Protocol of the Session on April 23, 2009

Darüber hinaus ist vor allem festzustellen, dass von 123 000 Verurteilten im letzten Jahr 81 % Männer waren; bei denen, die sich im Strafvollzug befinden, haben wir es zu nahezu 95 % mit Männern zu tun. Wir haben es also mit einem Problem von jungen Männern zu tun – hauptsächlich Deutsche, auch Ausländer sind dabei. Zu einer sachlichen Diskussion gehört, dass man die Dinge beim Namen nennt.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Aber dann werden Sie konkret sachlich, Herr Kollege! – Gegenruf des Abg. Thomas Oelmayer GRÜNE: Das kannst ja du machen!)

Ich rede sachlich, kein Problem.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Konkret!)

Worüber wir heute diskutieren, sind die Rezepte, wie wir dieses Problems Herr werden können. Da gibt es mehrere Baustellen. Da gibt es zum einen das Strafrecht und zum anderen den Strafvollzug. Beim Strafrecht haben wir erlebt, zu welch absurden Thesen sich Einzelne in dieser aufgeheizten

Stimmung verstiegen haben, um dieses Problems Herr zu werden.

(Abg. Dieter Kleinmann FDP/DVP: Ja!)

Da wollen doch Leute allen Ernstes die Höchststrafe im Jugendstrafrecht von zehn auf 15 Jahre hochsetzen. Meine Güte! Was haben wir denn da für ein Thema? Man muss sich zunächst einmal die Zahlen vor Augen halten: Die Durchschnittsverweildauer von Jugendlichen in Haftanstalten beträgt elf Monate. Die Jugendlichen und Heranwachsenden, die zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren oder mehr verurteilt worden sind, machen einen Prozentsatz von 0,58 aus. 0,58 % der Jugendlichen sind überhaupt zu einer so hohen Haftstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden. Der Spielraum beträgt aber bis zu zehn Jahre. Warum soll man dann noch die Höchststrafe auf bis zu 15 Jahre erhöhen? Das versteht in der Fachwelt überhaupt niemand mehr. Das sind völlig überzogene Forderungen.

Der zweite absurde Vorschlag ist, ab 18 Jahren konsequent das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden. Man muss sich einmal klarmachen, dass die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende bis 21 Jahre nur bedeutet, dass der Strafrichter einen größeren Spielraum bei der Frage der Bestrafung hat. Nach Erwachsenenstrafrecht hat er die Möglichkeit, Haft, Geldstrafe oder Haft auf Bewährung zu verhängen. Aber wie kriegt man denn einen Jugendlichen oder einen Heranwachsenden, dem man eine Geldstrafe aufdonnert, gebessert? Den trifft man nicht mit einer Geldstrafe. Großverdiener trifft man mit einer Geldstrafe, Jugendliche nicht.

Eine Haftstrafe wird unter allen Fachleuten als die schlechteste Sanktion für einen Heranwachsenden betrachtet. Also ist es das Beste, wenn man die Möglichkeit hat, Jugendliche und Heranwachsende bis 21 Jahre unter Anwendung des Instrumentariums des Jugendstrafrechts, nämlich mit Arbeitsauflagen,

(Abg. Ingo Rust SPD: So ist es!)

mit Aufenthaltsweisungen und mit vernünftigen Wiedergutmachungsanweisungen, bestrafen zu können und eben nicht mit Gefängnis- und nicht mit Geldstrafe. Das wäre grober Unfug.

(Beifall bei der SPD)

Noch verheerender, meine Damen und Herren, ist Folgendes: Jedem, der Kinder in der Pubertät hat, tränen die Augen bei der Vorstellung, dass die Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze von jetzt 14 Jahren auf zwölf Jahre überhaupt erwogen wird.

(Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP: Davon war in Baden-Württemberg nie die Rede! – Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Ihr wollt ja das Wahlalter herabset- zen!)

Auch dazu Zahlen: Wir haben es in den Jahren 2003 bis 2007 mit insgesamt sechs Kindern zu tun, die zum Tatzeitpunkt 14 Jahre alt waren und verurteilt wurden, sechs 14-Jährige in fünf Jahren. Das ist der Anteil, von dem wir reden. Da die Kurve noch weiter nach unten zu drehen bis hin zu zwölfjährigen Kindern, ist ein Riesenfehler.

Der nächste absurde Vorschlag, der immer wieder herumgeistert, ist der Warnschussarrest. Wenn man die Rückfallzahlen von Jugendlichen, die sich strafbar gemacht haben, kennt, dann weiß man, dass die höchste Rückfallquote bei denjenigen besteht, die eine Jugendstrafe bekommen haben; sie beträgt 78 %. Nahezu jeder, der eine Jugendstrafe bekommen hat, wird wieder rückfällig. Beim Jugendarrest sinkt der Anteil auf 70 %, bei Bewährungsstrafen auf 60 %.

Jetzt kommt die wichtige Überlegung: Wenn jemand, der eine Jugendstrafe mit Bewährung bekommen hat – sich also mehr strafbar gemacht hat als jemand, der einen Jugendarrest bekommen hat –, mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit rückfällig wird als derjenige, der eine Arreststrafe bekommen hat,

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Ha, ha, ha!)

dann muss einem das zu denken geben, und dann sagt uns das auch, in welche Richtung die Aufgaben im Vollzug letztlich gehen sollten.

(Abg. Karl Zimmermann CDU: Falschen Schluss ge- zogen!)

Ich will ganz kurz noch die beiden positiven Beispiele aufzeigen, die in der Stellungnahme zu den Anträgen ja beschrieben worden sind. Das sind zum einen die Projekte in Creglingen und Leonberg mit einem absolut hohen Betreuungsschlüssel, wo straffällig gewordene Jugendliche vorbildlich motiviert werden und nachher auch wieder zu wertvollen Gliedern der Gesellschaft werden.

(Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP: Strafvollzug in freier Form!)

Das will ich absolut positiv hervorheben. Eine sehr gute Einrichtung!

(Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP: Das ist so- gar privat! Strafvollzug in privater Führung!)

Eine zweite gute Einrichtung möchte ich erwähnen: In Adelsheim gibt es die Ausbildung im Vollzug im Rahmen des Modellprojekts ISAB, das vom Berufsfortbildungswerk des DGB getragen wird. Das muss man sich einmal überlegen: Da haben wir es mit Jugendlichen im Strafvollzug zu tun. Diese machen eine Arbeitsvorbereitung für die Zeit nach der Haft. Danach bekommen 20 % der Betreuten eine Arbeitsstelle – 20 % der vormals Inhaftierten! –; 30 % kommen in eine berufsvorbereitende Maßnahme, 18 % in eine Berufsausbildung, und 10 % erhalten einen Schulplatz. Nur 12 % dieser schwierigen Klientel bleiben übrig. Da kann ich nur sagen: Das ist vorbildlich und muss ausgebaut werden, und es zeigt letztlich auch, wohin die Reise gehen muss. Wir brauchen intensive Betreuung, wir brauchen Investitionen in den Bildungsbereich, und wir brauchen – das ist die erste Erkenntnis – zunächst einmal flexible Möglichkeiten für den Strafrichter bei der Entscheidung.

Die wichtigste Erkenntnis in Bezug auf den Jugendstrafvollzug – das wird auch aus den Stellungnahmen zu den Anträgen klar, die vorbildlich abgefasst sind – ist die, dass die Frage der Jugendkriminalität keine Frage der nationalen Her

kunft, sondern eine soziale Frage ist. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis, und auf diese müssen wir aufbauen.

Die zweite wichtige Erkenntnis ist: Die größte Abschreckung ist, Angst davor zu haben, erwischt zu werden. Auch das ist eine ganz wichtige Erkenntnis. Das heißt, wir müssen in Polizei und Gerichte investieren, um so schnell wie möglich und so intensiv wie möglich Straftäter zu erwischen. Davor haben sie Angst.

Aber die zentrale Erkenntnis ist: Bildung und Schulsozialarbeit sind die beste Kriminalprävention.

(Beifall bei der SPD und der FDP/DVP sowie des Abg. Dr. Stefan Scheffold CDU)

Ich will Franz von List zitieren und dann die Richtigkeit seiner Aussage mit Beispielen begründen: „Sozialpolitik stellt zugleich die beste und wirksamste Kriminalpolitik dar.“

Dazu zwei Beispiele: In Hannover hat sich in den Jahren von 1998 bis 2006 der Anteil der türkischen Jugendlichen, die einen Realschulabschluss oder das Abitur anstreben, von 52 auf 67 % erhöht. Gleichzeitig sank die Zahl der Mehrfachtäter auf die Hälfte. In München ist genau das Gegenteil der Fall: In München ist der Anteil junger Türken, die die Hauptschule besuchen, doppelt so hoch wie in Hannover, und gleichzeitig ist die Zahl der Mehrfachtäter in den letzten zehn Jahren von 6 % auf 12 % gestiegen, hat sich also verdoppelt. Das heißt: Unterschiedliche Konzepte bringen unterschiedliche Ergebnisse.

Die Probleme und die Antworten darauf können alle in den Drucksachen nachgelesen werden. Jetzt sind wir hoffentlich auf dem richtigen Weg. Aber die Lösungen, die ein härteres Strafrecht vorsehen, bringen uns keinen Schritt weiter.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Zimmermann für die Fraktion der CDU.

(Zuruf von der CDU: Jimmy! – Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Anständig bleiben! – Gegenruf des Abg. Reinhold Pix GRÜNE: Ist er doch immer!)

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe noch anwesende Damen und Herren! Leider haben einige von uns den Saal verlassen, obwohl das eigentlich ein interessantes Thema ist.

(Zurufe, u. a. Abg. Reinhold Gall SPD: Das dürfen sie!)

Ich gebe zu: Sie dürfen es.

(Heiterkeit bei der SPD)

Das Thema „Jugendkriminalität, Jugendgewalt und Jugendstrafrecht“ haben Sie, Herr Kollege Sakellariou, statistisch sauber aufgearbeitet. Ich muss auch sagen, dass die in den Anträgen gestellten Fragen umfassend beantwortet wurden. Ich sage Ihnen aber auch, dass die drei Verbrechen, die in den vergangenen Wochen seit dem 11. März in Baden-Württemberg

verübt wurden – Winnenden/Wendlingen, Bad Buchau und Eislingen –, Anlass bieten, unter diesem Tagesordnungspunkt einen Ausblick zu geben und zu fragen, ob all das, was wir bisher festgestellt und statistisch dazu erhoben haben, was Jugendkriminalität und Gewalt ausmacht, hierdurch nicht doch überschattet wird und ob wir nun nicht doch alles in einem anderen Licht sehen sollten.

Der Sonderausschuss zur Aufarbeitung des Amoklaufs in Winnenden/Wendlingen, den wir gestern fraktionsübergreifend gebildet haben, wird spannend sein. Ich freue mich, dass ich selbst dabei bin, und bin gespannt, was wir zum Jahresende hier vorlegen werden.

(Abg. Thomas Oelmayer GRÜNE: Es kommt auf die Ergebnisse an! Und auf die Umsetzung!)

Auf die Ergebnisse kommt es an, aber auch darauf, was während dieser Sitzungen herauskommt. Auf das Ergebnis, das wir am Ende haben werden, bin ich sehr gespannt. Deshalb ist die Statistik für mich jetzt nicht so wichtig, als dass ich näher darauf eingehen möchte.

Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung – aus Gesprächen der vergangenen Jahre, die ich mit meinen eigenen Söhnen und auch mit anderen geführt habe, aber auch aus Gesprächen, die ich in den vergangenen Tagen mit verschiedenen Polizeibeamten geführt habe – sagen, dass sich das Anzeigeverhalten massiv verändert hat. Je brutaler eine Tat ist, die vom Opfer zur Anzeige gebracht werden müsste, desto zurückhaltender sind die Opfer. Das ist schon bedenklich. Vor ein paar Jahren wurde der Sohn eines Polizeibeamten in der Fußgängerzone einer großen Kreisstadt zusammengeschlagen nach dem Motto: „Hast du Zigarette?“ oder ähnliches. Mein Sohn war damals auch dabei.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Als Opfer?)

Als Opfer. – Ich habe gesagt: Wir gehen morgen zur Polizei und erstatten Anzeige. Der andere Vater sagte: Ich mache dies nicht, weil ich meinen Sohn nicht Tag und Nacht beschützen kann. Das möchte ich zum Stichwort Statistik noch hinzufügen.

Ich werde Ihnen einen Brief von der Staatsanwaltschaft vorlesen.