Protocol of the Session on July 30, 2009

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Er möge ihn genie- ßen! – Abg. Thomas Blenke CDU: Doppelter Abge- ordneter, doppelte Rede!)

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Jürgen Walter hat zu einer Frage einen wichtigen Hinweis gegeben. Darauf möchte ich eingangs gleich eingehen.

Die Europäische Union hat, was Steuersenkungen angeht, z. B. den Weg bei der Mehrwertsteuer frei gemacht.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Die Mindestschwelle der Mehrwertsteuer für arbeitsintensive Dienstleistungen wurde vom Europäischen Rat gesenkt. Andere europäische Mitgliedsstaaten haben das bereits für Hotellerie und Gastronomie umgesetzt,

(Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

um die Binnennachfrage zu stärken. Die FDP bleibt bei ihrer Überzeugung, dass dies die beste Möglichkeit wäre, unseren Hotel- und Gastronomiebetrieben dabei zu helfen, faire Wettbewerbsbedingungen zu haben,

(Zuruf des Abg. Jürgen Walter GRÜNE)

wenn auch Deutschland die Mehrwertsteuersätze für diesen Bereich senken würde.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Europa steht dem jedenfalls nicht entgegen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Punkt, über den wir heute sprechen, ist auch für den Landtag von BadenWürttemberg und für das Land Baden-Württemberg von wesentlicher Bedeutung. Es geht um die Frage: Was folgern wir aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag?

Es ist wichtig – das wird in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen –: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat klar erklärt, dass der vorliegende Lissabon-Vertrag mit unserem Grundgesetz vereinbar ist. Ich meine, dass es wichtig ist, diesen Umstand noch einmal zu erwähnen. Denn in der Öffentlichkeit macht der eine oder andere Stimmung gegen die europäische Einigung und gegen den Lissabon-Vertrag, der die Arbeitsfähigkeit der Europäischen Union verbessert, der die Rechte der nationalen Parlamente stärkt, der die Rechte des direkt gewählten Europäischen Parlaments stärkt und der auch das Subsidiaritätsprinzip nun in einer einklagbaren Version in den Europäischen Verträgen verankert. Das alles sind Fortschritte.

Der Lissabon-Vertrag ist aus Sicht der FDP noch nicht das Optimum, stellt aber eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Vertrag von Nizza dar. Deshalb ist die FDP/DVP im Landtag von Baden-Württemberg, aber auch die FDP im Deutschen Bundestag dafür eingetreten, den Lissabon-Vertrag zu ratifizieren.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Wir freuen uns deshalb darüber, dass das Bundesverfassungsgericht den Lissabon-Vertrag für verfassungskonform erklärt hat.

Das Grundgesetz – auch das geht aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hervor – ist nicht nur völkerrechtsfreund

lich, sondern auch europafreundlich. Das Grundgesetz unterstreicht ausdrücklich die Integration Europas als wichtige Aufgabe.

Das Bundesverfassungsgericht stellt auch fest – das führt nach meiner festen Überzeugung und nach der Überzeugung meiner Fraktion zu einer Klarheit der Begrifflichkeit – und macht deutlich, was die Europäische Union aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts ist, nämlich ein Staatenverbund – mehr als ein loser Staatenbund –, aber eben nicht – oder noch nicht – ein verfasster europäischer Bundesstaat.

Es ist auch klar: Wenn wir einen solchen europäischen Bundesstaat anstreben und umsetzen wollen, dann wird dafür in der Bundesrepublik und mit Sicherheit auch in den anderen europäischen Mitgliedsstaaten ein Prozess der Verfassunggebung erfolgen müssen. Hier ist also auch klar eine Warnschwelle eingezogen. Oder, wie es das Verfassungsgericht wörtlich formuliert, innerstaatliche Sicherungen sollen eingezogen werden, damit nicht schleichend ein Bundesstaat entsteht, ohne dass der Souverän, in diesem Fall das deutsche Volk, die Möglichkeit hat, darüber zu entscheiden, ob wir überhaupt einen solchen europäischen Bundesstaat wollen und, wenn ja, in welcher Form.

Selbst wenn man über den europäischen Bundesstaat als langfristiges Ziel im Sinn von Vereinigten Staaten von Europa nachdenkt, wird sich auch die Frage stellen: Welcher Bundesstaat würde am Ende einer solchen Entwicklung stehen?

(Beifall des Abg. Dieter Kleinmann FDP/DVP)

Ist es ein zentralistischer Moloch, oder ist es etwas, was wir wollen, nämlich ein dezentrales, auf dem Prinzip des Wettbewerbsföderalismus aufgebautes Staatswesen? Insofern stehen wir voll hinter dem, was das Verfassungsgericht erklärt hat: Wir wollen die Europäische Union als Staatenverbund.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Wichtig ist in diesem Zusammenhang die jetzt geforderte Stärkung der nationalen Parlamente, eine Forderung, die wir Liberalen immer wieder erhoben haben. Ich darf an dieser Stelle der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, dass die FDPBundestagsfraktion dem Begleitgesetz zwar zugestimmt hat, aber nicht mit als Antragsteller aufgetreten ist, weil uns die Mitwirkungsrechte des Bundestags und des Bundesrats nicht weit genug gehen. Also auch hier fühlen wir uns bestätigt und bestärkt in unserer Forderung, dass die nationalen Parlamente frühzeitiger und intensiver in die Diskussionen eingebunden werden. Wenn wir beklagen, dass die Bürgerinnen und Bürger, dass die Öffentlichkeit zu spät oder gar nicht in die europäische Gesetzgebung einbezogen wird, dann bietet jetzt die vom Verfassungsgericht geforderte Nachbesserung dieses Begleitgesetzes eine riesige Chance, das zu ändern.

Andere europäische Länder – wie Dänemark, aber auch Finnland – zeigen ja, dass dort die Dinge in den nationalen Parlamenten intensiver diskutiert werden. Das führt natürlich zu der entsprechenden Öffentlichkeit, die uns bisher fehlt, sodass Bürgerinnen und Bürger nicht von einer Entscheidung überrascht werden, die auf europäischer Ebene möglicherweise im Hinterzimmer gefällt wird, sondern durch die Diskussionen in den nationalen Parlamenten, in diesem Fall im Bundestag und im Bundesrat, eine Öffentlichkeit entsteht. Dann können

Verbände, organisierte Interessen, aber auch der einzelne interessierte Bürger, die interessierte Bürgerin, sich besser einbringen und sich auch an ihre Abgeordneten auf den verschiedenen Ebenen wenden. Auch das ist ein großer Vorteil, der jetzt umgesetzt werden kann.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Wir fordern, dass der Bundestag schnell nachbessert. Das Begleitgesetz sollte die notwendigen Dinge aufgreifen. Wir warnen aber auch davor, dass jetzt mit Zwischenrufen, vor allem aus München, die Ratifikation des Lissabon-Vertrags verzögert wird. Man sollte jetzt nicht neue Fässer aufmachen,

(Abg. Dieter Kleinmann FDP/DVP: So ist es!)

sondern sich darauf konzentrieren, die notwendigen Anforderungen des Verfassungsgerichtsurteils umzusetzen. Das ist der entscheidende Punkt.

Wir als FDP plädieren dafür, jetzt die Kräfte zu bündeln. Wir hoffen, dass es innerhalb der Union gelingt, auch die Kollegen von der CSU einzufangen. Denn wie wir von unseren liberalen Freunden in Bayern hören, sehen die das genauso. Das heißt, die FDP kann auch als Korrektiv in der Koalition in Bay ern wirken, um eine schnelle Ratifikation des Lissabon-Vertrags zu schaffen.

Alles Weitere dann in der zweiten Runde.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Thomas Blenke CDU: Was täten wir ohne euch?)

Meine Damen und Her ren, inzwischen hat auf der Gästetribüne der israelische Unternehmer und Mäzen Herr Stef Wertheimer mit seiner Partnerin Lynn Holstein Platz genommen. Herr Wertheimer ist u. a. nach Baden-Württemberg gekommen, um gemeinsam mit Herrn Ministerpräsident Oettinger eine Absichtserklärung zu unterzeichnen.

Er wurde im badischen Kippenheim geboren und musste 1937 vor den Nationalsozialisten nach Israel fliehen. Er ist heute eine der erfolgreichsten Unternehmerpersönlichkeiten Israels und setzt sich mit großem persönlichem Engagement für die Befriedung der Situation im Nahen Osten ein. Sein Hauptaugenmerk gilt der Förderung des friedlichen Miteinanders zwischen Israelis und Palästinensern. In einem tief beeindruckenden Museum in seinem Wohnort Tefen in Galiläa hat Stef Wertheimer die große Aufbau- und Lebensleistung vieler einst aus Deutschland vertriebener jüdischer Mitbürger gewürdigt.

Im April dieses Jahres wurde Herr Wertheimer von Ministerpräsident Oettinger mit der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.

Herr Wertheimer, ich darf Sie und Ihre Partnerin im Landtag von Baden-Württemberg recht herzlich willkommen heißen, Ihnen auch im Namen des Landtags für Ihr großes Engagement danken und Ihnen weiterhin einen angenehmen Aufenthalt in unserem Bundesland wünschen. Herzlich willkommen!

(Beifall bei allen Fraktionen)

Für die Landesregierung erhält nun Herr Minister Professor Dr. Reinhart das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich glaube, in einem solchen Moment, in dem ein Unternehmer aus Israel bei uns ist und in dem auch der Landtagspräsident des Freistaats Sachsen anwesend ist, bietet sich das Thema Europa besonders an. Es bietet sich an, dass wir bei der Frage, was Europa bedeutet, auch die geschichtliche Dimension einbeziehen und mit einem Rückblick beginnen. Denn nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.

Zur deutschen Vergangenheit gehört die Tatsache, dass wir nach zwei Kriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nun das große Glück haben, in der längsten Friedenszeit, die die moderne Geschichte kennt, zu leben. Das verdanken wir, wenn wir die Geschichte betrachten, auch der Verfassung.

Ich möchte daher einen Blick in die Präambel des Grundgesetzes werfen. Dort ist das Ziel eines geeinten Deutschlands innerhalb eines vereinten Europas formuliert. Es waren Männer wie Adenauer, Schuman und De Gasperi, Männer des Widerstands, die vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus zwei Weltkriegen dieses Europa gebaut haben. Deshalb gehört dazu auch das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands. Denn was damals von Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg begonnen wurde – es wurde damit begonnen, an diesem Haus zu bauen –, ist vor 20 Jahren durch den Fall der Mauer Wirklichkeit geworden, ist vollendet worden.

Deshalb, meine ich, sind es zwei Personen, die innerhalb der letzten 60 Jahre zu Symbolen geworden sind. Vor wenigen Wochen haben wir des 60-Jahr-Jubiläums des Grundgesetzes und damit des 60-Jahr-Jubiläums der Bundesrepublik Deutschland gedacht. Wenige Wochen zuvor war es das Gedenken an 60 Jahre NATO in Straßburg, Kehl und Baden-Baden, und im vergangenen Juni war es das 60-Jahr-Jubiläum des Europarats.

Ich stelle das deshalb voran, weil ich glaube, dass man Europa, auch aus der Sicht Baden-Württembergs, in seiner ganzen Entwicklung, in diesem bis heute währenden Prozess nur verstehen kann, wenn man den Beginn und die Entwicklung innerhalb dieser 60 Jahre immer vor Augen hat. Viele hätten damals wohl nicht geglaubt, dass wir in diesem Jahr 2009 an einem solchen Punkt stehen würden, an dem wir über die Verabschiedung des Lissabon-Vertrags sprechen, in der Finalrunde sind.

Deshalb wollen wir auch an diesem Tag einen Beitrag dazu leisten, dass sich die Bundesrepublik Deutschland noch vor dem irischen Referendum am 2. Oktober in der Gemeinschaft derjenigen einfindet, die diesen Lissabon-Vertrag bereits ratifiziert haben. Denn wir sind ein Land innerhalb Europas, das immer fortschrittlich, das immer ein Wegbereiter war. Das Bundesland Baden-Württemberg, das mitten im Herzen von Europa liegt und das eine lange Grenze zu Frankreich und damit ein Symbol der Versöhnung in Europa hat, ist hierfür ein Motor. Dies bringt uns auch Vorteile, etwa in der Wirtschaft. Gerade in der heutigen Zeit, in einer Zeit der Finanzkrise,

zeigt sich, wie wichtig das ist. Ich nenne auf dieser Wegstrecke nur die Einführung des Euro.

Lassen Sie mich in meiner Vorbemerkung nur noch eine Zahl nennen: Zu Beginn des letzten Jahrhunderts waren 20 % der Bevölkerung auf diesem Planeten Europäer; derzeit sind es nur noch 12 %. Allen Prognosen zur Entwicklung der Weltbevölkerung zufolge werden im Jahr 2050 nur noch 4 % der Weltbevölkerung Europäer sein. Deshalb ist der Satz von Angela Merkel, Europa gelinge nur gemeinsam, in diesen Zeiten schneller Veränderungen und globaler Herausforderungen angesichts einer Finanzmarktkrise, die wir ja auch nicht mehr ausschließlich national, sondern nur im Geleitzug, im Korsett Europas werden bewältigen können, richtiger denn je.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Ich möchte meine Rede nach diesen Vorbemerkungen mit einem Dank an meine Vorredner beginnen. Ich habe im Bundesrat die Ehre gehabt, für unser Land dem Lissabon-Vertrag und auch den Verfassungsänderungen zuzustimmen. Es ist Realität, dass außer der Linken alle Parteien diesem Weg und damit auch dem Lissabon-Vertrag zugestimmt haben. Das ist heute auch in Ihren Beiträgen zum Ausdruck gekommen. Ich will bewusst sagen: Ich halte das, was die Linke macht, nämlich den Vertrag abzulehnen, für unverantwortlich, was den deutschen Weg nach Europa angeht. Deshalb bin ich dankbar, dass sich heute alle mit diesem Weg solidarisch erklärt haben.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)