fest für die Inklusion.

(Beifall bei der SPD)

Nun hat Herr Abg. Pro fessor Dr. Goll für die FDP/DVP das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kol leginnen und Kollegen! Ich darf am Anfang, genau wie in der ersten Lesung, noch einmal betonen, dass ich es gut finde, dass wir uns alle einig sind, dass auch Menschen, für die in allen Angelegenheiten ein Betreuer bzw. eine Betreuerin bestellt worden ist, an der kommenden Kommunalwahl teilnehmen dürfen. Das ist schon einmal viel wert. Darin besteht komplet te Einigkeit, und damit ist die nahe Zukunft für die Behinder ten gesichert.

(Abg. Rainer Hinderer SPD: Nein!)

Zum Vorgehen gibt es zwei Vorschläge: einen respektablen Vorschlag der SPD und einen Vorschlag der Regierungsfrak tionen der Grünen und der CDU. Wie ich bereits andeutete, ist für uns der Vorschlag von Grünen und CDU in diesem Fall vorzugswürdig, weil er differenzierter und „nachdenklicher“ ist und, wenn man ehrlich ist, das Urteil des Bundesverfas sungsgerichts besser und direkter umsetzt.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Zuruf der Abg. Sabine Wölfle SPD)

Man kann es politisch grundsätzlich anders betrachten, aber für viele ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein An lass, eine Neupositionierung vorzunehmen. Dann ist es schon viel wert, wenn man dieses Urteil 1 : 1 umsetzt. Und das Bun desverfassungsgericht hat eben nicht in dem Sinn geurteilt, dass jeder Ausschluss verfassungswidrig wäre.

(Abg. Carola Wolle AfD: Ja, genau! – Abg. Ulli Ho ckenberger CDU: So ist es!)

Das steht nicht in dem Urteil, sondern das Bundesverfassungs gericht betrachtet die Sache etwas differenzierter – wahr

scheinlich begründet; ich komme gleich noch darauf zu spre chen – und betont die Möglichkeit der Assistenzsysteme. Da mit muss man sich einmal gedanklich auseinandersetzen: Was ist damit gemeint, und wie machen wir es richtig? Es mag sein, liebe Frau Kollegin Wölfle, dass am Ende dieses Prozes ses die Erkenntnis steht, dass wir alle teilnehmen lassen, und zwar aufgrund unüberwindlicher Abgrenzungsschwierigkei ten.

(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Ja, natürlich! Klar! – Zuruf der Abg. Sabine Wölfle SPD)

Das halte ich sogar für möglich, wenn nicht gar für wahr scheinlich. Wenn es so kommen sollte, dann steht natürlich auch eine bestimmte Missbrauchsgefahr im Raum. Jetzt kom me ich nicht auf die Idee, nebulöse Anschuldigungen gegen Institutionen vorzubringen – das habe ich auch letztes Mal nicht getan –, sondern ich drücke mich mal so aus: Wir müs sen uns klar darüber sein, dass die Situation, in der ein Mensch dem anderen beim Wählen die Hand führt, immer auch etwas Problematisches hat.

(Abg. Arnulf Freiherr von Eyb CDU: Vor allem, wenn man zittert!)

Das liegt ja auf der Hand. Da besteht eine Missbrauchsgefahr, die man nicht einfach wegschieben kann. Man muss sich z. B. zumindest Gedanken darüber machen, ob man dort vielleicht deutlicher machen muss als bisher, wo der Anfang strafbaren Verhaltens ist. Denn wer mehrfach Behinderteneinrichtungen besucht hat – und das haben wir alle –, weiß natürlich, dass es Menschen gibt, die nicht in der Lage sind, bei der Wahl ei ne Entscheidung zu treffen. Seien wir ehrlich. Darum urteilt das Bundesverfassungsgericht ja auch so. Wenn das nicht so umsetzbar ist, hätte ich persönlich gar nichts dagegen, dass man sagt: Es wählen alle. Aber dann hätte ich natürlich auch schon die Missbrauchsgefahr angesprochen und die Sanktio nierungen vielleicht verdeutlicht, wenn nötig. Dazu war noch nicht ausreichend Zeit.

Deswegen ist aus unserer Sicht folgendes Vorgehen sinnvoll: Wir sichern jetzt für alle Behinderten die Teilnahme an der Kommunalwahl. Wir schauen uns anschließend die Bundes regelung an; das ist natürlich auch vernünftig. Auf die muss man nicht nur warten, da kann man sich auch aktiv in die Dis kussion einmischen; ganz klar. Wenn wir die Bundesregelung haben, dann machen wir eine eigene Regelung. Da sind wir allerdings schon der Meinung – das würden wir der SPD zu gestehen –: Das kann man dann schon in sechs Monaten schaf fen.

Da der Entschließungsantrag der SPD im Übrigen offen ge nug formuliert ist, meine ich, sollte man respektieren, dass ge rade auch die SPD-Fraktion sich um dieses Thema sehr be müht hat. Deswegen werden wir auch dem Entschließungs antrag der SPD zustimmen. Denn was soll es? Wir machen es dann in sechs Monaten. Im Übrigen legt der Entschließungs antrag ja kein endgültiges Ergebnis fest.

Wir werden also sowohl dem Gesetzentwurf als auch dem Ent schließungsantrag zustimmen.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der SPD)

Nun darf ich Herrn Mi nister Strobl ans Redepult bitten.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlässlich der Zweiten Beratung der beiden Gesetzentwürfe zum Thema Wahlrechtsausschlüsse – zum ei nen der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, zum anderen der Gesetzentwurf der Fraktion GRÜNE und der Fraktion der CDU – freut es mich, feststellen zu können, dass über das we sentliche Ergebnis der beiden Gesetzentwürfe, nämlich die Möglichkeit der Wahlteilnahme der in allen Angelegenheiten Betreuten bei den anstehenden Kommunalwahlen am 26. Mai, ein breites Einvernehmen in diesem Haus herrscht. Das ist ja zunächst einmal gut und schön.

(Beifall der Abg. Sandra Boser GRÜNE)

Dies wurde sowohl in der Ersten Beratung der beiden Gesetz entwürfe am 20. März hier im Plenum des Landtags als auch in der am gleichen Tag durchgeführten Sitzung des Innenaus schusses deutlich. Der Innenausschuss hat den Gesetzentwurf der SPD mehrheitlich abgelehnt, während er dem Gesetzent wurf der Grünen und der CDU einhellig zugestimmt hat.

(Abg. Sabine Wölfle SPD: Völlige Überraschung!)

Dies ist erfreulich und zeigt, dass der Landtag in der Lage ist – –

(Abg. Sabine Wölfle SPD: Hätten Sie mal die Behin dertenverbände auch eingeladen!)

Frau Abgeordnete, Sie haben zwar ausgeführt, dass die SPD mit der Bundesregierung und der Koalition im Bund offen sichtlich gar nichts mehr zu tun habe,

(Abg. Sabine Wölfle SPD: Wir waren für eine Wahl rechtsänderung!)

aber ganz so scheint mir das nicht zu sein.

(Zuruf des Abg. Rainer Stickelberger SPD)

Wir jedenfalls in der Landesregierung und der Regierungsko alition sind in der Lage, auch in relativ kurzer Zeit tatkräftig Lösungen zu erarbeiten und auf den Weg zu bringen.

(Abg. Andreas Stoch SPD: Provisorien!)

Dies ist besonders für die von den bisher geregelten Wahl rechtsausschlüssen Betroffenen eine positive Botschaft. Denn ihnen wird mit der vorgesehenen Neuregelung die Wahlteil nahme bei den Kommunalwahlen am 26. Mai ermöglicht.

Mit Blick auf die praktische Umsetzung der kurzfristig ge schaffenen Regelungen möchte ich erwähnen, dass das Innen ministerium bereits mit Schreiben vom 22. März die kommu nalen Landesverbände und die Rechtsaufsichtsbehörden über die sich abzeichnende Gesetzesänderung informiert hat. So können die Städte, Gemeinden und Landkreise bereits mit den Vorbereitungen beginnen, um eine ordnungsgemäße Aufstel lung der Wählerverzeichnisse auch ganz praktisch zu gewähr leisten.

Darüber hinaus blicken wir gespannt auf ein beim Bundesver fassungsgericht anhängiges Eilverfahren in Bezug auf die Re

gelungen zur Europawahl, mit dem erreicht werden soll, dass die vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig an gesehenen Wahlrechtsausschlüsse auch für die Europawahl am 26. Mai keine Anwendung finden.