Minister für Bundes-, Europa- und internationale Ange legenheiten Dr. Wolfgang Reinhart: Herr Präsident, verehr te Kolleginnen und Kollegen! Zunächst herzlichen Dank für die übereinstimmenden Bekenntnisse zu Europa. Ich kann dem nur beipflichten. Ich denke, sowohl der Europaausschuss dieses Hauses als auch die Landesregierung sind allesamt überzeugte Europäer. Deshalb geht es eigentlich immer nur um die Frage, wie wir dieses Europa weiter gestalten wollen. Wohin wollen wir gehen, und – vor allem – wie weit können wir gehen, in welchem Tempo, und wie können wir die Bür ger mitnehmen?
Ich habe vor wenigen Tagen einer Europaministerkonferenz in Berlin vorgesessen und hatte den neuen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Voßkuhle, eingeladen. Wir waren allesamt der Überzeugung, dass wir in den frühen Jahr zehnten ein Europa der Eliten hatten, wo man elitär in Hinter zimmern – auch in Brüssel – Entscheidungen getroffen und das Europa weiterentwickelt hat. Aber diese Zeit, in der nur wenige Eliten über Europa entschieden haben, ist vorbei.
Wir hatten eine Zäsur, wir hatten auch eine Grundlage. Jetzt sind wir in einer Situation, einer Zeit der Herausforderung, in der es um ernste Weggabelungen in diesem Europa geht. Des halb ist es ganz wichtig – davon bin ich überzeugt –, bei all den Themen die Bürger mitzunehmen.
Denn das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre, dass die Bürger skeptisch sind und sagen: Wir halten nichts mehr von diesem Europa.
Deshalb geht es auch nicht mehr nur nach dem Lissabon-Ver trag – das wurde zu Recht angesprochen –; vor allem müssen wir immer auch die deutsche Verfassungslage sehen. Viele, die auf der einen Seite nur die Motorbewegung sehen und nur einseitig sagen „mehr Integration, mehr Integration“, und auch
diejenigen, die einen europäischen Bundesstaat fordern, ver kennen, dass nach unserem Grundgesetz, nach unserer Ver fassung ein europäischer Bundesstaat nicht möglich ist. Das müssen wir wissen. Dazu bräuchten wir erst eine neue Verfas sung. Das müssten erst unsere Bürger wollen.
Deshalb müssen wir immer sehen: Was können wir auf der Basis von Verfassung, von Recht, auch auf der Basis von bis herigem europäischem Recht und der geltenden Verträge er reichen? Ich glaube, dazu haben wir derzeit einen großen Ge gensatz, den wir auch in Berlin diskutiert haben: Wir Deut schen wollen die Vorherrschaft des Rechts, andere Länder wollen die Herrschaft der Politik. Das zeigt sich bei Ausein andersetzungen wie beispielsweise der Diskussion über die Wirtschaftsregierung. Wir in Deutschland wollen eine Wirt schaftsregierung auf der Basis der bestehenden Verträge. Wir wollen keine neuen Institutionen. Vor allem wollen wir zwar eine Koordinierung, aber die Wirtschaftsregierung soll nur ko ordinieren und nicht dirigieren, wie dies andere Länder wol len.
Deshalb stehen wir vor spannenden Fragen, und das in einer Zeit, in der es – ich will nur fünf Bereiche kurz stichwortar tig nennen – um entscheidende Weggabelungen geht. Nehmen wir als Beispiel die Griechenlandhilfe, die Sie, Herr Kollege Walter, angesprochen haben, die am 7. Mai 2010 beschlossen wurde. Ich hatte im Bundesrat für Baden-Württemberg sechs Stimmen für eine Entschließung abgegeben, die ich zur Lek türe empfehle.
Sie sagen, die Bundeskanzlerin hätte mit Blick auf die Wah len in Nordrhein-Westfalen nicht gehandelt.
(Abg. Jürgen Walter GRÜNE: Wochenlang nicht ge handelt! Und dann auf einmal! – Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Spät!)
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn sie die Wahlen in Nord rhein-Westfalen im Blick gehabt hätte, hätten wir nicht gera de in der Woche vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen
(Abg. Claus Schmiedel SPD: Das war doch auf Druck! Das war doch keine freiwillige Entscheidung! – Weitere Zurufe)
Lieber Herr Kollege Schmiedel, es geht um die sachliche Subsumtion einer Aussage. Da sagt der Zeitablauf eigentlich alles. Er zeigt nämlich, dass wir diese Entschließungen genau in der Woche vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen behandelt haben. Sie kamen montags ins Kabinett,
wurden im Bundestag gelesen, freitags am 4. Mai – – Ent schuldigung, nein; jedenfalls am Freitag vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen
wurden sie verabschiedet. Der Bundespräsident hat nachmit tags unterzeichnet. Dies wurde genau zwei Tage vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen entschieden. Deshalb ist das nicht zu treffend, was Sie uns hier glauben machen wollen, Herr Kol lege Walter.
(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Jür gen Walter GRÜNE: Sie hätten dies bereits vier Wo chen vorher tun können! Darum geht es! – Gegenruf des Abg. Claus Schmiedel SPD: So ist es! – Abg. Jür gen Walter GRÜNE: Das Verhältnis stimmt nicht! – Abg. Claus Schmiedel SPD: Sie haben es verschlech tert!)
Ich bin davon überzeugt, dass die Bürger der Bundesrepublik Deutschland großen Wert darauf gelegt haben, dass wir den Griechen gerade keinen Blankoscheck gegeben haben, son dern dass wir Konditionen formuliert haben.
Die gleichen Konditionen galten übrigens auch zwei Wochen später beim Eurorettungsschirm über 750 Milliarden €, der er öffnet wurde, wovon 250 Milliarden € den IWF betreffen, 60 Milliarden € den EU-Haushalt und 440 Milliarden € von den 16 Staaten der Eurozone getragen werden.
Bei diesen 16 Ländern der Eurozone gab es natürlich auch un terschiedliche Interessen. Die Südländer wollten bei der Zweckgesellschaft, die jetzt am 8. Juni gegründet wurde, ei ne gesamtschuldnerische Haftung, wie wir das von den BGBGesellschaften her kennen. Deutschland hat sich durchgesetzt und hat gesagt: Wir sind bereit, die angesprochene Solidarität gegenüber Europa zu beweisen und – auch unter guten Ge sichtspunkten, weil die Folgen einer Alternative nicht abseh bar gewesen wären – in dieser Zweckgesellschaft 123 Milli arden € Haftung zu übernehmen, aber pro rata und nicht ge samtschuldnerisch über die gesamten 440 Milliarden €. Auch da gab es unterschiedliche Interessen.
Warum sage ich das? Weil wir bei so schwierigen Themen und großen Weggabelungen Europas schon auch darauf achten müssen, dass wir nicht auf dem Rücken der Bevölkerung in unabsehbare Haftungen geraten. Deshalb sagen wir: Dem Grunde nach wollen wir keine Transferunion in Europa.
Dies war eine schwierige Entscheidung. In dieser schwieri gen Entscheidung ging es vor allem darum, in der Güterab wägung abzuwägen: Stimmt man einem solchen Paket über haupt zu, und wo liegt die Alternative? There is no alternati ve. Dies wird mit TINA abgekürzt.
(Abg. Claus Schmiedel SPD: Oettinger lässt grüßen! Lieber bei Deutsch bleiben! – Vereinzelt Heiterkeit – Glocke des Präsidenten)
TINA ist keine junge Dame, sondern das ist die Frage, die sich hier genau in diesem Punkt gestellt hat: Gibt es eine Alterna tive?
Minister für Bundes-, Europa- und internationale Ange legenheiten Dr. Wolfgang Reinhart: Ich gestatte beim Kol legen Schmiedel sowohl eine Kurzintervention als auch eine Frage.
Herr Minister Reinhart, ich will nur richtigstellen, wie der Ablauf war: Die Bundeskanzlerin hat sich zu einem Zeitpunkt, als es dringend eines Signals be durft hätte,