Mit der Ende der Sechzigerjahre erfolgten Abschaffung des § 175 in der Bundesrepublik setzte der Staat ein wichtiges Si gnal vor dem Hintergrund der geänderten Sexualmoral und entschärfte diesen Teil des Strafgesetzes, der als sogenannter Erpressungsparagraf berüchtigt war.
Anders als bei Gesetzen, die Grundlage nationalsozialisti schen Unrechts waren, haben wir es hier mit einem Stück Ge schichte der Bundesrepublik und Baden-Württembergs zu tun. Bei aller Betroffenheit ist ein sorgfältiger Umgang mit juris tischen Begriffen und Sachverhalten angebracht. Wir müssen uns der Frage stellen, wie wir mit Blick auf unsere Geschich te mit rechtsstaatlich einwandfrei ergangenen Urteilen aus der Bundesrepublik umgehen. Die Aufhebung von Urteilen au ßerhalb des Rechtswegs darf dabei keine leichtfertig genutz te Option sein.
Auch mit der Strafverfolgung hat das Land Baden-Württem berg damals verfassungsgemäß gehandelt. Im Jahr 1957 be stätigte das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit des § 175 des Strafgesetzbuchs. Die heutige Entschließung stellt aus Sicht unserer Fraktion deshalb keine Verurteilung aller Angehörigen der damaligen Strafverfolgungsorgane dar, die rechtmäßig an der Durchsetzung des damals geltenden Para grafen mitgewirkt haben. Menschen der Vergangenheit und ihre Einstellung dürfen nicht aus dem Zeitzusammenhang ge rissen und als solche kritisiert werden.
Das heutige Signal der Toleranz und Versöhnung darf aus un serer Sicht gerade nicht in diese Richtung interpretiert wer den. Wir, die FDP/DVP-Fraktion, wollen mit der Beilegung von Vorwürfen nicht neue erheben. Denn so, wie wir heute angesichts früherer Vorstellungen den Kopf schütteln, kann es passieren, dass man eine, zwei oder drei Generationen spä ter den Kopf über uns schüttelt.
In unserer Entschließung wird die Unterstützung von Initiati ven zur Aufarbeitung angekündigt. Über die genaue Ausge staltung werden wir noch reden und darüber, wie bereits be stehende Strukturen und Institutionen dafür genutzt werden können. Das Signal, das heute vom Landtag ausgeht, ist für viele Menschen, die unter der Anwendung des § 175 gelitten haben, wichtig.
Für uns als Parlamentarier ist es damit aber nicht getan. Tole ranz ist eine Frage der Haltung im Alltag und bleibt für uns Liberale eine innere Verpflichtung. Denn wie sagte schon die amerikanische Schriftstellerin Rita Mae Brown? „Seltsam sind einzig die Menschen, die niemanden lieben.“
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf an das anschließen, was Frau Kollegin Lösch zum Beginn ihrer Rede gesagt hat. Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer ist wahr lich kein Ruhmesblatt für die Bundesrepublik Deutschland. Auch in Baden-Württemberg wurden Männer nur deshalb strafrechtlich verfolgt und letztlich ihrer Freiheit durch Straf haft beraubt, weil sie ihrer sexuellen Identität gefolgt sind.
Heute haben wir diesen unhaltbaren Zustand überwunden, aber es war ein langer Prozess, ein zu langer Prozess, bis wir zu der heute selbstverständlich erscheinenden Rechtsgewiss heit gefunden haben, dass sexuelle Kontakte zwischen Män nern kein Rechtsgut verletzen und deshalb auch nicht unter Strafe gestellt werden dürfen.
Dabei ist dies keine völlig neue Erkenntnis. Schon der fran zösische Code pénal von 1810 stellte einvernehmliche Sexu alhandlungen zwischen Männern straffrei, weil dadurch Rech te Dritter nicht berührt werden. Dieser Rechtszustand galt in den ehemals französisch besetzten linksrheinischen Gebieten Deutschlands bis zum Inkrafttreten des Reichsstrafgesetz buchs am 1. Januar 1872.
Dann stellte, an alte Rechtstraditionen anknüpfend, der be rüchtigte § 175 Rechtseinheit her. Ich darf den Text einmal vorlesen:
Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen.
Heute kann man diese wörtliche Wiedergabe der Strafnorm kaum noch ertragen, meine ich. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass männliche Homosexualität und Sodomie auf eine Stufe gestellt wurden.
An Versuchen, diesen Rechtszustand zu ändern, fehlte es nicht. Sie hatten aber keine Chance auf eine Mehrheit. Um gekehrt waren um 1925 Pläne für eine weitere Verschärfung aussichtsreicher. Während der Herrschaft der Nationalsozia listen 1935 war es dann so weit. Die Strafdrohung wurde er höht. Durch die Streichung des Wortes „widernatürlich“ wur de die Beschränkung auf beischlafähnliche Handlungen auf gegeben und damit der Tatbestand wesentlich erweitert. Es wurden Qualifikationstatbestände geschaffen, und geradezu selbstverständlich wurde die Verfolgungsintensität wesentlich verschärft.
Nach dem Ende der Nazizeit passierte das, was uns heute rat los macht: Es passierte nämlich nichts. Die Verschärfungen von 1935 wurden nicht zurückgenommen, schon gar nicht wurde die neue Zeit für die alte Einsicht genutzt, dass einver nehmliche homosexuelle Handlungen niemandem schaden.
Die Rechtslage blieb unangetastet. Der Bundesgerichtshof bestä tigte die weite Auslegung, wonach eine homosexuelle Hand lung nicht einmal eine körperliche Berührung erfordere. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte 1957 die Vereinbarkeit dieser Regelungen mit dem Grundgesetz, und die rechtlichen Anmerkungen hierzu haben Sie, Herr Kollege, in zutreffen der Weise gemacht.
Es dauerte bis 1969, bis das Relikt aus früheren Zeiten ange tastet wurde. Das ist bereits gesagt worden. Einvernehmliche
sexuelle Handlungen zwischen volljährigen Männern wurden straffrei gestellt. § 175 des Strafgesetzbuchs wurde zu einer Schutzvorschrift für minderjährige Männer umgestaltet.
Erst 1994 wurde der Paragraf insgesamt aufgehoben. Damit endete jede Form der strafrechtlichen Sondererfassung männ licher Homosexualität – das ist also gerade einmal 20 Jahre her.
Ich habe die Entwicklung hin zu unserer heutigen Befassung mit dem Entschließungsantrag so ausführlich geschildert, weil sie für das heutige Verständnis wichtig ist. Die strafrechtliche Entwicklung hat in Deutschland nicht nur früh erkennbare Li beralisierungstendenzen nicht aufgegriffen. Es wurden Ver schärfungen vorgenommen und viel zu lange beibehalten. Es wurden in der eigentlich freiheitlich orientierten Nachkriegs gesellschaft Männer verfolgt und eingesperrt, die niemandem Schaden zugefügt hatten. Sie mussten darunter leiden, dass der Gesetzgeber nicht die Kraft fand, der Diskriminierung und der Verfolgung ein frühes Ende zu setzen.
Wir wissen es heute besser als unsere Vorfahren. Wir haben erkannt, dass das nicht richtig, sondern falsch war. Dies zu be kennen ist das Mindeste, was wir heute zur Rehabilitierung der Verfolgten tun können. Dies in aller Deutlichkeit auszu sprechen ist aber nicht nur für in früheren Jahren in Deutsch land verfolgte Homosexuelle ein wichtiger Beitrag zur Wie derherstellung ihrer Ehre. Mit dem eindeutigen Bekenntnis, dass männliche Homosexualität kein Unrecht ist, setzen wir ein Zeichen gegen all jene, die die Rechte von Homosexuel len weiterhin bestreiten oder beschneiden wollen.
Deshalb meine ich: Der von der Fraktion GRÜNE, der Frak tion der SPD und der Fraktion der FDP/DVP vorgelegte Ent schließungsantrag zur Aufarbeitung der strafrechtlichen Ver folgung homosexueller Männer richtet den Blick nicht nur zu rück in unsere Vergangenheit. Er setzt auch ein Zeichen in der Gegenwart und für die Zukunft.
Der Entschließungsantrag der drei Fraktionen ist wörtlich fast identisch mit der Beschlusslage im Hessischen Landtag aus dem Jahr 2012. Die Kollegin Graner hat zu Recht darauf hin gewiesen. Auch dort ist eine Entschuldigung im Text enthal ten. Die Entschließung erfolgte damals aufgrund eines An trags der Regierungskoalition, bestehend aus CDU und FDP.
Deshalb meine ich: Dieser Entschließungsantrag der drei Frak tionen, wie er jetzt vorliegt, hat unsere breite Unterstützung verdient.
Wir kommen zur geschäftsordnungsmäßigen Behandlung des Entschließungsantrags der Fraktion GRÜNE, der Fraktion der SPD und der Fraktion der FDP/DVP, Drucksache 15/5475. Zu diesem Antrag liegt der Änderungsantrag der Fraktion der CDU, Drucksache 15/5874, vor.
Diesen stelle ich zunächst zur Abstimmung. Sind Sie damit einverstanden, über diesen Änderungsantrag insgesamt abzu stimmen? – Das ist der Fall.
Wer diesem Änderungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag Drucksache 15/5475. Sind Sie damit einverstanden, dass über diesen Antrag insgesamt abgestimmt wird? – Das ist der Fall.
Wer dem Entschließungsantrag Drucksache 15/5475 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthal tungen? – Dem Entschließungsantrag ist mehrheitlich zuge stimmt.
Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Aus schusses zu der Mitteilung der Landesregierung vom 5. März 2014 – 19. Bericht der Kommission zur Ermitt lung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten – Druck sachen 15/4910, 15/5845
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Fi nanzen und Wirtschaft zu der Mitteilung der Landesre gierung vom 26. März 2014 – Bericht der Landesregierung zu einem Beschluss des Landtags; hier: Denkschrift 2010 des Rechnungshofs zur Haushalts- und Wirtschaftsfüh rung des Landes Baden-Württemberg – Beitrag Nr. 10: Übertragung der Bewährungs- und Gerichtshilfe auf ei nen freien Träger – Drucksachen 15/5000, 15/5719
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Fi nanzen und Wirtschaft zu der Mitteilung der Landesre gierung vom 23. Juli 2014 – Bericht der Landesregierung zu einem Beschluss des Landtags; hier: