Frau Präsidentin, liebe Kolle ginnen und Kollegen! Wenn mir jemand vor einem Jahr ge sagt hätte und beschrieben hätte, wie die EU am Ende dieses Jahres aussehen würde, ich hätte ihm nicht geglaubt. Wir ha ben zwar im Rahmen der Europaberichterstattung auf man ches Problem hingewiesen, nur haben sich die Probleme in der Zwischenzeit derart zugespitzt, dass wir in ganz anderen Dimensionen denken müssen. Das Projekt Europa scheint tat sächlich an einem seidenen Faden zu hängen.
Wir sehen heute die Folgen der bisherigen Politik, der Auste ritätspolitik, mit der man versucht hat, die Finanzkrise zu überwinden. Diese Politik hat bekanntlich in vielen Ländern eine hohe Arbeitslosigkeit und auch eine verlorene Generati on produziert und so in manchem europäischen Land zu ei nem Erstarken des Rechtspopulismus und auch des Rechtsex tremismus beigetragen. Jüngstes Beispiel ist das Stimmergeb nis des Front National in Frankreich. Im zweiten Wahlgang konnte man einen Wahlsieg dieser Partei noch knapp verhin dern – es sind in der Tat die Sozialisten, denen das zu verdan ken ist –,
doch der Rechtsruck ist damit noch lange nicht beendet. Bei den Jungwählern haben 35 % rechts gewählt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es zeichnet sich schon seit Längerem ab, dass es zu einer Destabilisierung Europas kom men kann. Auch unser eigenes Verhalten, als Griechenland und Italien wegen der Flüchtlinge um Hilfe gerufen haben, hat nicht dazu beigetragen, dass sich andere Länder jetzt in dieser Situation solidarisch zeigen. Oder: die 26 Millionen Ar beitslosen in Europa. Haben sie in der Europapolitik wirklich eine Rolle gespielt? Man hat schon vor vielem die Augen ver schlossen.
Auch wir müssen uns, wenn wir ehrlich sind, eingestehen, dass wir noch vor Kurzem die Probleme weit weg geglaubt haben,
zumindest nicht in Europa, sondern vor seinen Toren. Doch nun sind die Probleme der Welt bei uns angekommen. Zu den bisherigen Krisen – Finanzkrise, Griechenlandkrise, Ukraine krise –, zu Separatismus, EU-Abspaltungstendenzen in Groß britannien und zur alles bestimmenden Flüchtlingsthematik kommen nun Terror und Angst vor dem Terror hinzu.
Und nun Kampfeinsätze, Krieg aus der Luft. Ob uns das wei terhilft? Davon sind die Bürgerinnen und Bürger nicht allzu überzeugt. Sie sind eher verunsichert wie nie zuvor.
Diese Verunsicherung, die überall um sich greift, macht Eu ropa gleich doppelt verwundbar und die Menschen anfällig für antieuropäische Ideen – auch hier in Baden-Württemberg. Vor Kurzem wurde uns im NSU-Untersuchungsausschuss ei ne Studie vorgestellt, nach der die Menschen in Baden-Würt temberg sogar doppelt so anfällig für rechtspopulistische Ten denzen sind wie in anderen Bundesländern. Jeweils ein Vier tel der Anhänger von CDU und SPD sind geneigt, in ein sol ches Lager zu wechseln. Übrigens: Selbst bei der Linken sind es noch 17 %.
Das Projekt Europa steht demnach gleich in mehrfacher Hin sicht vor einer großen Bewährungsprobe. Es gilt, sowohl den um sich greifenden Nationalismus zu bekämpfen als auch In toleranz und Rassismus im eigenen Land. Und damit nicht der Verdacht aufkommt, auf einem Auge blind zu sein: Das gilt genauso für den aggressiven Islamismus, denn beide haben eine Ideologie der Ungleichheit, und diese steht unserem de mokratischen Verständnis entgegen.
Was können wir nun in Baden-Württemberg tun, und was ha ben wir auch schon getan, um einen Beitrag zur Konsolidie rung Europas zu leisten? Wir beteiligen uns, denke ich, mehr als andere an den europäischen Strategien: Donauraumstrate gie, Alpenraumstrategie. Baden-Württemberg hat übrigens ein weiteres Antiterrorpaket beschlossen. Auch das spielt in der Europapolitik eine Rolle, was die Flüchtlinge anbelangt. Wir stehen zu dem Aktionsplan für eine Rückkehr von Flüchtlin gen. Aber
die Menschen können nur dahin zurückkehren, wo sie tatsäch lich sicher sind. Aus diesem Grund spielt für die Landesregie rung die Bekämpfung von Fluchtursachen auch eine Rolle, und aus diesem Grund wurde gestern die Unterschrift unter eine Kooperation mit der Provinz Dohuk geleistet. Diese Zu sammenarbeit ist auch bei den Vertretern der Wirtschaft, vor allem auch bei den Vertretern der Kirchen und der Zivilgesell schaft auf sehr viel Resonanz gestoßen. Wir versuchen gera de, gemeinsam viele Unterstützer für Dohuk zu gewinnen, weil wir dort tatsächlich etwas tun können, um die Flücht lingsproblematik zu bekämpfen.
Letzter Punkt: Wir müssen alles tun, um das Vertrauen in die EU wieder zu stärken. Dazu gehört auch, zu realisieren, dass die Menschen wegen TTIP nicht sehr vertrauensvoll nach Eu ropa blicken. Die Landesregierung hat deshalb einen Beirat eingerichtet, der um Vertrauen wirbt.
Ja. – Im nächsten Monat ist die nächste Sitzung. Da geht es dann um Investitionsschutz und um die privaten Schiedsgerichte, die wir im Landtag alle ge meinsam abgelehnt haben. Ich denke, das ist ein richtiger Schritt, um Vertrauen in Europa zurückzugewinnen.
Ich möchte zum Schluss noch ganz kurz Sigmar Gabriel zi tieren, der auf dem SPD-Parteitag gesagt hat:
Frau Präsidentin, werte Kolle ginnen und Kollegen! Frau Haller-Haid, ich versuche, Ihre Zeit wieder reinzuholen.
Der Berichtszeitpunkt liegt ja nun schon, wie bereits gesagt wurde, etwas zurück, fast zwei Monate. Der Zeitraum, über den berichtet wird, endet am 30. September 2015. Deshalb er laube auch ich mir, kurz auf einige aktuelle Entwicklungen bei Themen in diesem Bericht einzugehen.
Die Anschläge von Paris sind eine Bedrohung für die freiheit liche Gesellschaft, also für alles, was Europa ausmacht, für alles, was auch schon angesprochen wurde. Es gilt, diesem Terror besonnen, klug, aber auch entschlossen entgegenzutre ten – nach dem Motto des amerikanischen Staatsmanns Ben jamin Franklin: „Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu ge winnen, wird am Ende beides verlieren.“
Aber die Flüchtlingsfrage und die Terrorfrage dürfen dabei unter keinen Umständen vermischt werden. In dieser Situati on sind keine Parolen angebracht, sondern beherztes Handeln ist gefordert.
Zunächst ist dies eine konzentrierte Antiterroraktion, um die Lage in Syrien zu stabilisieren, dann eine verbesserte Zusam menarbeit der Sicherheitsbehörden in ganz Europa, denn of fensichtlich gab es hier eklatante Mängel. Wir brauchen ein europäisches Asyl- und Migrationsrecht, und wir müssen den Schutz der gemeinsamen EU-Außengrenzen durchsetzen,
Deutschland braucht ein modernes Einwanderungsgesetz, das die chaotische Zuwanderung wieder vernünftigen Regeln un terwirft. Unsere alternde Gesellschaft braucht in vielen Beru fen Zuwanderer. Aber wir haben ein Recht darauf, uns dieje nigen auszusuchen, die wir in unseren Arbeitsmarkt einladen.
Das Versagen der Staaten in Europa in der Flüchtlingskrise ist besorgniserregend. Bei der außerordentlichen Sitzung der EUInnenminister am 22. September 2015 konnte eine Einigung zur Umsiedlung von 120 000 Flüchtlingen innerhalb von sechs Monaten als vorläufige Maßnahme erzielt werden. Einen Mo nat später gab es erste – ernüchternde – Ergebnisse: 89 Per sonen wurden umgesiedelt. Wie viele Personen sind es heute, nach drei Monaten? Das sehen wir vermutlich in dem in Kür ze erscheinenden nächsten Bericht über die aktuelle europa politische Entwicklung und über Themen aus Europa.
Mit Sorge sehe ich die Entwicklung in Polen. Nur weil die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ in Polen die Wahl gewon nen hat, gehört ihr längst nicht das Land, und es herrschen auch nicht automatisch Recht und Gerechtigkeit. Im Gegen teil: Was in Polen gerade passiert, ist für die Demokratie nicht in Ordnung. Dass sich die neue, nationalkonservative Regie rung weigert, eine Gerichtsentscheidung von Anfang Dezem ber anzuerkennen und amtlich zu veröffentlichen, ist nicht hin nehmbar.
(Beifall bei der FDP/DVP sowie Abgeordneten der CDU und der SPD – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Das geht nicht!)
Denn damit ist das Urteil de facto wirkungslos, und drei noch von der Vorgängerregierung benannte Richter können ihr Amt weiterhin nicht antreten. Natürlich könnte man ein Vertrags verletzungsverfahren einleiten, aber das ist, wie wir alle wis sen, zeitaufwendig und sehr technisch.
Wir brauchen eine Rechtsstaatsinitiative, um den Ländern stärker auf die Finger klopfen zu können, wenn sie gemeinsa me Grundwerte – unsere Grundwerte – infrage stellen. Wenn auch das alles nicht hilft, muss man den dafür vorgesehenen Artikel 7 des Lissabon-Vertrags anwenden, der bei Verstößen gegen Grundrechte unter Umständen auch den Entzug des Stimmrechts vorsieht. Diesen Artikel sollte man bei den Un garn schon längst anwenden. Da stellen sich CDU und CSU
Der nächste Kandidat steht schon vor der Tür und wird ein geladen: die Türkei. Auch hier müssen wir auf der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze bestehen, Flüchtlingsproblema tik hin oder her.
Erleichtert sind wir über den Wahlausgang in Frankreich, wo in der zweiten Runde der Regionalwahlen die Republikaner von Expräsident Nicolas Sarkozy die rechtsextreme Partei Front National geschlagen haben, auch wenn sie – auch aus meiner Sicht – viel zu viele Stimmen bekommen haben. Aber es wurde noch einmal verhindert, dass eine Region vom Front National gewonnen wurde. Auch in der Region Elsass-Cham pagne-Ardennen-Lothringen haben die Republikaner gewon nen. Für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit gerade mit der neuen Großregion ist das ein gutes Zeichen.