Der Landtag von Baden-Württemberg hat bereits zu Beginn dieses Jahres einen Beschluss dazu gefasst. Damals geschah dies allerdings ohne eine öffentliche Debatte.
Mir ist wichtig, hier vor Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident, vor Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und vor allen An wesenden noch einmal einige Sätze aus dem Beschluss zu zi tieren:
Der Landtag stellt fest, dass in Heimen auf dem Gebiet des heutigen Landes Baden-Württemberg vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts einer bis heute letztlich nicht bekannten Zahl von Kindern und Jugendlichen großes Leid zugefügt worden ist. Er versteht, dass viele der damals betroffenen Menschen spä ter große Schwierigkeiten hatten, in der Gesellschaft Fuß zu fassen, und oft bis heute traumatisiert sind....
Der Landtag als Vertreter des baden-württembergischen Volkes verurteilt, dass den betroffenen ehemaligen Heim kindern Unrecht zugefügt wurde. Er blickt voll Entsetzen auf die Unmenschlichkeit und emotionale Kälte, mit de nen ihnen in frühen Lebensjahren vielfach begegnet wur de. Er sieht die Not, die Abhängigkeit, die mangelnde Zu wendung, die ihren Start ins Leben so unsagbar schwer gemacht haben. Er versteht die Schwierigkeiten, die vie le Betroffene im privaten, beruflichen und gesellschaftli chen Leben bis heute als Folgen des erlittenen Unrechts haben.
Nun haben Bund, Länder und – wie wir bereits gehört haben – zum Teil auch Kommunen sowie die beiden großen Kirchen auch finanziell Verantwortung übernommen und einen Fonds mit einem Volumen von 120 Millionen € eingerichtet. Mit die sem kann das Unrecht nicht ungeschehen gemacht werden, aber wenigstens können einige Folgen gemildert werden: et wa im Hinblick auf nicht gezahlte Rentenbeiträge, Therapien, die von den Krankenkassen nicht übernommen wurden, oder Kosten von ehemaligen Heimkindern zur Aufarbeitung der ei genen Geschichte.
Heute geht es darum, wie dies durch den Fonds abgewickelt wird. Ich danke der Landesregierung für die Vorlage einer Ver waltungsvereinbarung und den Vorschlag für die Durchfüh rung eines Projekts „Archivrecherchen und historische Auf
Im Sozialausschuss haben wir die Vorlagen der Landesregie rung intensiv geprüft, und wir empfehlen ihre Annahme. Die Kollegen Klenk und Poreski haben hier bereits die Gründe für die Beschränkung der Mittel für die Anlauf- und Beratungs stellen deutlich angesprochen.
Wichtig ist, dass nun so schnell wie möglich begonnen wer den kann. Wir wissen von Frau Ministerin Katrin Altpeter, dass die nötigen Vorarbeiten getroffen worden sind. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Sehr geehrter Herr Prä sident, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren! Der letzte Tagesordnungspunkt der heutigen 20. Sitzung des Landtags ist nicht für parteipolitischen Wett streit geeignet. Der Landtagsbeschluss vom 3. Februar 2011 stellt in aller Klarheit und Offenheit fest, dass zwischen 1949 und 1975 in Heimen in Baden-Württemberg Kindern und Ju gendlichen großes Leid zugefügt wurde. Emotionale Verwahr losungen und körperliche Misshandlungen waren auch in ba den-württembergischen Einrichtungen der Fall.
Der Landtag ist sich seiner politischen Verantwortung be wusst. Ein wichtiger Baustein ist dabei das Projekt „Archiv recherchen und historische Aufarbeitung der Heimerziehung zwischen 1949 und 1975 in Baden-Württemberg“. Dafür ist eine halbe wissenschaftliche Archivarstelle beim Landesar chiv vorgesehen.
Kernpunkt ist aber die Einrichtung eines bundesweiten Fonds mit einem Volumen von 120 Millionen € sowie die Schaffung von regionalen Anlauf- und Beratungsstellen. Baden-Würt temberg leistet einen Anteil von 6,16 Millionen €. Damit wer den die betroffenen ehemaligen Heimkinder finanziell ent schädigt und bei der Aufarbeitung unterstützt.
Uns erreichen immer wieder Schreiben von Betroffenen. Hier bitten wir einfach auch die Sozialministerin, diese Themen aufzugreifen. Wir wissen, dass die Themen auch aufgegriffen werden, was die Verwaltungsvereinbarung, den Beirat und vieles andere anbelangt. Insoweit besteht über alle Fraktionen hinweg Einigkeit.
Knackpunkt ist die zulässige Entnahme aus den Fondsmitteln für die regionalen Anlauf- und Beratungsstellen. Der runde Tisch „Heimerziehung“ hat empfohlen: bis zu 10 % der Ge samtsumme – mithin also 12 Millionen €. Die Beschlussemp fehlung sieht vor, die Kosten deutlich unter 5 % der Mittel zu halten, was auch erreichbar sein dürfte, da die Kosten für den Betrieb der Anlaufstelle ca. 110 000 € jährlich betragen.
Wir teilen auch die Auffassung, dass sich das Land für weite re Fondsmittel einsetzen sollte, falls die Beträge nicht ausrei chen. Damit wird dafür Sorge getragen, dass die Fondsmittel zugunsten der Betroffenen aufgestockt werden.
Sehr geehrter Herr Präsi dent, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Kann man physische und psychische Misshandlungen wiedergutmachen? Kann man sexuellen Missbrauch verzeihen? Kann man religiösen Zwang und Ar beitszwang ungeschehen machen? Kann man durch mangel hafte schulische und berufliche Förderung zerstörte Zukunfts chancen reparieren? Können wir all diese massiven Verletzun gen an den Seelen vieler Heimkinder der Fünfziger- und Sech zigerjahre heilen? Nein, das können wir leider nicht.
Dennoch sind wir gefordert. Im Januar 2011 hat der runde Tisch „Heimerziehung“ nach fast zwei Jahren bedrückender Arbeit seinen Abschlussbericht vorgelegt. Der Bericht stellt fest, dass in der Heimerziehung und in der Heimunterbrin gung in der Bundesrepublik vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren die Rechte der Heimkinder teilweise massiv verletzt wurden.
Dieses Unrecht, meine Damen und Herren, können wir so nicht stehen lassen. Doch leider sind die Taten verjährt, und die Täter können nicht mehr zur Rechenschaft gezogen wer den. Aber Eltern, Vormünder und Pfleger, Jugendbehörden, Gerichte und Heimträger samt Heimpersonal tragen trotz al lem die Verantwortung für das den Heimkindern zugefügte Leid.
Wie so häufig in der Geschichte war es – auch das sei hier ge sagt – auch die schweigende Gesellschaft, die dieses Unrecht durch Wegblicken, durch Ignorieren, durch Ausgrenzen er möglicht hat. Das darf sich nicht wiederholen.
Daher müssen wir in Zukunft zwei Dinge tun: Wir müssen zum einen unseren Teil dazu beitragen, dass ein solches Un recht in unserer Gesellschaft jetzt und in Zukunft verhindert wird. Wir alle müssen daher zukünftig hinschauen, anstatt den Blick abzuwenden, und wir müssen einschreiten, anstatt wei terzugehen. Aber zum anderen müssen wir uns auch um die jenigen kümmern, denen unfassbares Leid zugefügt wurde. Daher müssen wir die Kinder von damals rehabilitieren und entschädigen, damit so zumindest ein kleiner Beitrag geleis tet wird.
Unser Beitrag richtet sich dabei nach den Empfehlungen des runden Tisches „Heimerziehung“, der die Kernforderungen der ehemaligen Heimkinder aufgreift:
Erstens – das hat der Landtag mit seinem Beschluss vom 3. Februar 2011 bereits umgesetzt – müssen wir die Verant wortung für das geschehene Unrecht übernehmen und dieses Unrecht ausdrücklich, ohne Wenn und Aber, verurteilen.
Zweitens müssen wir dafür Sorge tragen, dass seinerzeit un entgeltlich erbrachte Arbeitsleistungen, Nachteile bei der Ren te sowie schwerwiegende Schädigungen physischer und psy chischer Art materiell und finanziell ausgeglichen werden.
Drittens müssen für die ehemaligen Heimkinder Anlauf- und Beratungsstellen eingerichtet werden, die sie bei der indivi duellen Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte unterstützen.
Zur Umsetzung dieser zentralen Empfehlungen des runden Tisches „Heimerziehung“ haben der Bund, die Kirchen und die westdeutschen Länder eine Verwaltungsvereinbarung er arbeitet, für die ich heute um Ihre Zustimmung bitte.
Weiter bitte ich Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, um Ihre Zustimmung zum Projektantrag „Archivrecherchen und historische Aufarbeitung der Heimerziehung zwischen 1949 und 1975 in Baden-Württemberg“. Denn viele der Ak ten sind, sofern sie nicht bereits vernichtet wurden, auf die staatlichen, kommunalen und kirchlichen Träger der Einrich tungen verstreut. Daher sollen die noch vorhandenen Auf zeichnungen aus dieser Zeit gesichert und gesichtet werden; zudem sollen hierzu Findbücher erstellt werden. Den ehema ligen Heimkindern kann so eine qualitative Unterstützung bei der Aktenrecherche gewährleistet werden, und uns wird da durch ermöglicht, die dunklen Zeiten der Heimerziehung und der Heimunterbringung in Baden-Württemberg historisch auf zuarbeiten.
Ich bin deswegen froh, dass wir im Sozialausschuss eine Ei nigung darüber erzielen konnten, dass die Mittel, die über den Fonds für die Anlauf- und Beratungsstellen zur Verfügung ge stellt werden, einen Anteil von maximal 5 % nicht überschrei ten sollen. Ich bin mir sicher, dass uns das gelingt. Denn in erster Linie – da sind wir alle in diesem Haus uns einig – sol len die Betroffenen über diesen Fonds entschädigt werden. Erst in zweiter Linie geht es um die Finanzierung der Anlauf- und Beratungsstellen.
Die Maßgaben zur Finanzierung der Anlaufstellen insgesamt sowie die Entscheidung, hierfür Mittel aus dem Fonds zu nehmen, beruhen auf einem Kompromiss zwischen den Be teiligten. Es liegt in der Natur von Kompromissen, dass sie nicht jeden zufriedenstellen können. Wir in Baden-Württem berg haben uns entschieden, den Fonds für die Finanzierung der Anlaufstellen nicht mit 10 % – so, wie es bundesweit ab gestimmt wurde –, sondern mit höchstens 5 % zu belasten. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen für die ehemaligen Heim kinder.
Ich möchte an dieser Stelle sagen: Wenn sich herausstellen sollte, dass wir mehr Geld für den Fonds brauchen, ein grö ßerer Bedarf vorhanden ist und die Mittel nicht ausreichen, werden wir alles tun, damit die entsprechenden Mittel auch zur Verfügung gestellt werden. Es muss alles getan werden, um diejenigen zu entschädigen und zu unterstützen, die aus dieser Zeit noch betroffen sind.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass Sie alle sich der Verantwortung des Landes bewusst sind und der Un terzeichnung der Verwaltungsvereinbarung zustimmen, damit wir das Ganze zügig auf den Weg bringen können. Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung in dieser Sache.
Ich möchte noch einmal betonen: Wenn sich herausstellen sollte, dass die Mittel nicht auskömmlich sind, wird sich Ba den-Württemberg im Reigen mit anderen dafür einsetzen, dass die Menschen auch entsprechend entschädigt werden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frau
en und Senioren, Drucksache 15/883. Sind Sie damit einver standen, dass ich die Abstimmung über die Abschnitte I und II zusammenfasse? – Das ist der Fall.
Wer den Abschnitten I und II dieser Beschlussempfehlung zu stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen worden. Herzlichen Dank.