Protocol of the Session on March 17, 2005

wollen. Es macht doch keinen Sinn, wenn Jugendliche erst eine berufliche Vollzeitschule durchlaufen und anschließend noch einmal mit den gleichen schulischen Inhalten eine Berufsausbildung absolvieren. Es geht hier ja nicht nur um einen verantwortungsvollen Umgang mit der Lebenszeit junger Menschen,

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Sehr richtig!)

die unnötig lang ihre Berufsausbildung ausdehnen müssen, sondern es geht auch um Ressourcen, um Lehrerstunden, die dabei eingespart werden können. Diese Lehrerstunden brauchen wir dringend zur Förderung benachteiligter Jugendlicher, die berufliche Schulen besuchen und die zur Berufsfähigkeit geführt werden müssen.

Meine Damen und Herren, damit bin ich beim Thema Unterrichtsversorgung. Von allen Schularten haben die beruflichen Schulen in der Unterrichtsversorgung das allergrößte Defizit, nämlich 5,4 %. Dieses strukturelle Defizit ist zwar – und das erkenne ich auch an – in den letzten Jahren von 7 % auf 5,4 % reduziert worden,

(Abg. Wintruff SPD: Durch 420 Deputate!)

aber 5,4 %, das sind 20 894 Unterrichtsstunden oder 835 Lehrerdeputate. Da es ja an den beruflichen Schulen keine Lehrerreserve gibt, kommen noch 3,6 bis 4,7 % regulärer Unterrichtsausfall hinzu, sodass das reale Defizit bei ungefähr 10,5 % liegt. 10,5 % Unterrichtsausfall an den beruflichen Schulen bedeuten insgesamt 1 500 Lehrerdeputate. Ein solch massiver Unterrichtsausfall kann weder kleingeredet noch schöngeredet werden, Frau Ministerin.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Wenn jede zehnte Stunde ausfällt, ist das eine Unterrichtsversorgung, bei der Eltern und Schüler an allgemein bildenden Schulen auf die Barrikaden gingen.

Frau Ministerin, ich kenne ja Ihre Argumentation. Wir reden ja heute nicht zum ersten Mal über dieses Thema. Sie sagen immer, in Baden-Württemberg sei die Messlatte höher gehängt, wir hätten in Baden-Württemberg schließlich 13 Stunden. Dem halte ich entgegen: Wenn man die Messlatte so hoch hängt, muss man diese Messlatte natürlich auch erreichen. Sonst macht dies gar keinen Sinn. Selbstverständlich gehört dazu der Religionsunterricht. Ich sage an dieser Stelle aber auch: Dazu gehört auch Ethik. Denn Ethik an der beruflichen Schule läuft immer noch als Schulversuch. Ethik- und Religionsunterricht müssen an beruflichen Schulen endlich regulärer Unterricht werden.

Wir brauchen für die nächsten 15 Jahre angesichts steigender Zahlen von Schülerinnen und Schülern und des sich abzeichnenden großen Lehrermangels einen Masterplan zur Sicherung der Unterrichtsversorgung.

Ich komme zum Schluss.

Wir müssen erstens alle Anstrengungen unternehmen, um die Zahl der Lehrstellen in Baden-Württemberg wieder zu erhöhen.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Das ist richtig!)

Zweitens: Wir brauchen bis zum Jahr 2008 jährlich 420 zusätzliche Lehrerstellen an den beruflichen Schulen, um den Zuwachs an Schülerinnen und Schülern zu bewältigen und das Defizit abzubauen.

Drittens: Es muss alles dafür getan werden, um Abiturienten für die Lehrerausbildung an beruflichen Schulen zu motivieren. Wir brauchen eine echte Imagekampagne, damit wir an den beruflichen Schulen, an diesen wichtigen und starken Schularten in Baden-Württemberg, genügend motivierte und qualifizierte Lehrer bekommen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Das Wort erteile ich der Ministerin für Kultus, Jugend und Sport, Frau Dr. Schavan.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Die alljährliche Debatte über die Unterrichtsversorgung in der beruflichen Bildung findet also heute statt. Ich stelle einen Fortschritt gegenüber allen Jahren zuvor fest: Alle loben die Stärke und die Spitzenposition der beruflichen Bildung. Deshalb sage ich: Glückwunsch an die Opposition.

(Abg. Fischer SPD: Das haben wir schon immer gemacht!)

Willkommen im Klub, dass auch Sie sagen: Berufliche Bildung in Baden-Württemberg ist Spitze.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Noll FDP/ DVP – Zurufe von der SPD und den Grünen, u. a. Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Das haben wir im- mer gesagt!)

Damit komme ich aber gleich auch zu den Fakten. Im Zeitraum von 1990 bis 2004 gab es in Baden-Württemberg eine Entwicklung bei den Ausbildungsplätzen, die wie folgt aussieht: 1990 kamen auf 138 angebotene Ausbildungsplätze 100 Bewerber. 2004 sind es noch 98 Plätze auf 100 Bewerber. Jeder in Deutschland weiß, dass es da trotz aller Bemühungen der Unternehmen, trotz aller Bündnisse und Pakte, die geschlossen worden sind, eine Abwärtsentwicklung gibt, dass es eine schlechtere Situation im Blick auf die Zukunftschancen der jungen Generation gibt. Deshalb sage ich, auch im Blick auf das, was heute in Berlin stattfindet: Wer zulässt, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland über Jahre stagniert, wer zulässt, dass 700 Arbeitsplätze täglich verloren gehen, wer zulässt, dass 40 000 Insolvenzen jährlich gemeldet werden, lässt zugleich zu,

(Abg. Kiefl CDU: So ist es!)

dass die Zukunftschancen der jungen Generation massiv beeinträchtigt werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Blenke CDU: So ist es! – Abg. Kretschmann GRÜ- NE: Die Politik kann doch keine Insolvenzen ver- bieten, Frau Kollegin!)

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Deshalb sage ich: Wer immer sich ein bisschen mit der Frage der beruflichen Bildung und den Stärken des dualen Systems beschäftigt, weiß auch, dass es eine sensible Verbindung zwischen Arbeitsmarkt und Ausbildungsmarkt gibt. Deshalb ist die Lage besorgniserregend. Wenn jeden Tag 700 Arbeitsplätze verloren gehen, können nicht am gleichen Tag Ausbildungsplätze entstehen. Das ist doch keine Frage in dem Sinne, ob jemand will oder nicht, sondern Tatsache ist, dass vielen Unternehmen, die gerne mehr ausbilden würden, das Wasser bis zum Hals steht, sodass sie nicht so viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen können.

(Abg. Kiefl CDU: So ist es! – Beifall bei der CDU)

Deshalb stimme ich allen zu, die sagen: Wir werden schon im Herbst dieses Jahres und, wenn das so weitergeht, auch in den nächsten Jahren für die berufliche Bildung weiter vor einer massiven Belastungsprobe stehen. Da geht es eigentlich nur noch um die Frage, was alles wir noch möglich machen können, um trotz dieser Misere, trotz dieser schwierigen Situation die überaus positiven Werte für Baden-Württemberg zu halten. Das wird, sage ich voraus, eine enorme Kraftanstrengung werden.

(Abg. Wintruff SPD: Das ist unsere Pflicht!)

Ich sage allerdings auch, wenn Sie aufzählen, wer alles verantwortlich sei: Die CDU und ich sind gerne für die berufliche Bildung in Baden-Württemberg verantwortlich.

(Abg. Wintruff SPD: Auch für die Schwächen und Mängel!)

Ich sage Ihnen: Die Schwächen sind dort am größten, wo die SPD lange regiert.

(Beifall bei der CDU – Zurufe von der SPD: Oh!)

Das kann man in Zahlen ausdrücken.

(Abg. Gall SPD: Sagen Sie etwas zu unserem Land!)

Ich sage ja etwas zu unserem Land. Das ist am schönsten im Vergleich mit den SPD-regierten Ländern.

(Abg. Kretschmann GRÜNE: Die Schönheit von Ländern ist nicht von Regierungen abhängig!)

Wenn Sie hier Arbeitgeberpräsident Hundt zitieren, ist das schon historisch, kann ich nur sagen. Ich will ja nicht daran erinnern, welcher SPD-Politiker in Deutschland duale Bildung, jedenfalls die schulische Seite, heruntergeredet hat. Das war Ministerpräsident Gerhard Schröder mit dem Satz: Ein Berufsschultag ist genug.

(Beifall bei der CDU – Abg. Wintruff SPD: Was? Das hat doch Rüttgers gesagt!)

Sie wissen – –

(Abg. Wintruff SPD: Wollen Sie zugeben, dass das gelogen war? Das war Rüttgers! Da haben Sie sich getäuscht!)

Jetzt regen Sie sich nicht so auf, das ist ungesund.

(Abg. Wintruff SPD: Da muss ich mich aufregen! – Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Wir sind doch heute alle guter Laune. Sie brauchen überhaupt nicht so böse zu werden.

(Abg. Wintruff SPD: Dieser unsinnige Rüttgers!)

Sie wissen genau, dass es damals eine Diskussion der Ministerpräsidenten gegeben hat und dass einzig der badenwürttembergische Ministerpräsident erklärt hat, es sei wichtig, sich auf wenigstens acht oder neun Stunden für die berufliche Schule zu einigen.

(Abg. Wintruff SPD: Das stimmt!)

Sehen Sie: Das stimmt. Es stimmt immer, was ich sage.

(Oh-Rufe von der SPD – Unruhe)