Trotz dieses zweifellos gefühlten Bedarfs der Bevölkerung nach mehr Demokratie stößt eine Suche nach dafür bereits vorhandenen Instrumenten, Verfahren und Praktiken in Deutschland auf einen recht kärglichen Befund. Auf den Ebe nen des Bundes und Europas existiert fast nichts, die Länder sehen in ihren Verfassungen etliche Instrumente direkter De mokratie vor, die Kommunen besitzen sie ebenfalls und prak tizieren sie auch. Auf diesen zwei unteren Ebenen gibt es zwar schon längst rechtlich institutionalisierte Prozesse unmittel barer Demokratie, aber sie existieren nur sporadisch als Re serveinstrumente für atypische Situationen. Sie bleiben selte ne Exoten in einer prinzipiell repräsentativen Demokratie. Diese Instrumente sind wie Meißner Porzellan: glänzend und schön anzusehen, aber untauglich für den Alltag. Dabei brau chen wir demokratisches Alltagsgeschirr.
In den Gemeinden sind zahlreiche Instrumente, wie Bürger versammlung, -initiative, -begehren und -entscheid, vorhan den, die unmittelbare Sachentscheidungen durch das Gemein devolk ermöglichen. In den Verfassungen der Länder sind ebenfalls etliche Instrumente vorgesehen. In Baden-Württem berg ermöglichen vor allem die Artikel 59 und 60 LV mit den Instituten des Volksbegehrens und der Volksabstimmung eine echte Volksgesetzgebung. Eine Volksinitiative besserer Aus stattung ist ebenfalls geplant. Die Landesverfassung steht al so normativ gut gerüstet für die direkte Demokratie da. Den noch ist es in Baden-Württemberg bisher nur zu fünf Abstim mungen gekommen; die meisten befassten sich mit dem Zu sammenschluss zum neuen Südweststaat Baden-Württemberg, eine mit der Auflösung des Landtags und eine weitere mit dem Umbau des Kopfbahnhofs in einen unterirdischen Durch gangsbahnhof in Stuttgart, kurz: Stuttgart 21. Wir benutzen die Verfahren der unmittelbaren Demokratie also nur halbher zig.
Sie sind in ihren Voraussetzungen auch zu zögerlich. Das Zu sammenspiel von Volk und Parlament ist in Artikel 59 f. LV strukturell nur unzureichend geregelt, die Initiative des Par laments zur Volksgesetzgebung wird durch die vorgesehene Mitwirkung der Regierung gehemmt, die bei grundsätzlichen oder normativen Entscheidungen der Ersten Gewalt fehl am Platze ist, und die Initiative ist dem Volk nur für Gesetzent würfe statt auch für die Beantwortung von grundsätzlichen Sachfragen eingeräumt. Es fehlt also eine klare, einfache und alltagstaugliche Struktur direkter Demokratie. So musste ein Mitglied des baden-württembergischen Landtags im Oktober 2010 ernüchtert feststellen, dass bisher in jedem der 16 Län der durchschnittlich lediglich alle 35 Jahre eine Volksabstim mung stattgefunden hatte.
Bund und Europäische Union beziehen sogar eine deutliche Stellung gegen die direkte Demokratie. Man könnte gerade zu ein Gesetz abnehmender Volksbeteiligung bei größerer Ent scheidungsebene feststellen, das für Kommunen, Länder, Bund und Europäische Union gilt. Bei den beiden Letztge nannten fehlen fast alle Instrumente unmittelbarer Demokra tie.
Im Bund lässt Artikel 20 Absatz 2 GG alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen und sieht Volksabstimmungen und Entschei dungen besonderer Organe der Gesetzgebung, also Instrumen te der direkten und der indirekten Demokratie, vor. In den Ar tikeln 76 ff. GG werden dann aber alle Entscheidungsbefug nisse der Legislative für das Parlament reserviert. Lediglich der Zuschnitt der Länder wurde dem Volk in den Artikeln 29, 118 und 118 a GG übergeben. Auch der Beschluss einer ganz neuen Verfassung, die das Grundgesetz ersetzen würde, ist nach Artikel 146 GG dem Volk übertragen; diese Vorschrift bekundet aber nur die Selbstverständlichkeit, dass der pou voir constituant direkt beim Volke liegt. Die Analyse zeigt al so den Bund als faktisch nur repräsentative Demokratie.
Ein Blick auf die Europäische Union bestätigt dieses Gesetz abnehmender direkter Demokratie bei steigender Entschei dungsebene. Die Union scheut sich geradezu vor direkter De mokratie. Hier handeln Kommission, Rat und Europäisches Parlament. Letzteres besitzt nur sehr begrenzte Mitwirkungs
befugnisse. In der Praxis herrscht hier statt parlamentarischer sogar gouvernementale Rechtsetzung durch die Zweite Ge walt vor, weil die beiden Hauptakteure aus der Exekutive stammen oder Exekutivfunktionen ausüben. Der Rat setzt sich aus Regierungsmitgliedern der Mitgliedsstaaten zusammen, die Kommission versteht sich nach ihren Kompetenzen als eu ropäische Regierung. Wo der Vertrag über die Europäische Union in Artikel 10 f. seinen Blick endlich einmal auf die Be völkerung richtet, wehrt er direkte Demokratie geradezu ab. Diese Vorschriften beginnen mit der Formulierung:
Darin liegt eine grundsätzliche Absage an die direkte Demo kratie. Sodann werden politische Parteien, repräsentative Ver bände und die Zivilgesellschaft als Transmissionsriemen des Volkswillens genannt. Man lässt also das Volk allenfalls durch Vermittler sprechen. Erst ganz am Schluss, nämlich in Artikel 11 Absatz 4 EUV, kommen die Lissaboner Verträge direkt auf das Volk zurück. Danach können EU-Bürger – so der Wort laut der Vorschrift –
die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vor schläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen … es eines Rechtssatzes der Union bedarf, um die Verträge umzuset zen.
Es gibt also nur eine Volksinitiative, keinen Volksentscheid. Sie kann sich nur an die Kommission wenden, weder an den Rat noch an das Parlament. Die Kommission darf nach dieser Vorschrift Vorschläge unterbreiten, die allein der Umsetzung des Primärrechts durch neue Normen der Union dienen. Die se Initiative ist völlig unverbindlich, läuft über die Kommis sion und mündet nur in Vorschläge. Die Vorschläge der EUBürger dürfen nicht einmal zu fertig formulierten Gesetzent würfen der Union Stellung nehmen, nicht zu anderen Themen als der Umsetzung des Vertrags aufrufen, keine Änderungen des Primärrechts anregen oder gar die Kompetenzen der EU kritisieren. Deutlicher kann man eine Absage an eine direkte Demokratie in der Europäischen Union kaum formulieren. Europa versteht sich weiterhin als politische Elite, die sich bei ihren zentralisierenden und hierarchisierenden Vorhaben vom Volk nicht stören lassen will.
Der Ruf nach mehr und nach direkter Demokratie ist laut zu hören, aber von der Politik noch nicht mutig aufgenommen worden. Union und Bund verweigern sich ihm, das Land und seine Kommunen besitzen dafür nur sperrige Instrumente, die allein punktuell, sporadisch und schwerfällig genutzt werden. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass Baden-Württemberg nun zur Verbesserung direktdemokratischer Beteiligung seiner Einwohner ansetzen will.
Der Ruf nach mehr direkter Demokratie zwingt zur Definiti on dieser gewünschten Staatsform, denn das Ziel muss klar sein, bevor man sich auf den Weg macht. Hier genügt eine knappe Charakterisierung, nämlich die Feststellung, dass di rekte Demokratie stattfindet, wo der Bürger selbst ohne Ver mittlung dritter Personen und Organe die politischen Sachent
scheidungen im Gemeinwesen bestimmt. Da er dann öfter ent scheiden muss als bei Wahlen zum Parlament, bedeutet das „Direkte“ zwangsläufig auch ein „Mehr“, nämlich ein „Häu figer“ an demokratischen Abstimmungshandlungen.
Zugleich zeigt die knappe Definition das Wesentliche der di rekten Demokratie in drei Punkten auf. Erstens die unmittel bare Entscheidung des Bürgers ohne dazwischengeschaltete Repräsentationsorgane, zweitens die Beschränkung auf Ab stimmungen über Sachfragen, denn unmittelbare Wahlen von Personen führen stets und unvermeidlich zur indirekten De mokratie, weil die Gewählten dann die Staatsgewalt anstelle der Wähler ausüben und für jene entscheiden. Drittens ent scheidet der Bürger selbst politische Fragen. Er wird nicht le diglich informierend oder unverbindlich an den Beschlüssen dritter Behörden beteiligt, wie es z. B. in der Bauleitplanung der Fall ist. Dort wird Partizipation geübt, um die Behörde über Fakten und private Interessen zu informieren, die sie für ihre eigene Entscheidung benötigt. Der Bürger kann dort sei ne Auffassung einbringen, aber nicht durchsetzen. Diese Bür gerpartizipation optimiert Verwaltungsbeschlüsse und sichert deren Rechtmäßigkeit. Die direkte Demokratie lässt ihn hin gegen selbst verbindlich das Ergebnis festlegen und Rechts regeln setzen.
So war z. B. die Mitwirkung der Bürger an der Planung von S 21 ursprünglich lediglich als Partizipation gedacht. Erst die Volksabstimmung, ob ein Durchgangsbahnhof gebaut wird, führte zur direkten Demokratie als Willensbildung des Bür gers. Hier sieht man, dass zwischen Bürgerpartizipation in der Planung und unmittelbarer Demokratie als Rechtsetzung flie ßende Grenzen bestehen. In diesem anfangs unbemerkten Übersprung der Planung von Stuttgart 21 von der Bürgerpar tizipation zur direkten Demokratie dürfte auch ein Grund für den Unwillen im Volk über dieses Vorhaben liegen.
Die unmittelbare Demokratie beansprucht für sich, dem Bür ger mehr Mitwirkungsrechte zu geben und die Fehler der re präsentativen Demokratie zu beseitigen. Diese sind im Schlag wort nur kurz in Erinnerung zu rufen, weil sie allgemein be kannt sind: Die mittelbare Demokratie führe zu einer Herr schaft der Ministerial- und Regierungsexekutive statt des Par laments, sie setze Recht durch eine politische Klasse mit Ei genleben und eigenen Interessen, sie entfremde sich vom Volk, weil sie auf Funktionärsmacht beruhe; das Parlament reagie re nur auf politisch organisierte Kräfte wie Parteien, Verbän de oder Medien, nicht aber auf die aktuelle Volksmeinung, und lasse so Schweigespiralen entstehen; sie sei durch einen Wahlakt nur alle vier oder fünf Jahre zu schwach legitimiert.
Diese Vorwürfe geben sicher Anlass zur Verbesserung der in direkten Demokratie, aber sie diskreditieren sie nicht. Im Ge genteil können gerade ein Parlament aus Berufspolitikern und eine vier- bis fünfjährige Wahlperiode, die als Vorwurf gegen sie verwendet wird, ihre Stärken zeigen, nämlich ihre Profes sionalität und Stabilität. Eine repräsentative Demokratie ge staltet die Politik professionell, denn ein Berufspolitiker denkt
längerfristig, er gleicht seinen Standpunkt mit anderen Mei nungen ab, er entwickelt eine Streitkultur zu entgegenstehen den Meinungen, er koaliert in ausgleichenden Vereinbarun gen und widersteht auch einer aktuellen, aufgeheizten Volks stimmung bei Skandalen unter politischer Empörung.
Die parlamentarische Demokratie gibt für eine Legislaturpe riode Planungssicherheit, sodass langfristige, vernünftige und in sich abgestimmte Projekte über Jahre hinaus durchgesetzt werden können. Die direkte Demokratie neigt dagegen manch mal zu hektischer Tagespolitik, sie verliert in kurzem Atem langfristige Großvorhaben aus dem Auge, zuweilen bestim men Emotionen und politische Naivität ihre Entscheidungen.
Diese Vorteile mittelbarer Legislative geben zur Vorsicht An lass, zugunsten einer direkten Rechtsetzung vorschnell diesen Demokratietyp über Bord zu werfen. Man muss sich immer vor Augen halten, dass sie das historische Zertifikat 60-jähri ger Bewährung vorweisen kann.
Auch sieht sich die unmittelbare Demokratie ihrerseits eini gen Vorwürfen ausgesetzt, die das Bild vom bürgerfreundli chen Ideal etwas opak werden lassen. Seit 68 Jahren wird der Einwand laut, die Ereignisse bis 1945 hätten gezeigt, dass die direkte Demokratie Deutschland nicht gut bekäme. Er beruht auf weiter entfernter Geschichte und hat unterdessen Patina angesetzt, denn er ist mittlerweile 68 Jahre alt. Wollten wir nicht alle spätestens mit 68 in Rente gehen? Kann ein empi rischer Befund, der vor etlichen Dekaden zutraf, heutige We ge versperren? Ich glaube, die Bevölkerung ist mittlerweile politisch versierter, in demokratischen Praktiken erfahrener und durch die Medien sensibler für Politik und Macht, für Freiheit und Verantwortung geworden, sodass eine direkte Einflussnahme auf politische Sachentscheidungen nicht mehr zu populistischen Ergebnissen führen würde.
Man wird allerdings bei Volksabstimmungen auch von der Be völkerung mehr Ernsthaftigkeit und Fairness einfordern und rechtlich sichern müssen. Wir neigen in Deutschland allzu sehr zur Moralisierung von Entscheidungen, statt sie als nüch terne Mehrheitsbeschlüsse über zwei jeweils an sich legitime Interessen zu betrachten. Politische Abstimmungen lösen nicht Konflikte zwischen Gut und Böse, sondern entscheiden sich für eines von mehreren gleich legitimen Interessen. Deshalb bereitet mir der in Stuttgart entdeckte und viel zitierte „Wut bürger“ Sorgen. Mir ist immer noch vor Augen, wie auf einer Demonstration zu Stuttgart 21 ein Transparent getragen wur de mit der Aufschrift „Unser Zorn trifft auf eure Lügen“. So funktioniert Demokratie nicht! Eine politische Auseinander setzung ist kein Glaubenskrieg. Die andere, entgegengesetz te Auffassung ist nicht unmoralisch, dass man sie aus ethi schen Gründen absolut verhindern müsste, sondern sie setzt nur andere, ebenfalls einsichtige Schwerpunkte. Der Mehr heitsbeschluss entscheidet zwischen zwei vertretbaren Mei nungen.
Jeder kann sich für eine dieser Meinungen stark engagieren. Mit dem Majoritätsbeschluss ist die Sache dann aber endgül
tig entschieden. Die Minorität muss ihre andere Auffassung nicht aufgeben, aber das Abstimmungsergebnis akzeptieren. Heute beobachten wir, dass die unterlegene Minderheit im Glauben an ihre vermeintlich bessere Überzeugung die Mehr heitsentscheidung nicht als abschließende, politische Antwort auf die Vorlagefrage hinnimmt, sondern versucht – gegen Stuttgart 21 mittlerweile in der 200. Montagsdemonstration! –, die Durchführung des Majoritätsbeschlusses weiter zu ver eiteln. Sie missachtet den demokratischen Rechtsfrieden: Wenn das Volk gesprochen hat, ist die Sache erledigt. Man wird von der Minorität künftig öffentlich verlangen müssen, den Entscheid der Mehrheit zu respektieren, das heißt ihn als endgültig zu akzeptieren. Insoweit ist die Demokratie ganz einfach und klar strukturiert. Daran muss man auch das Volk immer wieder erinnern. Wir müssen also mehr demokratische Kultur und Distanz zur eigenen Meinung vom Volk fordern. Dies ist freilich nicht durch Rechtsregeln erzwingbar; es bleibt eine Aufgabe für Medien, Schule und Politik.
Als nächster Einwand wird vorgebracht, Plebiszite führten in der Regel nur zur Verneinung der Vorlagefrage. Das Volk lie be es, den politisch Mächtigen in den Arm zu fallen, statt sach lich abgewogen über das Für und Wider zu entscheiden. Der Spaß am „Nein“ regiere die Volksabstimmung. Die Geschich te deutscher Volksentscheide belegt das Gegenteil. In letzter Zeit wurde in Hamburg über den Ankauf von Stromnetzen, in Hessen über die Einführung einer Schuldenbremse, in Bay ern über den Nichtraucherschutz positiv mit einem Ja abge stimmt. Die Zusammenführung von drei Landesteilen zu ei nem neuen Land Baden-Württemberg hatte plebiszitär Erfolg. Auch Stuttgart 21 hat zu einem fast 60-prozentigen Ja für den Umbau des Hauptbahnhofs geführt, obwohl sogar politische Parteien sich heftig dagegen stemmten. Der historische Be fund zeigt, dass die Vorstellung vom Plebiszit als steter Ne gation die Realität nicht richtig abbildet.
Gravierender wäre der Vorwurf, wegen geringer Beteiligung würden Minderheiten letztlich Volksabstimmungen tragen. Gegen dieses Argument ist allerdings Behutsamkeit ange bracht. Denn die parlamentarische Demokratie zeigt sich in dieser Perspektive nicht besser. Hinter der Abstimmung zu Stuttgart 21 standen mit einer positiven Entscheidung zum Umbau 28 % der Bevölkerung. Die zwei Südweststaatabstim mungen wurden von 41 und 51 % der Abstimmungsberech tigten getragen. Landtagsbeschlüsse weisen dagegen häufig einen geringeren Prozentsatz positiv dahinter stehender Wäh ler auf. Analysiert man in grober, überschlägiger Rechnung, wie viele Wähler durchschnittlich positiv hinter jedem Abge ordneten des baden-württembergischen Landtags in der lau fenden Periode stehen, entfallen nach Einbezug der Wahlbe teiligungsquote, der Verluste durch die 5-%-Klausel und der unterschiedlichen Direkt- und Zweitmandatsstimmen auf je den Mandatsträger durchschnittlich etwa 32 % der Wähler, die für ihn gestimmt haben. Nimmt man noch die politische Praxis hinzu, dass ein Gesetz kaum jemals einstimmig im Landtag beschlossen wird, und das Plenum hin und wieder nicht voll besetzt ist, so kommt man auf Prozentzahlen, die eine erheblich geringere Legitimation belegen. Der Vorhalt geringerer demokratischer Legitimation von Volksabstimmun gen greift also nicht durch, das Gegenteil ist der Fall.
Es gibt allerdings einen gewichtigen Einwand, den direktde mokratische Elemente in einer Verfassung berücksichtigen müssen. Die Volksgesetzgebung gaukelt das unerreichbare Ideal vor, dass aus der Mitte des Volkes die Vorlagefrage oder der Entwurf eines Gesetzes komme, den jenes dann beschlie ße. Diese Ansicht verbreitet demokratische Folklore. Möglich ist allein, dass das Volk im Ja-Nein-Verfahren über die Vorla gefrage beschließt; so sieht es auch Artikel 26 Absatz 5 der baden-württembergischen Landesverfassung vor. Die Formu lierung der Abstimmungsfrage ist ihm unmöglich. Dazu be darf es eines Verfassers mit geordneten Strukturen und klarer Zielsetzung; auch wäre Expertise in Legislativfragen nicht verfehlt. Der Text einer Vorlage stammt nie aus dem Volk, son dern von Dritten. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat diesen As pekt treffend mit der Bemerkung herausgegriffen, die direkte Demokratie habe „Antwortcharakter“. Die Frage formuliert ein Dritter, das Volk beantwortet sie nur. Damit bestimmt ein Dritter erheblich Inhalt und Abstimmungsergebnisse, denn wer formuliert, stellt bereits grundlegende Weichen. Das birgt das Risiko einer Minderheiten-, Verbands- oder Interessenpo litik, die einen Text vorlegt, darin die eigenen Interessen ver steckt und später das Beschlussergebnis als Stimme des Vol kes ausgibt.
Zudem kann das Volk selbst seine Willensbildung nicht orga nisieren und dafür Verfahrensregeln setzen. Hier sind Siche rungen gegen Zufallsentscheidungen des Volkes notwendig, damit Dritte das politische Geschehen nicht unbemerkt fehl steuern. Noch weitere Risiken direkter Demokratie sind zu bedenken, zum Beispiel die Abhängigkeit von tagespoliti schen Stimmungen bis hin zum Volkszorn und der Einfluss wirkmächtiger Medien oder rhetorisch starker Minderheiten. Auch die fehlende Sachkunde bei manchen Entscheidungen muss in die Erwägungen über die Einführung direktdemokra tischer Elemente eingestellt werden.
Die dargestellten Funktionsbedingungen der parlamentari schen sowie der direkten Demokratie führen mich zu folgen dem Vorschlag: Wenn beide Typen der Demokratie ihre Ha ken haben, wenn die indirekte Demokratie den Vorzug der Professionalität und Stabilität aufweist und die unmittelbare die Vorteile aktueller Legitimation und Identifikation des Bür gers mit seinem Staat bringt, warum verknüpfen wir nicht die Vorteile beider und schalten ihre jeweiligen Risiken aus durch Verbindung beider Demokratietypen in einer Referendums demokratie mit einem Initiativrecht des Volkes? Summieren wir die zwei Stärken jeder Demokratieform zum Ausgleich ihrer jeweiligen Schwäche in folgender Weise: Das bisherige, zweitaktige Gesetzgebungsverfahren aus Gesetzesinitiative und Gesetzesbeschluss des Parlaments wird in geeigneten Fäl len auf drei Takte erweitert, die das Volk ebenfalls zu seinem Recht kommen lassen; zusätzlich wird dem Volk ein Initiativ recht eingeräumt. Die Entscheidung über Sachfragen und Ge setzentwürfe würde dann folgendermaßen verlaufen: Ein Ab stimmungsverfahren begänne mit einer Initiative aus dem Par lament oder aus dem Bereich des Volkes. Die daraus entstan dene Vorlagefrage würde im Parlament erörtert, durch Be
schluss entschieden und sodann über diesen Beschluss ein Re ferendum des Volkes abgehalten. Der erste Takt bestünde in der Vorlageinitiative durch Parlament oder Volk. Der zweite Takt wäre der Parlamentsbeschluss über die Vorlage. Stammt er aus dem Parlament selbst, folgt das übliche Gesetzgebungs verfahren.
Liegt hingegen eine Vorlage des Volkes vor, beginnt die di rekte Demokratie. Deren Behandlung im Parlament und sein nachfolgender Beschluss eröffnen ihm drei Möglichkeiten: Der Landtag kann der Vorlage unverändert zustimmen; damit ist sie endgültig beschlossen; eines Referendums im dritten Takt bedarf es gar nicht mehr. Dieses Vorgehen im zweiten Takt ist in Artikel 60 Absatz 1 Satz 1 LV bereits vorgesehen. Erkennt das Parlament aus der Vorlage, dass ein Thema auf geworfen wird, das einer politischen Lösung bedarf, will aber die von der Volksinitiative vorgeschlagene Lösung nicht mit tragen, so kann es einen Alternativentwurf ausarbeiten, be schließen und sodann beide Alternativen dem Volk vorlegen, wie es schon heute Artikel 60 Absatz 1 Satz 2 LV erlaubt. Da mit richtet es sich nicht thematisch gegen die Volksinitiative, sondern will die politische Frage nur anders beantworten. Drittens kann das Parlament die Volksinitiative – selbstver ständlich mit Begründung – ablehnen und auf diese Weise die Faktoren der Professionalität und der Stabilität der indirekten Demokratie ins Spiel bringen; damit wäre die Volksinitiative endgültig gescheitert.
Gegen diese Möglichkeit wird sofort eingewandt, das Parla ment beschließe dann gegen das Volk; ein solches Verhalten würde ein demokratisches Staatssystem nicht ertragen. Im Er gebnis erweist sich dieser Einwand aber nicht stichhaltig. Ein Blick in die Schweiz mit ihren zahlreichen Referenden zeigt bereits, dass in der öffentlichen Meinung Initiativen des Vol kes anders wahrgenommen werden. Dort weiß man, dass sie nicht direkt aus dem Volk kommen, sondern Versuche politi scher Gruppen, Verbände oder Interessengemeinschaften dar stellen, über einen Volksentscheid die eigenen Belange demo kratisch zu fixieren, und dass erst im dritten Takt, dem Refe rendum, tatsächlich „das Volk“ spricht. Bisher haben wir im mer eine Volksinitiative als Akt gesehen, der, wenn er zuläs sig ist, zwingend zur Volksabstimmung führen muss und da mit dem Parlament nur die Nebenrolle eines Kommentators oder Rezensenten der Volksvorlage einräumt. Wenn man aber erkennt, dass Volksinitiativen ihrem Namen nicht immer ge recht werden, sondern letztlich meist Gruppeninitiativen sind, wandelt sich das Bild. Diese Initiativen sind von gleicher Wer tigkeit wie die Gesetzesvorlage einer Fraktion oder der Re gierung, die ins Parlament eingebracht wird. Sie dürfen des halb nach freiem politischem Ermessen von den Abgeordne ten auch gleich behandelt, das heißt auch abgelehnt werden. Eine Volksinitiative entfaltet erst eine das Parlament erdrü ckende Wucht, wenn sie wirklich von einer breiten Mehrheit im Volk getragen wird.