Herr Präsident, lie be Kolleginnen und Kollegen! Sie haben, Herr Ministerpräsi dent, zunächst einmal die großen Linien dieser Herausforde rungen gezeichnet. In der Tat, ich stimme mit Ihnen in der Ein schätzung überein, dass es sich um eine Zeitenwende handelt, dass wir selten in der europäischen Geschichte eine derartige Herausforderung hatten wie das, was jetzt in den letzten Wo chen und Monaten auf uns zugekommen ist. Es gibt durchaus Chancen in dieser Krise, aber es gibt auch große Gefahren. In der Tat, diese Krise könnte sich zu einer großen europäischen Krise ausweiten, und der Zusammenhalt, das Zusammenwir ken Europas steht infrage.
Aber gerade wenn man das erkennt, dann, glaube ich, reicht es nicht aus, immer nur die Rolle der Kanzlerin zu loben. Ich nehme Ihnen auch nicht ab, dass Sie sie nur deshalb loben, weil Sie ihr politisches Handeln für richtig halten, sondern Sie loben sie nicht zuletzt deshalb, weil Sie natürlich erkennen, dass Sie über das Lob der Kanzlerin Salz in die Wunden der
CDU streuen, weil Sie gemerkt haben, dass es in der CDU un terschiedliche Meinungen zu der Politik der Kanzlerin gibt. Insofern ist viel von diesem Lob dem Wahlkampf geschuldet. Sonst kämen Sie zu einer differenzierteren Einschätzung der Rolle der Kanzlerin.
Denn wenn man das Ganze als europäische Dimension be greift, wenn man sagt: „Wir sind ja nur kleine Landespoliti ker und können eigentlich gar nicht viel machen; da ist die große, die weltpolitische Ebene gefordert“, Herr Ministerprä sident, dann frage ich: Wer ist denn da dann gefordert, die not wendige Führung zu übernehmen, wenn nicht jene Dame, die so häufig gefeiert wird als mächtigste Frau der Welt, diejeni ge, die innerhalb der EU das größte und wichtigste Land ver tritt? Frau Merkel ist doch gefordert, hier Führung zu über nehmen, und das ist offensichtlich bislang nicht gelungen.
Sonst hätten wir den Befund nicht, den Sie gezeichnet haben, dass wir die Lasten im Grunde auf nur drei der 28 Länder ver teilt haben. Deutschland, Schweden und Österreich tragen die Lasten. Die meisten anderen machen sich einen schlanken Fuß. Da brauchen wir europäische Solidarität, und zwar eine europäische Solidarität, wie sie bei anderen Problemen mög lich gewesen ist. Ich erinnere nur an die Eurokrise – letzter Akt, drittes Griechenlandrettungspaket im vergangenen Som mer. Da hat Frau Merkel Führung gezeigt. Da hat sie erklärt: „Der deutsche Steuerzahler muss Solidarität üben für das, was in Südeuropa passiert.“ Dann erwarte ich aber im Umkehr schluss dieselbe Solidarität dieser Länder, wenn es jetzt um die Flüchtlingskrise geht.
Dann, Herr Ministerpräsident, haben Sie andere gescholten, natürlich mit Blick auf die Opposition im Landtag von Ba den-Württemberg. Sie sprachen von Scheinradikalität, von un ausgegorenen Vorschlägen, und die Kollegin Sitzmann hat dies explizit an der CDU festgemacht. Der Kollege Wolf hat es ja eingeräumt. Es ist unübersehbar: Es gibt innerhalb der Union unterschiedliche Auffassungen zur Einladungspolitik von Frau Merkel.
Da, Frau Sitzmann, hätte ich mir schon gewünscht, dass Sie, wenn Sie entsprechende Vorwürfe an die CDU richten, dann vielleicht auch einen Blick nach Tübingen werfen, wo es ähn liche Vorschläge gibt.
Denn das, was Sie immer der CDU, was Sie Leuten wie Herrn de Maizière oder auch Seehofer vorwerfen, wird von Herrn Palmer ganz genauso vertreten.
Folglich ist es doch keine exklusive Situation der Union, dass es dort unterschiedliche Vorschläge gibt.
Das ist das, was der Herr Ministerpräsident jetzt schon mehr fach gesagt hat: Man wirft Steine ins Wasser, es entstehen Wellen, aber es ändert sich nichts. Das ist der Vorwurf, den Sie immer machen. Das gibt es nicht nur in der CDU. Es gibt auch bei den Grünen da durchaus unterschiedliche Vorstellun gen.
Wenn Sie von Scheinradikalität reden, Herr Ministerpräsident, dann empfehle ich auch da einen Blick in die eigene Partei. Was ist es denn anderes als Scheinradikalität, wenn der Ober bürgermeister von Stuttgart Wohnraumbeschlagnahmungen ankündigt, meine Damen und Herren? Das ist dieselbe Schein radikalität, die Sie bei anderen geißeln.
Dann, Herr Ministerpräsident, sprechen Sie vom „Scheinvor schlag Transitzonen“. Man kann durchaus darüber streiten, wie man das Ganze jetzt nennt: Transitzonen, Einreisezent ren, Drehkreuze, von mir aus Willkommenstempel.
Wie das Ganze heißt, ist, glaube ich, nicht entscheidend. Aber das Prinzip ist entscheidend. Wir brauchen ein solches Prin zip, und dieses Prinzip ist auch umsetzbar. Das, was Sie an politischer Richtungsänderung in den letzten Monaten an den Tag gelegt haben, ist schon bemerkenswert, wenn man sich anschaut, wie noch vor einem Jahr die Beschlusslage der Grü nen gewesen ist und wie sie ihre Position immer mehr verän dern. Unter dem Druck der Ereignisse nähern Sie sich dem Konzept an, dass Flüchtlinge bei der Einreise erfasst werden,
dass sie registriert werden, dass die Chance geschaffen wird, die Verfahren möglichst schnell durchzuführen und dann zu differenzieren und diejenigen auszumachen, die im Grunde keine Bleibeperspektive haben und schnell wieder rückgeführt werden. Ob sie sich jetzt von Ihnen „rückberaten“ lassen oder ob sie abgeschoben werden, lasse ich an dieser Stelle einmal dahingestellt sein. Aber das Verfahren soll beschleunigt wer den, die Flüchtlinge sollen erfasst werden, und die Rückfüh rung soll zeitnah erfolgen. Nichts anderes ist das Prinzip der Transitzonen.
Sie haben dann in polemischer Weise erklärt, das ginge nicht; da müsste man sie ja kasernieren und mit Stacheldraht und Waffengewalt einsperren; deshalb seien solche Transitzonen nicht durchführbar. Niemand hat das verlangt. Vielmehr ist es notwendig, dieses Verfahren durchzuführen und es natürlich mit Sanktionen zu verbinden, falls sich jemand diesem Ver fahren entzieht.
Dann, Herr Ministerpräsident, haben Sie wiederholt – auch heute wieder – erklärt, es gebe keine Obergrenzen. Da wir die Grenzen nicht schützen könnten, gebe es auch keine Ober grenzen. Sie haben es heute hier gesagt, Sie haben es schon mehrfach in der Vergangenheit gesagt: Unsere Grenzen könn ten wir nicht schützen; denn sonst bräuchten wir Stacheldraht und Waffengewalt, und das wolle niemand.
So weit, so gut. Aber in demselben Atemzug, Herr Minister präsident, fordern Sie – ich zitiere – „die Sicherung und Kon trolle der Außengrenzen“.
Herr Ministerpräsident, wie wollen Sie denn die Außengren zen schützen, wenn Sie die Grenzen bei uns nicht schützen können? Wie soll das denn in der Praxis funktionieren? Ich wäre dankbar, wenn Sie uns dies erklären. Entweder brauchen Sie bei den Außengrenzen dann auch Stacheldraht und Schieß befehl – was Sie ja nicht wollen –, oder es gibt andere Mög lichkeiten, die europäischen Außengrenzen zu schützen – dann gibt es die aber bei uns auch. Da wäre ich für Aufklärung dankbar, Herr Ministerpräsident.
Sie haben angekündigt, nach Brüssel zu fahren, um sich in Europa für Kontingentlösungen einzusetzen. Offensichtlich gibt es doch einen gewissen Einfluss des baden-württember gischen Ministerpräsidenten in Brüssel. Aber diese Kontin gentlösungen bedingen natürlich auch Kontrolle. Sie bedin gen Kontrolle, Kontingentierung; sie laufen auf Obergrenzen hinaus.
Genau das werden Sie brauchen, wenn Sie den Konsens der anderen europäischen Länder einfordern wollen. Das heißt,
Sie wollen auf europäischer Ebene genau das einfordern, was Sie auf Bundes- und auf Landesebene als unmöglich einschät zen, Herr Ministerpräsident – und auch das ist an dieser Stel le nicht konsistent.
Nun gut. Es gab wenige sehr konkrete Aussagen. Es sind Stichworte gefallen, bei denen wir aber immer noch nicht so genau wissen, was Ihre Regierung eigentlich möchte. Stich wort Gesundheitskarte: Wir haben die Diskussion über die Ge sundheitskarte im Neuen Schloss schon einmal geführt. Eine Reihe von Vertretern der Landesregierung waren da anwe send, und jeder hat eine andere Position zum Thema Gesund heitskarte vorgetragen. Beispielsweise konnte man mir die Frage nicht beantworten: Soll die Gesundheitskarte jetzt be reits in den Erstaufnahmestellen ausgegeben werden,