Protocol of the Session on April 25, 2012

Täuschen wir uns freilich nicht selbst: Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen, und am siebten Tag ruhte er. Wir aber dürfen auch nach 60 erfolgreichen Jahren in der siebten De kade nicht abschalten und uns ausruhen. Wir müssen das „Ge meinschaftswerk Baden-Württemberg“ miteinander fortset zen.

„Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“ Vor 60 Jahren hät ten wir uns noch nicht getraut, diesen bescheidenen Superla tiv zur Selbstcharakterisierung zu verwenden. Heute sind wir da ganz sicher, sogar unabhängig von den Wechselfällen des politischen Lebens.

Aber wie eingangs angedeutet: Das Können muss durch das politische Wollen realisiert werden, oder konkret: Ein wahrer Alleskönner lebt nicht auf Pump! Baden-Württemberg ohne zusätzliche Staatsschulden – das dürfen wir nicht als zu „an strengend“ empfinden. Auch in dieser Feststellung liegt die Betonung auf „wir“. Das beinhaltet auch den Appell an unse re Bürgerinnen und Bürger, den steinigen Weg des Konsoli dierens und Sparens aktiv mitzugehen. Begreifen wir das Po sitive, das wir ererbt, erfahren oder erarbeitet haben, dezidiert als Verpflichtung zu Solidität und Gewissenhaftigkeit, und be greifen wir noch nicht gelöste Probleme oder neue Fragen weiterhin als Herausforderungen, die wir im Geiste unserer Landesgründung ohne Scheu vor politischen Anstrengungen anpacken sollten.

Auf dass wir aus Überzeugung und frohgemut bekennende Baden-Württemberger bleiben! Denn: Wir sind Baden-Würt temberg!

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall)

Herr Landtags präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sehr geehrte Mitglieder des Kon sularischen Korps, Herr Präsident des Staatsgerichtshofs, ver ehrter Herr Teufel! Ich freue mich, dass Sie da sind. Ich darf die ehemaligen Landtagspräsidenten Gaa und Schneider be grüßen, Herrn Oberbürgermeister Dr. Schuster, und ich darf auch unsere Bischöfe herzlich begrüßen, Herrn Erzbischof Dr. Zollitsch, Herrn Bischof Dr. Fürst sowie die Landesbischöfe July und Dr. Fischer. Ich darf auch sagen: Als die vier Bischö fe im vorangegangenen Gottesdienst zu viert ihren Segen auf Land und Leute heruntergerufen haben, dachte ich: Da kön nen wir wirklich zuversichtlich in die Zukunft schauen.

(Beifall)

Liebe Förderpreisträger des Schülerwettbewerbs des Landtags, meine Damen und Herren! Ein starkes Land wird 60. Als heute vor 60 Jahren die Geschichte unseres Landes begann, war noch nicht abzusehen, welche Erfolgsgeschichte es werden würde. Die Gründung des Südweststaats war der Versuch eines neuen An fangs, ein Wagnis nach der NS-Diktatur und einem barbarischen Weltkrieg, dessen Spuren damals auch im Südwesten noch über all sichtbar waren. Zerstörte Städte im Wiederaufbau, eine Viel zahl von Witwen und Waisen, Familien, die sich um vermisste Angehörige sorgten, Flüchtlinge, die integriert werden mussten, all das bestimmte damals noch den Alltag.

Hinzu kam, dass die Vereinigung der drei Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern alles an dere als unumstritten war. Von „Annexionsgelüsten“ und ei ner „Brachialfusion“ war aufseiten der Gegner die Rede.

Der Streit um die Neugliederungsgesetze im Vorfeld der ge planten Volksabstimmung hatte allerdings auch eine gute Sei te – der Landtagspräsident hat schon darauf hingewiesen –:

(Ministerpräsident Winfried Kretschmann)

Er erwies sich als Geburtshelfer des Bundesverfassungsge richts, das zu dieser Zeit ja nur auf dem Papier existierte. Die badische Landesregierung hatte eine Entscheidung beantragt, die dann zur ersten Entscheidung des Gerichts werden sollte, das sich dafür erst noch konstituieren musste. Vor diesem his torischen Hintergrund ist es uns eine besondere Freude, den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Professor Dr. Voßkuhle, heute als unseren Festredner willkommen zu heißen.

Baden-Württemberg ist heute eine der stärksten europäischen Innovationsregionen, geprägt von großer wirtschaftlicher Dy namik ebenso wie vom selbstbewussten Engagement seiner Bürgerschaft.

Was hat die Erfolgsgeschichte unseres Landes möglich ge macht? Was hat den Neuanfang gelingen lassen? Tugenden wie Fleiß und Kreativität, Mut und Erfindergeist der Bürge rinnen und Bürger, der Alteingesessenen wie der Vertriebe nen, der Zugewanderten und anfangs so genannten Gastarbei ter, all dies hat zusammen eine ganz besondere Innovations kultur in unserem Land geschaffen. Die ihr zugrunde liegen de Haltung hat in unserem Landstrich eine lange Tradition.

Nicht weit von hier, auf der heutigen Freifläche hinter dem Neuen Schloss, stand von 1775 an die Hohe Karlsschule. Ei ner ihrer berühmtesten Zöglinge war Friedrich Schiller. Schä men würde er sich – so schreibt Schiller einmal –, wenn man ihm nachsagen könnte, er habe sich von den Dingen formen lassen, anstatt die Dinge zu formen. Schiller war nicht reali tätsblind. Als Mediziner und Historiker wusste er sehr wohl mit der Wirklichkeit zu rechnen. Aber er wollte der Wirklich keit, den Verhältnissen, wie sie nun einmal waren, nicht das letzte Wort überlassen. Er glaubte an die Macht der Ideen und daran, dass Wirklichkeit gestaltet werden kann.

Könnte man darin nicht eine Haltung sehen, die für den deut schen Südwesten insgesamt in vielerlei Hinsicht charakteris tisch ist? Kommt sie nicht auch in Baden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck, im Einsatz der Menschen für Demokratie und Bürgerrechte? Denn von dort nahm die 48er Revolution ihren Ausgang. Kommt sie nicht ebenso im Geist unserer Erfinder und Pionierunternehmer zum Aus druck? Ich nenne den „Erfinder-Pfarrer“ Philipp Matthäus Hahn, der neben seinem Pfarramt eine Werkstatt betrieb, in der er Waagen, Uhren und Rechenmaschinen entwickelte, und Gottlieb Daimler, Carl Benz, Robert Bosch und Graf Zeppe lin, die den Grundstock für unsere traditionellen Kernbran chen legten. Zu nennen sind aber auch die „Stromrebellen“ aus Schönau, die nach der Katastrophe von Tschernobyl zu Pionieren der Energiewende wurden, die wir heute im Kon sens in ganz Deutschland umsetzen.

Viele Ideen waren im 19. Jahrhundert noch der Not geschul det. Knappheit zwang zur Kreativität. Viele Erfindungen wur den anfangs belächelt; Visionäre und Tüftler wurden als ver schrobene Spinner abgetan. Doch immer wieder sind aus neu en Ideen innovative Branchen und zukunftweisende Entwick lungen hervorgegangen. Immer wieder haben sich die Narren von heute als die Helden von morgen erwiesen.

Diese Disposition der Menschen zum Tüfteln, dieser Hang zum Visionären, dieser Idealismus in geistiger wie in prakti scher Hinsicht hat im Südwesten nicht nur große Denker und

Erfinder hervorgebracht, sondern auch zu einer einzigartigen Unternehmenslandschaft geführt. Sie ist geprägt von Weltkon zernen wie Daimler, Bosch und SAP, aber ebenso von einer fast unüberschaubaren Fülle kleiner und mittlerer Betriebe, die gleichwohl in ihrer jeweiligen Nische nicht selten Welt marktführer sind.

Es sind sehr häufig familiengeführte Unternehmen, Mittel ständler, die gemeinsam mit ihren Mitarbeitern „eine Liebes beziehung zu ihren Produkten“ unterhalten, wie Berthold Lei binger einmal sagte. Es sind Unternehmen, große wie kleine, die schon heute an die Bedürfnisse der Welt von morgen den ken: ob im Bereich alternativer Antriebe oder der Medizin technik, ob mit ressourcenschonenden Techniken oder inno vativen Dienstleistungen.

Diese Unternehmenslandschaft wird ergänzt von einer Hoch schul- und Forschungslandschaft, die zu den differenziertes ten, dichtesten und leistungsfähigsten in ganz Europa zählt. Dazu gehören unsere forschungsstarken Universitäten mit ih ren hohen Drittmitteleinnahmen. Dazu gehören unsere Hoch schulen für angewandte Wissenschaften, die als regionale In novationsmotoren wichtige Partner des Mittelstands sind. Da zu gehört die aus der Berufsakademie hervorgegangene Dua le Hochschule Baden-Württemberg, die Theorie und Praxis konsequent miteinander verbindet.

Dazu gehören außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und -institute. Sie sind so bedeutend wie die großen Namen, nach denen sie benannt sind: Max-Planck-Gesellschaft, HelmholtzGemeinschaft, Fraunhofer-Gesellschaft, Steinbeis-Gesell schaft.

Grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung, Techno logietransfer, wirtschaftsgetriebene regionale Cluster, kurze Wege von der Idee zum Produkt – das sind hier unsere Trümp fe im internationalen Wettbewerb.

Ich kann an dieser Stelle nur einen Preis auf die Weitsicht vie ler meiner Vorgänger ausbringen wie Ministerpräsident Kie singer, der schon 1966 den Mut hatte, eine neue Universität in Konstanz zu gründen. Denn in einer globalisierten Welt konkurrieren wir natürlich nicht in erster Linie mit anderen Bundesländern, sondern unsere Wettbewerber sind die stärks ten Industrieregionen der Welt. Daran sollten wir immer den ken.

Die Stärke Baden-Württembergs liegt aber nicht nur allein in Wirtschaft und Wissenschaft. Die Stärke unseres Landes liegt auch in seiner starken Zivilgesellschaft. Das traditionell gro ße Selbstbewusstsein unserer Bürgerinnen und Bürger, das in der ehrenamtlichen Übernahme von Verantwortung zum Aus druck kommt, hat hier wirklich zu subsidiären Strukturen ge führt. Zu dieser guten sozialen Temperatur, die hier gepflegt wird, gehören auch die gelebte und streitbare Sozialpartner schaft in den Betrieben sowie das Engagement unserer Kir chen und der Wohlfahrtsverbände.

Bei uns gibt es kein dominierendes Zentrum, weder in wirt schaftlicher noch in kultureller oder politischer Hinsicht. Un ser Land ist eine Einheit geworden, und doch ist die Vielfalt geblieben. Dafür stehen auch unsere Kommunen mit ihrer starken Position der Bürgerschaft einerseits – der Gemeinde

rat ist das Hauptorgan; Bürgerentscheide sind möglich –, aber auch einem starken Bürgermeister bzw. Oberbürgermeister andererseits. Aus dieser schwäbischen Dialektik sind wirklich starke Kommunen in unserem Land entstanden.

Die Herausforderung für die Zukunft besteht nun darin, das Verhältnis von Staat, Markt und einer selbstbewussten Bür gerschaft weiterzuentwickeln. Gerade die Energiewende zeigt, dass entscheidende Impulse nicht nur aus Politik und Wirt schaft, sondern vor allem aus einer kreativen und engagierten Zivilgesellschaft kommen. Durch die vielen Energiegenos senschaften, die zurzeit bei uns im Land entstehen, ist die Energiewende längst auch zu einem Bürgerprojekt geworden.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU und der FDP/DVP)

Deswegen müssen neue Formen der Beteiligung und der Mit sprache in Zukunft gewährleisten, dass die Zivilgesellschaft der Politik auch wirklich auf Augenhöhe begegnen kann.

Meine Damen und Herren, wie schreiben wir die Erfolgsge schichte Baden-Württembergs weiter? Wie stärken wir unse re Stärken? Ein Schwerpunkt dabei muss die Bildungspolitik sein. Wenn wir weiterhin ein Land der Ideen sein wollen, im globalen Wettbewerb erfolgreich sein wollen, dann darf die soziale Herkunft bei uns nicht länger über den Bildungserfolg entscheiden. Wir können es uns hier nicht leisten, wenn Ta lente unserer Kinder unentdeckt und unentwickelt bleiben. Deswegen wurde in diesem Haus schon immer leidenschaft lich darüber gestritten, was hier der richtige Weg ist, etwa bei der Überwindung des Konfessionalismus hin zur christlichen Gemeinschaftsschule.

Am Beginn der baden-württembergischen Erfolgsgeschichte stand die erfolgreiche Integration von Vertriebenen und Flüchtlingen in unsere Gesellschaft. Sie hat entscheidend zur wirtschaftlichen und kulturellen Stärke unseres Landes bei getragen. Heute muss es uns genauso gelingen, Menschen mit Migrationshintergrund in unser Land zu integrieren, damit sie hier alle Chancen haben, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und für unser Land einzubringen, sodass auch ihnen der Aufstieg in alle Positionen möglich ist. Denken wir daran: Nicht nur schwäbische Namen wie Bosch haben uns berühmt gemacht, sondern auch ein Name wie John Cranko hat den kulturellen Spitzenruf unseres Landes weltweit begründet.

(Beifall)

Als kleine Region im weltweiten Wettbewerb müssen wir da rüber hinaus vor allem auf Vernetzung und Kooperation set zen. Im Jahr 2050 werden die Europäer gerade einmal noch 5 % der Weltbevölkerung stellen. Wir müssen uns zusammen tun, um von den Stärken der anderen zu profitieren. Auch des halb will die Landesregierung das regionale Netzwerk „Vier Motoren für Europa“ mit neuem Leben erfüllen.

In einem Europa der Regionen, meine Damen und Herren – da bin ich mir sicher –, hat Baden-Württemberg alle Chancen, auch in Zukunft ein wirtschaftlicher Motor und eine wichtige Quelle innovativer Ideen zu sein. Wenn wir neben den schon genannten Tugenden, die es in diesem Land gibt, auch euro päische Werte wie Freiheit und Solidarität hochhalten und neu dazugekommene Werte wie Nachhaltigkeit in diesem Land

verwirklichen, können wir für dieses Land und seine Men schen zuversichtlich in die Zukunft schauen.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall)

Festvortrag

Die Rolle der Länderparlamente im europäischen Integ rationsprozess

Professor Dr. Andreas Voßkuhle: Sehr geehrter Herr Land tagspräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr ge ehrte Ministerinnen und Minister, sehr geehrte Abgeordnete des Landtags, sehr geehrter Herr Präsident des Staatsgerichts hofs, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren!

„Ich bin ein Baden-Württemberger.“ Ein solches Bekenntnis eines Bürgers aus dem „Bindestrich-Land“ findet man kaum.

Einen Schwaben, einen Badener, einen Pfälzer oder ei nen Franken trifft man immer – aber eben selten einen, der sich „Baden-Württemberger“ nennt.

So steht es in einer von der hiesigen Landeszentrale für poli tische Bildung herausgegebenen Landeskunde. Bemerkens wert ist, dass die Landeskunde nicht etwa die Gefühle der Menschen im Jahr der Gründung des Landes vor 60 Jahren beschreibt; die Landeskunde stammt aus dem Jahr 1999.

Ich habe gewisse Zweifel an der heutigen Richtigkeit der ge troffenen Charakterisierung. Denn seit 1952 werden in Ba den-Württemberg jedes Jahr Kinder geboren, deren Eltern kei ne Schwaben, Badener, Pfälzer oder Franken sind, und jedes Jahr lassen sich Deutsche aus anderen Teilen Deutschlands in Baden-Württemberg nieder. Sie alle sind – wie der vor Ihnen stehende, aus Detmold stammende Freiburger Juraprofessor und Karlsruher Verfassungsrichter – Baden-Württemberger.

Baden-Württemberger – wenn auch nicht im Rechtssinne – sind zudem viele ausländische Menschen, die hier ihre Hei mat gefunden haben, allerdings ohne damit einen Anspruch auf demokratische Teilhabe zu erwerben. EU-Ausländer dür fen zwar an den Kommunalwahlen teilnehmen, bei den Land tagswahlen sind Ausländer aber nicht stimmberechtigt. Den noch wollen wir gerade hier im Landtag auch mit ihnen ge meinsam den 60. Geburtstag Baden-Württembergs feiern.

Dass ich Baden-Württemberg heute meine Glückwünsche überbringen darf, bietet mir zugleich die willkommene Gele genheit, dem Land für 60 Jahre freundschaftliche Verbunden heit mit dem Bundesverfassungsgericht zu danken.

Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht selbstverständ lich allen Ländern in gleicher Weise verbunden fühlt, so ist seine Beziehung zu Baden-Württemberg doch eine besonde re. Das mag zum einen daran liegen, dass sich das Bundes verfassungsgericht in seinem „Sitzland“ immer so wohlge fühlt hat, dass es selbst Abwanderungswünschen und Avan cen aus anderen Ländern widerstanden hat.

Eine tiefere – fast könnte man sagen: emotionale – Verbun denheit dürfte vor allem daraus resultieren, dass das Bundes verfassungsgericht – das haben meine Vorredner schon her vorgehoben – in der Geburtsstunde seiner eigenen Rechtspre

chung zugleich „Geburtshilfe“ für das Land leisten durfte. Denn es war sein allererstes Urteil im Oktober 1951, mit dem das Bundesverfassungsgericht den Weg frei machte für die Volksabstimmung, die die Voraussetzung für die Landesgrün dung heute vor 60 Jahren war. Auch wenn es sicher zu weit gehend wäre, das Bundesverfassungsgericht deswegen als „Hebamme“ Baden-Württembergs zu bezeichnen, so ist man doch in Karlsruhe auch ein wenig stolz darauf, dass sich das auf die Welt gebrachte Kind nach seiner Geburt so rundum prächtig entwickelt hat.