Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung.
Das bedeutet: ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftli che Lage der jungen Menschen. Das konkretisiert die Verfas sung durchaus etwa auch mit der Lernmittelfreiheit. Wir ha ben einen Verfassungsauftrag, der uns verpflichtet, für gerech te Bildungschancen zu sorgen. Das, was wir heute mit dem Prinzip, den Bildungserfolg von der Herkunft zu entkoppeln, formulieren, steht schon immer in unserer Landesverfassung. Deswegen hat sich diese Landesregierung vorgenommen, das, was wir noch nicht erreicht haben, in die Tat umzusetzen.
Weiter heißt es in Artikel 17 Absatz 1 der Landesverfassung zum Schulwesen, der Kernkompetenz eines Landes:
Also ist auch der Geist der Toleranz gemeint. Die Toleranz ist für eine heute viel pluraler gewordene Gesellschaft wichtiger denn je. Das zeigt uns, wie weitsichtig unsere Verfassungsvä ter und -mütter waren, das so zu formulieren. Das gilt an al len Schulen, beispielsweise auch an Privatschulen; das gilt für wirklich das gesamte Schulwesen.
Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christ lichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruf licher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher de mokratischer Gesinnung zu erziehen.
Das zeigt, dass unsere Verfassung das Schulwesen mit seinen hohen Werten grundlegend imprägniert und dass ein Grund zug für das Schulwesen hier wie ein roter Faden alle Artikel durchzieht. Das ist der wirkliche Geist der sozialen Ethik, wie es die Verfassung selbst formuliert.
Das natürliche Recht der Eltern, die Erziehung und Bil dung ihrer Kinder mitzubestimmen, muss bei der Gestal tung des Erziehungs- und Schulwesens berücksichtigt werden.
Daraus folgt, dass so etwas wie eine Erziehungspartnerschaft zwischen der Lehrerschaft und den Eltern eine der tragenden Grundlagen sein muss, ohne die unsere ambitionierten Refor men gar nicht gelingen können. Ich denke, eine wirklich gu te Verfassung ist gerade für die ambitionierten Reformen, die wir vorsehen, eine gute Grundlage und ein guter Wegzeiger.
Natürlich war Anfang der Fünfzigerjahre das christliche Be kenntnis noch völlig selbstverständlich. Längst haben wir auch in religiösen Angelegenheiten Vielfalt. Entsprechend
müssen wir den Geist der Verfassung auf die pluralen Verhält nisse von heute übertragen. Das kann wie etwa beim Kopf tuchstreit zu heiklen und schwierigen Fragen führen. Aber aus solchen Spannungen, die stets im Spiel sind, wo der Geist der Verfassung mit neuen gesellschaftlichen Entwicklungen kon frontiert wird, können auch sehr produktive und weiterfüh rende Lösungen hervorgehen.
Meine Damen und Herren, ich finde, die Mütter und Väter un serer Landesverfassung haben nicht nur baden-württembergi schen Eigensinn, sondern auch viel Weitblick bewiesen. Die Verfassung erschöpft sich eben nicht in der Beschreibung von Institutionen und Verfahren; sie ist ein zutiefst von Werten und Erfahrungen geleitetes Dokument einer Generation, die ihre Lehren aus Krieg und Nazidiktatur gezogen hat. Es lohnt sich, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Meine Damen und Herren, dass wir überhaupt auf Länder ebene Verfassungen haben, ist Ausdruck der Eigenstaatlich keit von Bund und Ländern. Eines gab es nie in der über 1 000 Jahre alten Geschichte Deutschlands: einen mächtigen Zent ralstaat – wenn wir einmal von den zwölf Jahren Nazidikta tur mit ihrer Gleichschaltung aller Ebenen und Bereiche ab sehen. So ist das heutige Deutschland durch ein doppelstaat liches Prinzip geprägt, mit dem Bund als Gesamtstaat und den Ländern als Gliedstaaten. So wurde unser föderales Staatswe sen nach 1945 wirklich von unten nach oben aufgebaut: Zu erst gab es die Kommunen, die als Verwaltungseinheiten im mer intakt blieben, dann kamen die Länder, und erst 1949 kam abschließend der Bund.
Im Grundgesetz ist der Bundesstaat in Artikel 20 festgeschrie ben. Ich will nur einmal darauf hinweisen, dass die Länder und diese föderale Ordnung in Verbindung mit Artikel 79 des Grundgesetzes Ewigkeitsgarantie haben. Dies sei all denen gesagt, die da mit ihren unitarischen Gedanken ein bisschen „herumschrauben“ wollen. Im Zusammenhang mit dem Be kenntnis zur Verwirklichung eines vereinten Europas ist nun auch ausdrücklich der Grundsatz der Subsidiarität im Grund gesetz verankert, wie er im Vorspruch unserer Landesverfas sung ohnehin schon stand.
Dem Geist des Grundgesetzes entspricht eine möglichst kla re und auch für die Bürgerinnen und Bürger demokratisch nachvollziehbare Trennung der jeweiligen Zuständigkeiten und Kompetenzen: Was ist Sache des Bundes, und was ist Sa che der Länder? An rhetorischen Bekenntnissen zu dieser fö deralen Ordnung mangelt es nicht. Worüber wir uns allerdings ernstlich Sorgen machen müssen, ist die Frage, ob, was die postulierte Eigenstaatlichkeit der Länder anbelangt, Verfas sungsidee und Verfassungswirklichkeit immer übereinstim men. Da sind doch einige Zweifel angebracht.
Deswegen müssen wir die Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu gestalten. Wir brauchen eine faire Lastenverteilung, die wirkungsvolle Anreize für Nehmerländer setzt und die finanz stärkeren Länder nicht dauerhaft überfordert. Aber – das ist entscheidend, und das ist jetzt ein Blick auf die laufenden Ko alitionsverhandlungen in Berlin – grundsätzlich müssen die Länder finanziell in die Lage versetzt werden, ihre Kompe tenzen wahrzunehmen und ihre Aufgaben zu erfüllen.
Lassen Sie mich dazu einen kleinen Exkurs machen. Es wird jetzt immer von der Aufhebung des Kooperationsverbots in
der Bildung geredet. Meiner Ansicht nach gibt es so etwas nicht. Es gibt kein Kooperationsverbot, sondern es gibt den Artikel 106 des Grundgesetzes. In diesem Artikel 106 steht – unter der Rubrik „Gemeinschaftsteuern“, wohlgemerkt –, dass Bund und Länder ihre notwendigen Deckungsbeiträge aus handeln und fair ausgleichen sollen. Das steht dort drin.
Ich will noch einmal darauf hinweisen: Die Gemeinschaft steuern heißen nicht nur so, sondern sie sind es auch. Es sind nicht die Steuern des Bundes, von denen er uns bei einigen Programmen gnädig etwas abgeben darf, um dann in unsere Schulpolitik hineinzuregieren. Das steht dort nirgends. Die Gemeinschaftsteuern stehen Ländern und Bund gemeinsam zu, und sie müssen sie nach ihren Deckungsbedürfnissen auch gemeinsam aushandeln.
Wenn die Ministerpräsidentenkonferenz im Jahr 2008 zusam men mit der Bundeskanzlerin entschieden hat, dass 10 % des Bruttoinlandsprodukts in Bildung, Wissenschaft und For schung fließen müssen, dann muss man dem bei der Vertei lung des Umsatzsteueraufkommens eben auch entsprechen des Gewicht verleihen. Es geht da ja um Geld, und dieses Geld benötigen wir. Es steht uns zu. Darüber besteht allgemein Konsens. Deswegen gibt es kein Kooperationsverbot, sondern es gibt ein faires Aushandeln dieser Deckungsbeiträge. Das zu berücksichtigen ist meine große Empfehlung an die, die jetzt verhandeln.
Ich möchte aber auch sagen: Wenn es unter Umständen eine Föderalismuskommission III geben wird, in der wir die Fi nanzbeziehungen neu ordnen, dann sollten wir – Baden-Würt temberg hat es schon einmal in der Föderalismuskommission eingebracht – noch einmal aufs Tapet bringen, dass wir auch eigene Steuererhebungsrechte haben wollen. Denn abgesehen von der Grunderwerbsteuer haben wir diese nicht. Insofern sind wir schon ein bisschen ein „halbierter Staat“, der keine eigenen Steuererhebungsrechte hat. Wir sind in dieser Hin sicht schlechter dran als unsere Gemeinden. Wir sollten we nigstens Zuschläge auf die Einkommen- und Körperschaft steuer durchsetzen. Das wäre, glaube ich, wichtig, um die Ei genstaatlichkeit der Länder zu stärken.
Meine Damen und Herren, ich denke, bei einem solchen Fest akt ist es wichtig, auch etwas zu den aktuellen Blickrichtun gen im Hinblick auf die Verfassung zu sagen. Das wäre sozu sagen die äußere Stoßrichtung, um den eigenständigen Cha rakter unseres Landes zu stärken und wieder stärker zu beto nen.
Die andere, zumindest ebenso wichtige Stoßrichtung wendet sich nach innen, an die Bürgerinnen und Bürger: Wie können sie sich noch mehr mit unserem Gemeinwesen, mit unserer Res publica identifizieren und wie mit unserer, mit ihrer Lan desverfassung?
Ein wichtiger Schritt ist dabei schon einvernehmlich gelun gen, nämlich zum 1. April 2013 die Landesverfassungsbe schwerde einzuführen und damit den Bürgerinnen und Bür gern von Baden-Württemberg einen direkten Zugang zum Ver fassungsgericht des Landes zu eröffnen, ihren Grundrechts
schutz auszuweiten und damit generell unsere Verfassung stär ker ins private und öffentliche Blickfeld zu rücken. Auch sind wir auf gutem Weg, die Möglichkeiten von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie in Baden-Württemberg deutlich aus zuweiten und so auch das in der Landesverfassung angelegte plebiszitäre Element zu stärken.
Mit diesem Themenbereich wird sich nun Herr Professor Dr. Kirchhof in seinem Vortrag schwerpunktmäßig befassen.
Abschließend möchte ich noch sagen: Seien wir stolz auf die se Landesverfassung! Und halten wir sie nicht nur in Ehren, sondern versuchen wir, sie auch mit Leben zu erfüllen. Sie ist in vielerlei Hinsicht von großer Weitsicht getragen und kann uns wertvolle Orientierung geben.
Festrede von Professor Dr. Ferdinand Kirchhof (in der vom Redner schriftlich nachgereichten Fassung):
Eine Verfassung soll Grundentscheidungen für das Staatswe sen treffen, aber den Bürger nicht bevormunden, sondern ihm seine Freiheit lassen. Sie soll für das Handeln der Staatsorga ne einen Rahmen setzen, aber ihnen auch rechtlichen Halt ge ben und eine feste Staatsstruktur auf Dauer erreichen. Zudem soll sie aktuell bleiben und auf neue Anforderungen reagie ren. Die baden-württembergische Verfassung hat sich hierin seit 60 Jahren gut geschlagen. Dabei fiel es ihr gar nicht leicht: Zuerst musste sie ein neues Land, aus drei alten gebildet, zu sammenführen und zusammenhalten. Sie musste eine weitrei chende Kommunalreform mitsteuern, gesellschaftliche Aus einandersetzungen um das richtige Schulsystem begleiten und für stabile und geordnete Staatsfinanzen sorgen. Das alles hat sie mit nur 20 Änderungen ihres Textes in 60 Jahren bewäl tigt. Sie hat ihren Stresstest glänzend bestanden. Grund ge nug, heute zu feiern.
Eine Verfassung muss aber nicht nur sichere Strukturen im Staat vorgeben, sie muss auch auf neue Lagen reagieren. Da zu benötigt sie entweder einen weit gefassten Text; der Staats gerichtshof kann dann die notwendige Feinsteuerung vorneh men. Oder die Legislative selbst muss ihn novellieren, wenn eine neue Frage auftaucht.
An dieser Stelle stehen wir zurzeit wieder. In der Gesellschaft ist ein neues, konstitutionelles Thema aufgetaucht. Früher al lein in akademischen Zirkeln diskutiert, hat es heute den Rang eines allerorts erhobenen politischen Rufs erreicht. Er lautet: Der Bürger will gehört werden! Genauer: Der Bürger will mehr gehört werden, will sich zu Sachfragen direkt äußern, will aktuell und dauernd an Staatsentscheidungen mitwirken. Die repräsentative Demokratie gibt ihm nur das Recht, auf vier oder fünf Jahre Personen zur Ausübung der Staatsgewalt
zu wählen. Dieses System mittelbarer Volksbeteiligung ist in Deutschland zwar sehr ausgeprägt und ausgereift. Es gibt al le vier Jahre Wahlen im Bund, in ähnlichen Zeiträumen in 16 Ländern, nach Artikel 28 GG auch in den Kommunen; wir wählen das Europäische Parlament. Aber die Befugnis zur un mittelbaren Sachentscheidung und Rechtsetzung fehlt ihm bis heute weitgehend.
Deshalb wird der Ruf nach mehr direkter Demokratie immer lauter. Vor langer Zeit sang schon der Politbarde Franz Josef Degenhardt davon, dass es ihm nicht genüge, nur alle vier Jah re ein Kreuzchen zu machen. Dann forderten politische Par teien „mehr Demokratie zu wagen“. Aus Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 GG wurde sogar eine Pflicht zur unmittelbaren Volks beteiligung behauptet, denn dort ist davon die Rede, dass die Staatsgewalt „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen“ aus geübt werde. Der baden-württembergische Landtag diskutiert die Frage seit fast 15 Jahren in seinen Sitzungen.
Es gibt auch viele gute Gründe für die unmittelbare Demokra tie. Sie kann politische Fragen ohne Umwege über Mandats vertreter mit zusätzlichen, eigenen Interessen als Berufspoli tiker oder Parteimitglieder lösen, sie ermöglicht tagesaktuel le Entscheidungen, statt den Bürger zu nötigen, das Ruder für vier bis fünf Jahre an andere abzugeben, und verleiht so der Demokratie Legitimation im Augenblick der Beschlussfas sung. Sie gibt auch der Opposition eine Chance, außerhalb des Parlaments andere Auffassungen in die Öffentlichkeit zu brin gen. Mit ihrer Hilfe wird eine konkrete Sachfrage entschie den, statt die Abstimmbefugnis für eine Gesamtpolitik an Mandatsträger abzugeben. Der Bürger identifiziert sich mehr mit seinem Staat, weil er an ihm selbst mitwirkt. Direkte De mokratie kann Schweigethemen der Politik und der Medien durch Volksinitiativen aufgreifen. Es kommt zu einer Politik nach den Interessen des Volkes vor Ort statt verbandsorien tierter und edukativer Elitenentscheidungen, die sich als pa ternalistische Vordenker gerieren, dabei aber vom Volkswil len entfernen. Diese Überlegungen begründen das Empfinden des Bürgers, dass die direkte Demokratie die bessere Demo kratie sei.
Trotz dieses zweifellos gefühlten Bedarfs der Bevölkerung nach mehr Demokratie stößt eine Suche nach dafür bereits vorhandenen Instrumenten, Verfahren und Praktiken in Deutschland auf einen recht kärglichen Befund. Auf den Ebe nen des Bundes und Europas existiert fast nichts, die Länder sehen in ihren Verfassungen etliche Instrumente direkter De mokratie vor, die Kommunen besitzen sie ebenfalls und prak tizieren sie auch. Auf diesen zwei unteren Ebenen gibt es zwar schon längst rechtlich institutionalisierte Prozesse unmittel barer Demokratie, aber sie existieren nur sporadisch als Re serveinstrumente für atypische Situationen. Sie bleiben selte ne Exoten in einer prinzipiell repräsentativen Demokratie. Diese Instrumente sind wie Meißner Porzellan: glänzend und schön anzusehen, aber untauglich für den Alltag. Dabei brau chen wir demokratisches Alltagsgeschirr.