Protocol of the Session on March 11, 2020

(Heiterkeit bei der CDU – Anhaltender Beifall bei der CDU – Abg. Nicole Razavi CDU: Kein Beifall bei den anderen Fraktionen! – Gegenruf des Abg. And reas Stoch SPD: Da müsst ihr ja selbst lachen!)

Leider kommt eine gleichstellungspolitische Debatte auch im Jahr 2020 nicht ohne das Thema „Gewalt gegen Frauen“ aus.

(Unruhe – Glocke der Präsidentin)

Jede vierte Frau erfährt im Laufe ihres Lebens Gewalt durch ihren Ehemann, Partner oder andere Familienmitglieder. Das ist ein Missstand, den wir mit aller Kraft bekämpfen müssen.

(Beifall bei der CDU sowie der Abg. Dr. Timm Kern und Gabriele Reich-Gutjahr FDP/DVP)

Neben der wichtigen Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit bedarf es hierbei vor allem einer verlässlichen Infrastruktur aus Frauenhäusern und ambulanten Beratungsstellen.

Doch auch außerhalb der eigenen vier Wände sind Frauen ver schiedenen Bedrohungen ausgesetzt. Aber auch hier gibt es Fortschritte: Neben der Intensivierung des Kampfes gegen se xuelle Gewalt und Frauenhandel möchte ich das Engagement von Minister Guido Wolf würdigen. Er setzte sich dafür ein, das sogenannte Upskirting, also das Fotografieren unter den Rock, unter Strafe zu stellen. Allein der Fakt, dass wir gegen das Fotografieren unter einen Damenrock überhaupt politisch vorgehen müssen, zeigt uns, wie viel gesellschaftliche Arbeit noch vor uns liegt.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen – Vereinzelt Beifall bei der SPD und der FDP/DVP)

Auch mir ist es wichtig, dass wir uns im Kontext der furcht baren Anschläge von Halle und Hanau künftig stärker mit dem Thema Incels beschäftigen. Hierbei handelt es sich um eine Internet-Subkultur von Männern, die der Ideologie einer he gemonialen Männlichkeit anhängen. Sie propagieren ihre Über legenheit gegenüber Frauen, ein selbst erdachtes Recht auf Sex sowie Gewalt gegen Frauen. Dieses Phänomen ist in Deutschland recht neu, hat bei beiden Angriffen aber offenbar eine große Rolle gespielt und bedarf daher einer entsprechen den Untersuchung. Diese Subkultur steht im Widerspruch zu unserem Grundgesetz und ist Gift für eine von gegenseitigem Respekt getragene Gesellschaft.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen, der SPD und der FDP/DVP – Zuruf von der CDU: Super!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jede Fraktion hat ihre eige nen frauenpolitischen Sichtweisen und Prioritäten. Schwer punkt christdemokratischer Gleichstellungspolitik ist und bleibt der Abbau struktureller Nachteile für Frauen, insbesondere im Laufe ihres Erwerbslebens. Die Förderung von beruflichem Wiedereinstiegsmanagement, Female Leadership und die Prä vention gegen geschlechterspezifische Altersarmut spielen für uns eine wichtigere Rolle als Genderstern und positive Dis kriminierung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Wir glauben fest daran, dass man die Situation von Frauen verbessern kann, ohne männliche Kollegen strukturell zu be nachteiligen. Positive Diskriminierung führt den Gedanken von Chancengleichheit ad absurdum.

(Abg. Raimund Haser CDU: Sehr gut!)

Für uns bedeutet Gleichstellung, dass alle Menschen unab hängig von ihrem Geschlecht die gleichen Möglichkeiten ha ben, ihre Ziele im Leben zu verwirklichen. Lassen Sie uns hierfür gemeinsam an den richtigen Stellschrauben drehen, denn – ich schließe mit einem abgewandelten Zitat unseres Fraktionsvorsitzenden –:

(Oh-Rufe von der CDU – Abg. Andreas Schwarz GRÜNE: Ah! Es ist immer gut, den Fraktionsvorsit zenden zu zitieren!)

Frauen sind der Joker im Standortpoker!

(Anhaltender Beifall bei der CDU – Beifall bei Ab geordneten der Grünen – Zuruf von der CDU: Bra vo!)

Das Wort hat Frau Kolle gin Wölfle für die SPD-Fraktion.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, lie be Kolleginnen und Kollegen! Letzten Sonntag fand weltweit der Internationale Frauentag statt. Dieser wurde erstmalig im Jahr 1922 einheitlich in verschiedenen Ländern begangen und wird im kommenden Jahr zum 100. Mal gefeiert. Es wird al so eine große Feier geben.

Aber dazu wird es nicht kommen. Denn in den letzten Tagen haben weltweit Frauen erklärt: Der 100 Jahre alte Kampf ist beendet; wir haben alles erreicht. Es wurde erreicht – ich le se vor –: Lohngleichheit für gleiche und gleichwertige Arbeit und gerechte Verteilung der Familienarbeit zwischen Mann und Frau, damit auch gleiche Rentenansprüche wie Männer, gleiche Karrierechancen, Parität in den Führungsetagen der Wirtschaft, familiengerechte Arbeitszeiten für Väter und Müt ter, politische Beteiligung in allen Bereichen analog zum Frau enanteil in der Gesellschaft. – Ein Grund zum Feiern, wir ha ben es geschafft!

Halt, stopp! Das war nur ein Traum. Die Realität ist leider noch immer eine andere. Noch immer erleben Frauen welt weit Benachteiligung, Diskriminierung und Sexismus – jeden

Tag, überall, auch bei uns. Auch wenn sich in den letzten 100 Jahren viel verändert hat, so ist eine geschlechtergerechte Ge sellschaft noch immer eine Utopie. Da, wo es Verbesserungen zu verzeichnen gibt, sind diese weniger aus Einsicht und Frei willigkeit entstanden als vielmehr deshalb, weil Frauen – auch unsere Mütter und Großmütter – beharrlich dafür gekämpft haben und es oftmals nicht ohne Druck durch gesetzliche Vor gaben möglich wurde.

Die Probleme sind längst erkannt. In netten Sonntagsreden – vor allem beim Internationalen Frauentag – werden diese auch sehr konkret benannt. Wenn es aber um die Beseitigung die ser Probleme geht, herrscht Schweigen. Wer hier dauerhaft auf Freiwilligkeit setzt, wird sehen, dass sich nichts ändern wird.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen sowie der Abg. Gabriele Reich-Gutjahr FDP/DVP)

Wo aber liegen die Probleme? Frauen leisten in der Mehrheit neben Vollzeit- oder Teilzeitjob auch die Familienarbeit. Im Schnitt arbeiten Frauen damit Tag für Tag 90 Minuten länger als Männer. Das ist nur ein Durchschnittswert; in Wahrheit ist diese Zahl wohl noch deutlich höher. Frauen sind dadurch im Verdienst, in der Rente und auch in der persönlichen Karri ereplanung benachteiligt. Frauen droht noch immer deutlich häufiger Armut als Männern, und Frauen verdienen bei glei cher Ausbildung und Qualifikation auch noch immer weniger als Männer.

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Alles Märchen! Märchenstunde!)

Ich weiß, wovon ich spreche. Mitte der Neunzigerjahre war ich alleinerziehend und habe als leitende Angestellte gearbei tet. Ich trug Verantwortung für zwei große Abteilungen mit 15 Vollzeitmitarbeitern plus Auszubildendem. Per Zufall bekam ich mit, dass ein männlicher Kollege, welcher eine Abteilung mit einer Vollzeit- und einer Teilzeitkraft hatte, 500 DM mehr verdiente. Ich bin daraufhin zu meinem Geschäftsführer ge gangen und habe ihn gebeten, mir das bitte mal zu erklären, und ich bekam dann folgende Erklärung zu hören: Der Mann sei ja noch immer der Hauptverdiener in der Familie, und des wegen müsse er mehr verdienen.

(Zurufe)

Ich hielt das damals für eine interessante Feststellung; denn dieser Kollege hatte gar keine Familie,

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Viel leicht hat er besser geschafft als Sie!)

und er wohnte noch bei Muttern zu Hause.

(Abg. Carola Wolle AfD: Das war in den Neunziger jahren!)

Auch heute kenne ich genügend Beispiele, die zeigen, dass es noch immer so ist. Denn diese Einstellung ist noch immer weit verbreitet; der Mann wird noch immer als Hauptverdie ner gesehen.

Deswegen war es richtig, dass die SPD in der Bundesregie rung 2018 das Entgelttransparenzgesetz durchgesetzt hat. Lei der wird davon zu wenig Gebrauch gemacht. Nur wenige

Frauen haben einen solchen Gehaltsvergleich angefordert. Die erste Evaluation zu dieser Problematik hat ergeben, dass die Frauen Angst vor Benachteiligung haben, die eintreten könn te, wenn sie danach fragen. Das ist schon mal ein ganz klares Zeichen dafür, dass dieses Gesetz nicht umsetzbar ist – weil Frauen noch immer Benachteiligungen zu fürchten haben.

Die Rahmenbedingungen für die Erwerbstätigkeit von Frau en stimmen nach wie vor nicht. Fast jede dritte Frau arbeitet in Teilzeit – und das nicht immer, weil sie das will, sondern oftmals, weil sie neben der Familienarbeit einfach keinen Voll zeitjob ausüben kann. 40 % der alleinerziehenden Frauen be ziehen Hartz IV – und das oftmals trotz guter Ausbildung. So gar die OECD bemängelt die Einkommenssituation in Deutsch land durch die Benachteiligung von Frauen.

Was muss sich ändern? Ich nenne ein Beispiel. Es darf nicht sein, dass berufstätige Frauen den größten Teil ihres Einkom mens für die Kinderbetreuung ausgeben müssen. Wir, die SPD Baden-Württemberg, fordern daher die Gebührenfreiheit für die Kinderbetreuung

(Beifall der Abg. Carola Wolle AfD)

und flächendeckend verlässliche Ganztagsangebote.

(Beifall bei der SPD)

Warum sollte in Stuttgart eine Mutter von zwei Kleinkindern arbeiten gehen, wenn sie dafür allein bis zu 1 000 € an Ge bühren für die Kinderbetreuung ausgeben muss – neben ho hen Mietkosten und wahrscheinlich auch hohen Kosten für den ÖPNV?

Wir haben aktuell die bestausgebildete Frauengeneration über haupt.

(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktions los])

Auch hier gern mal ein Beispiel von vielen: Etwa zwei Drit tel der Studierenden in der Humanmedizin sind Frauen. Der Anteil steigt seit Jahren. Aber auf der Karriereleiter spiegelt sich das nicht wider. Mit jeder Stufe wird die Luft dünner. Al lein bei den Oberarztstellen ist nur jede dritte Stelle von einer Frau besetzt, bei den leitenden Positionen nur jede zehnte.

Ich habe dazu in der letzten Legislaturperiode einen Antrag gestellt und habe aus der ganzen Bundesrepublik Beispiele von Frauen bekommen. Mein Antrag wurde sogar auf einem Kongress der Charité als etwas vorgestellt, bei dem man po litisch dringend etwas machen muss.

Fragt man mal nach, warum die Frauen denn da nicht weiter kommen, heißt es: Sie scheitern an den Auswahlkriterien. Das ist ja kein Wunder: Diese Kriterien sind nämlich nur auf Män ner ausgerichtet.

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Sagen Sie es mal konkret! Sagen Sie mal, was denn männ lich ist! – Zuruf der Abg. Carola Wolle AfD)

Diese Liste kann man in alle Richtungen weiterführen, bis hin zu weiblichen Nobelpreisträgerinnen. Immer und immer wie der sind es die Rahmenbedingungen.

Schauen wir uns mal in unserem Bundesland um. Hier ist es bei den Karrierechancen und bei dem beruflichen Aufstieg auch schwierig. Da gibt es deutlich Luft nach oben. Hier könn te man als guter Arbeitgeber der freien Wirtschaft gegenüber klare Zeichen setzen und ein Beispiel geben. Denn diese Ar beitgeber – auch in der Wirtschaft – werden sich nicht bewe gen, wenn das Land hier nicht beispielgebend vorangeht.

Auch hier geht es im gewohnten Schneckentempo munter vo ran. Das zum Ende der letzten Legislaturperiode, im Jahr 2016, verabschiedete Chancengleichheitsgesetz liegt im Dorn röschenschlaf, weil die Evaluation erst kurz vor der nächsten Landtagswahl kommen soll und damit die Lösung des Prob lems der nächsten Landesregierung vor die Tür gekippt wird. Und warum? Weil sich die Häuser nicht einig werden, weil man die Chancengleichheitsbeauftragten noch immer nicht ihre Arbeit machen lässt.