Protocol of the Session on July 8, 2009

Dann würden Sie zu einem anderen Ergebnis kommen. Deswegen sage ich Ihnen: Nehmen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück!

(Beifall bei der SPD – Lachen des Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU – Abg. Katrin Altpeter SPD: Bravo!)

Das Wort erhält Frau Abg. Rastätter für die Fraktion GRÜNE.

(Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Jetzt aber zustimmen! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Auf die Frau Ra- stätter freue ich mich!)

Ich frage mich, wie lange die Freude geht.

(Heiterkeit der Abg. Karl-Wilhelm Röhm und Volker Schebesta CDU)

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute vorgelegte Gesetzentwurf zur Werkrealschule ist für uns Grüne ein erneuter untauglicher Versuch, das dreigliedrige Schulsystem auch noch über die nächsten Jahre hinüberzuretten.

(Oh-Rufe – Abg. Reinhold Gall SPD: Aus ist es mit der Freude! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Sie wollen gleich die Basisschule!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Jahrzehnten hat es unzählige Stärkungsprogramme und Rettungsversuche für die Hauptschule gegeben.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Ihr habt sie alle madig gemacht!)

Kein einziger dieser Versuche hat dazu geführt, dass die Akzeptanz verbessert werden konnte und die rückläufigen Schülerzahlen aufgehalten werden konnten. Das heißt ganz konkret: Die Situation, vor der wir jetzt stehen, ist das Ergebnis des Bildungserfolgs in Baden-Württemberg in den letzten Jahrzehnten. Denn durch die von uns gewünschte, geförderte und erfolgreiche Bildungsexpansion sind die Quoten der Übergänge ins Gymnasium und in die Realschule gestiegen. Es ist ganz normal, dass die Eltern am Ende der Grundschulzeit die beste Option für ihre Kinder wünschen. Sie entscheiden sich also für die Schulart, die von vornherein ein für sie sicherer Weg zu einem mittleren Bildungsabschluss oder zum Abitur darstellt.

Heute besuchen deshalb nur noch 25 % der Schüler die Hauptschule, und 60 % davon sind heute bei uns in Baden-Würt temberg Kinder mit Migrationshintergrund. Hätten wir in Baden-Württemberg nicht diese hohe Quote von insgesamt 33 % Kinder mit Migrationshintergrund, könnten wir den größten Teil der Hauptschulen im Land schon heute nicht mehr aufrechterhalten.

Das neue Konzept der Werkrealschule wird diese Entwicklung – die Abstimmung mit den Füßen aus der Hauptschule in die anderen Schularten – nicht aufhalten können. Dadurch wird sich die soziale Auslese in unserem Bildungswesen noch verschärfen.

Deshalb sagen wir Grünen: Wir brauchen nicht immer die Fortsetzung der Symptombekämpfung der Krise unseres Bildungssystems, sondern wir brauchen endlich eine ganzheitliche Therapie. Die ganzheitliche Therapie kann nur heißen, die Kinder endlich unabhängig von ihrer sozialen Herkunft länger gemeinsam lernen zu lassen und sie differenziert und individuell zu fördern.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte in einigen Punkten unsere Hauptkritik an dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Werkrealschule vortragen. In diesem Konzept der Werkrealschule werden Schülerinnen und Schüler zu Bildungsverlie rern gemacht. Denn im Gegensatz zu dem traditionellen Modell der Werkrealschule, das auf fünf Jahre angelegt war und damit der Logik des Bildungssystems entsprach – die Anschlussfähigkeit war gesichert –, ist es jetzt ein durchgängiger sechsjähriger Bildungsgang.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Mit Anschluss, Frau Rastätter!)

Wer nicht in die zehnte Klasse kommt, wird im Prinzip zu einem Bildungsverlierer,

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Warum? Die Be- rufsfachschule gibt es ja auch!)

weil er nicht den durchgängigen Bildungsgang durchlaufen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bedeutet, dass bereits am Beginn des Bildungsgangs für die Schüler wieder Stress und Druck entstehen. Sie sind gerade über den Auslesedruck in der Grundschule hinweggekommen und werden erneut einem solchen Auslesedruck ausgesetzt.

Was kann man machen, Kollege Schebesta? Auch wenn Sie mit Experten gesprochen haben, gibt es doch gar keinen Hinderungsgrund, einem Kind die Empfehlung zu erteilen: Mach du einen Hauptschulabschluss. Aber warum kann man die Kinder nicht auch in das zehnte Schuljahr gehen lassen und dort am Ende einen Hauptschulabschluss oder einen Werkrealschulabschluss anbieten? Für viele Schüler wäre dieses weitere Lernjahr ein positives Angebot, bei dem sie auch ihren Hauptschulabschluss verbessern könnten.

(Beifall der Abg. Ilka Neuenhaus GRÜNE – Unruhe – Glocke der Präsidentin)

Ich darf um Ruhe bitten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch keine Gleichwertigkeit zwischen der Werk realschule und der Realschule. Zwar haben Sie, Herr Kultusminister Rau, auf massiven Druck hin die Übergangsbestimmungen mittlerweile so ausgestaltet, dass auch für diese Schüler eine 2,4 für die Aufnahme in ein berufliches Gymnasium als Durchschnittsnote genügt. Dennoch ist die Werkrealschule vom Konzept her eine Weiterentwicklung des Bildungs

gangs der Hauptschule. In der Beschreibung dieser Schulart wird festgestellt, es sei die Schule für die praktisch Begabten. 60 % der Kinder mit Migrationshintergrund sind in der Hauptschule. Ich frage Sie: Sind dies alles praktisch begabte Kinder? Sind bei den deutschen Kindern nur 20 % praktisch begabt?

(Abg. Jörg Döpper CDU: Wahrscheinlich!)

Wir kommen mit diesem wissenschaftlich überholten Begabungsbegriff für die Ausgestaltung unserer Bildungsgänge nicht mehr zurecht. Das ist doch ein Anachronismus, der dringend überwunden werden muss.

(Beifall bei den Grünen)

Das heißt für uns – das ist ganz klar –: Mit dieser Ausgestaltung für praktisch Begabte – ihnen wird unterstellt, sie hätten keine kognitiven Kompetenzen – können die Potenziale dieser Schülerinnen und Schüler in dieser Schulart nicht ausreichend gefördert werden, und sie werden weiterhin zu einem erheblichen Teil unter ihren Möglichkeiten bleiben.

Ein weiterer Kritikpunkt für uns ist: Die bessere berufliche Orientierung gilt ausschließlich für die Hauptschule, also nur für 25 % der Schüler. Gerade Sie, Kollege Schebesta, haben ausgeführt, dass wir große Anstrengungen bei der beruflichen Qualifizierung unternehmen müssen. Diese bessere berufliche Qualifizierung wäre doch auch sehr hervorragend für schwächere Realschüler oder auch für Gymnasiasten oder für andere Schüler, die sich dafür interessieren, geeignet. Das heißt, die Fixierung dieser beruflichen Orientierung auf eine Schulart, in der sich 25 % der Schüler befinden, macht doch überhaupt keinen Sinn. Damit stellen wir fest: In einer Schule, in der Kinder länger gemeinsam lernen, könnten all diejenigen, die insbesondere an einer besseren beruflichen Qualifizierung interessiert wären, daran teilnehmen, ohne dass das auf die Hauptschulen begrenzt wäre.

Schließlich sind alle Forderungen, die irgendwo gestellt wurden, durch diese Verwässerung in den Gesetzentwurf eingeflossen.

(Abg. Volker Schebesta CDU: Jesses, ist das schlimm!)

Da haben wir festgestellt: Diese Werkrealschule hat zu einem unübersichtlichen Wirrwarr von Schulformen und Abschlüssen geführt. Es gibt weiterhin einzügige Hauptschulen. Es gibt einzügige Hauptschulen, die ein zehntes Schuljahr führen dürfen, wenn sie mindestens 16 Schüler haben. Diese können dann mit einem dem Realschulabschluss gleichwertigen Abschluss abschließen; das ist wohl der traditionelle Werkrealschulabschluss. Es gibt zweizügige Werkrealschulen, die den Werkrealschulabschluss ermöglichen. Es gibt einen zweijährigen Bildungsgang nach dem achten Schuljahr.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Den gibt es schon jetzt! Das ist nichts Neues, Frau Rastätter!)

Schließlich können die Werkrealschulen auf mehrere Standorte verteilt sein, müssen dann aber eine gemeinsame Schulleitung haben. Das ist ein völlig unübersichtlicher Wirrwarr,

(Zuruf des Abg. Jörg Döpper CDU)

der vor allem verschleiern soll – worauf Kollege Zeller deutlich abgehoben hat –,

(Zuruf des Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP)

dass dieses Werkrealschulprogramm im Grunde genommen darauf angelegt ist, zu einem Massensterben von kleinen Hauptschulstandorten in Baden-Württemberg zu führen. All das wird mit diesem Wirrwarr an Schulformen und Angeboten verschleiert.

Die Situation möchte ich Ihnen einmal an einem Beispiel schildern, das ich dieser Tage in Kronau erlebt habe. Die Erich-Kästner-Grund- und Hauptschule in Kronau ist eine dreizügige Grundschule mit einer einzügigen Hauptschule. In Bad Schönborn nebendran gibt es eine zweizügige Hauptschule. Jetzt ist die Frage dort: Was machen wir, wenn das eine Werkrealschule werden soll? Selbstverständlich wird bei einer Kooperation die größere Schule, nämlich die in Bad Schön born, die Werkrealschulleitung übernehmen. Damit muss der Schulleiter in Kronau seine Schulleiterstelle für die Hauptschule abgeben und ist dann nur noch Schulleiter der Grundschule. Wenn also z. B. ein Bedarf in der Hauptschule besteht, dann muss sich der Schulleiter aus Bad Schönborn einschalten,

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Das muss er nicht!)

während der Schulleiter in Kronau nur noch der Schulleiter der Grundschule ist.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Das muss er nicht!)

Dazu kommt, dass diese Grund- und Hauptschule ein Profil als sozialintegrative Hauptschule hat. Das heißt, die macht seit vielen Jahren das, was wir jetzt in Baden-Württemberg insgesamt fördern müssen. Sie hat nämlich vier Außenklassen: drei der Sonderschule für Körperbehinderte in Langensteinbach und eine Außenklasse einer Geistigbehindertenschule. Die Schule ist also eine integrative Profilschule, von deren Art wir jetzt viele brauchen.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ja, das dürfen sie auch weiterhin machen!)

Wenn die Schüler dort jetzt in die Hauptschule gehen, die ja ein Teil der Werkrealschule wird, dann ist doch für diese Hauptschüler gar nicht mehr einzusehen, dass sie dort bleiben. Denn sie können ja, wenn sie nach Bad Schönborn gehen, dort sechs Jahre lang die gleiche Schule besuchen.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Deswegen Koope- ration!)

Damit bricht dieses wunderbare Modell der integrativen Schule dort zusammen.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Nein, das bricht nicht zusammen!)

Solche Überlegungen hätten Sie zuvor anstellen sollen. Sie hätten sich bei den Schulleitern vorher genau sachkundig machen sollen, zu welchen Verwerfungen dieses Konzept mit mehreren Standorten in Baden-Württemberg führen wird.

(Zuruf des Abg. Hagen Kluck FDP/DVP)