Protocol of the Session on March 17, 2005

Neben uns hat nur noch Thüringen sozusagen die Hausaufgaben zu machen, um ein solches Gesetz vorzulegen.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: So ist es! – Verein- zelt Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf bleibt trotz der langen Beratungszeit weit hinter den Erwartungen der Betroffenen, ihrer Verbände und der Vertreter von Selbsthilfeorganisationen zurück.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

Er hat auch nicht die Qualität der Gesetze in anderen Bundesländern. Sie haben einen langen, langen Anlauf genommen und sind schließlich doch zu kurz gesprungen.

(Beifall bei der SPD)

So wurden Sie dem Thema in seiner gesellschaftlichen und sozialen Dimension und den Intentionen der Betroffenen überhaupt nicht gerecht, weil Sie es unter anderem auch versäumt haben, diejenigen an der Gestaltung des Gesetzes zu beteiligen, die Experten in ihrer eigenen Sache sind.

(Zuruf des Abg. Rudolf Hausmann SPD)

Die Regierung hat damit eine Chance vertan, bereits im Stadium der Entstehung dieses Gesetzes das zu verwirklichen, was Sie immer propagieren, nämlich Teilhabe.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Deshalb ist es notwendig, den vorliegenden Entwurf in Form einer öffentlichen Anhörung mit den zuständigen Abgeordneten des Landtags und den Fachleuten aus Verbänden und Selbsthilfeorganisationen zu besprechen. Denn die Betroffenen und die Vertreter von Selbsthilfeorganisationen und Verbänden müssen nach der Vorlage dieses Gesetzentwurfs den Eindruck haben, nicht ernst genommen zu werden. Keiner ihrer Vorschläge zum Anhörungsentwurf wurde aufgenommen. Es gab kleinere, redaktionelle Änderungen. Ihr Engagement und ihre konstruktive Mitarbeit wurden somit in keiner Weise gewürdigt. Deshalb beantragen wir eine öffentliche Anhörung im Sozialausschuss des Landtags.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Ihr Gesetzentwurf ist die minimalste Umsetzung der Vorgaben des Bundes. Die entsprechenden Artikel zu Barrierefreiheit, Gebärdensprache, Kommunikationshilfe sind eigentlich schon jetzt Selbstverständlichkeiten. Sie bleiben aber in ihrer Ausgestaltung auch hinter anderen Landesgesetzen zurück.

Auch Ihre Ausführungen zu den Zielen des Gesetzes und der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die ich gern gehört habe und denen ich auch gern zustimme – das ist gar keine Frage –, sind wohlfeil. Vor allem sollen sie nichts kosten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: Es geht Ihnen zunächst mehr um Kostenneutralität als um die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen.

Allerdings stellt sich hier die Frage, ob da nicht am falschen Ende gespart wird. Bei der Herstellung von Barrierefreiheit – insgesamt und umfassend – geht es oftmals darum, Problemlösungen ortsnah, pragmatisch und kostensparend anzugehen. Der Sachverstand und die Problemlösungskompetenz der Menschen mit Behinderungen können dabei ge

nutzt werden. Dazu bedarf es aber eines Ansprechpartners vor Ort. Das wäre zum Beispiel ein Behindertenbeauftragter auf kommunaler Ebene.

(Beifall bei der SPD – Abg. Fischer SPD: Jawohl!)

Es ist uns in diesem Zusammenhang angesichts Ihrer politischen Nähe zu Bayern auch unverständlich, dass Sie keinen Blick in das bayerische Gesetz geworfen haben, das immerhin schon seit Juli 2003 in Kraft ist.

Aus der Sicht der SPD-Landtagsfraktion sollten folgende Punkte noch berücksichtigt werden. Wir werden dazu im Sozialausschuss unsere Änderungsanträge stellen.

Es geht um die Einrichtung eines Amtes des Beauftragten auf Landesebene für die Belange von Menschen mit Behinderungen – eines Landesbehindertenbeauftragten –, der keine ehrenamtliche Funktion hat und nicht mit einer Kannvorschrift, sondern verbindlich eingesetzt wird.

(Beifall bei der SPD)

Der Beauftragte ist gegenüber dem Landtag und der Landesregierung berichtspflichtig.

Es geht uns auch darum, Beauftragte auf kommunaler Ebene, also in Landkreisen und kreisfreien Städten, zu bestellen, weil die Menschen vor Ort Ansprechpartner brauchen. Es ist durchaus denkbar und auch nachvollziehbar, dass es am Ende billiger kommt, wenn der Experte, der Beauftragte in Planungen mit einbezogen wird.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Zuruf des Abg. Scheuermann CDU)

Zum Dritten reichen uns die Regelungen im Bereich Erziehung und Bildung zur Integration behinderter oder von Behinderung bedrohter Kinder, die bisher im Land gelten, nicht aus. Auch hier sehen wir einen Nachholbedarf.

Diese Regelungen würden den Bestimmungen in Artikel 2 a der Landesverfassung und in Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes gerecht werden und den viel beschworenen und in Sonntagsreden gefeierten Paradigmenwechsel in der Politik für behinderte Menschen mit Leben erfüllen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

In diesem Sinne werden wir bei der weiteren Beratung des Gesetzentwurfs konstruktiv mitarbeiten.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Das Wort erhält Herr Abg. Dr. Noll.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Leider habe ich in dieser Sache eine Wette verloren. Ich hatte beim letzten Tag der Menschen mit Behinderung hier im Landtag gewettet,

(Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Pfui!)

dass wir noch im europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung einen Gesetzentwurf würden vorliegen haben. Das ist leider nicht passiert. Umso dankbarer sind wir, dass es gelungen ist, in einem wirklich sehr langen Anlauf jetzt endlich das politische Signal zu setzen, dass wir das Ziel, das wir hier, glaube ich, alle gemeinsam verfolgen, nämlich das in der Landesverfassung verankerte Benachteiligungsverbot stärker zur Geltung zu bringen und insbesondere – positiv formuliert – für Menschen mit Behinderungen Bedingungen zu schaffen, unter denen sie selbstbestimmt und gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen teilhaben können, mit diesem Gesetzentwurf tatsächlich umsetzen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Nun mag man fragen: Warum habt ihr so lange gebraucht? Dazu schlage ich jetzt einmal einen Bogen, weil ich heute früh von der Frau Kollegin Sitzmann bei der Diskussion über das Antidiskriminierungsgesetz darauf angesprochen worden bin. Ich behaupte einmal: Bei all diesen Themen, bei denen wir glauben, sie gesetzlich regeln zu können, müssen wir sehr aufpassen, dass sich die Regelung nicht letztendlich durch eine Überbürokratisierung gegen die zu Schützenden wendet und wir damit die Akzeptanz der Idee, die dahinter steht, gefährden.

(Abg. Theurer FDP/DVP: Das ist der Punkt!)

Das macht übrigens auch den Unterschied zum Antidiskriminierungsgesetz aus, Frau Kollegin Sitzmann: Wir greifen hier nicht in privatrechtliche Freiheiten ein, sondern wir wollen da, wo es um staatliches Handeln geht, als Staat und als Gesetzgeber eine Vorbildfunktion für den geforderten Umdenkungsprozess abgeben, der hoffentlich auch in die privaten Bereiche hineinwirkt.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Hoffentlich!)

Wir wollen den Rahmen dafür schaffen, dass da, wo wir Verantwortung tragen, besser als bisher eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich ist.

(Beifall bei der FDP/DVP – Zuruf der Abg. Ursula Haußmann SPD)

Dazu bedurfte es einiger Konkretisierungen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Ich darf noch einmal wiederholen: Es steckt tatsächlich ein anderes Denken dahinter, als es auf Ihrer Seite besteht. Wir gehen davon aus, dass wir Freiheit und Eigenverantwortung ernst nehmen. „Freiheit“ heißt aber auch Freiheit zur Verantwortung, und zwar zur Verantwortung für genau diejenigen, die auf unsere Solidarität angewiesen sind. Selbstverständlich ist es wichtig, dass in einem freiheitlichen System der, der durch Handicaps im Wettbewerb gehindert ist, fairerweise diese Behinderungen ausgeglichen bekommen muss. Sonst hat er von vornherein verloren; das ist überhaupt keine Frage. Von diesem Gedanken lassen wir uns zunächst einmal leiten.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP – Abg. Braun SPD: Fair wäre es, wenn man sie von vorn- herein mitsprechen ließe!)

Ich darf Ihnen zu der Frage, ob man in einem solchen Gesetz den Rahmen sehr schlank halten oder ob man die Materie sehr detailliert regeln soll, Folgendes sagen: Gerade die Menschen, die im Wesentlichen beruflich mit Menschen mit Behinderungen zu tun haben, die in den Einrichtungen, in den Diensten arbeiten, sind diejenigen, die massiv die Überregulierung und die Überreglementierung in all diesen Sozialgesetzgebungen kritisieren. Sie leiden am allermeisten. Deswegen stehe ich dazu, dass wir hier versuchen, einen wirklich schlanken Rahmen zu bieten und nicht das, was in anderen Gesetzen, die – von der Frau Ministerin genannt – auf den Weg gebracht worden ist – es ist ja nicht so, dass in der Vergangenheit nichts passiert wäre –, zusätzlich noch einmal in einem Gesetz regeln. Tatsächlich sind ja schon viele Verbesserungen – sie alle sind schon vom Kollegen Klenk genannt worden – in der Vergangenheit bei uns hier im Land erfolgt.

Das Thema, zu dem wir hier konkrete Aussagen machen wollen, ist das Thema Barrierefreiheit, und zwar nicht so sehr im Bereich der baulichen Barrierefreiheit – das ist in der Tat etwas problematisch; denn beim Thema Barrierefreiheit denkt jeder zunächst einmal an den Körperbehinderten, der den Bus nicht erreichen kann; hier haben wir jedoch auch die grundlegenden finanziellen Bedingungen dafür geschaffen, dass bei Neuanschaffungen selbstverständlich auf dieses Thema geachtet wird –, sondern auch die Barrierefreiheit bei der Kommunikation mit Behörden. Da sind wir ja, was den Einsatz neuer Medien betrifft, gefragt, und da bringt dieses Gesetz tatsächlich einen Fortschritt durch den darin verankerten Anspruch auf Gebärdendolmetscher.

Das steht natürlich alles auch im Zusammenhang mit der Frage, wie es finanziert werden kann. Ich sage hier noch einmal: Es ist, wenn man Gesetze schafft, nicht unanständig, auch über den damit verbundenen Finanzierungsbedarf nachzudenken. Ich finde sogar, man muss dies tun.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Sonst streut man nämlich den Menschen auch in gewisser Weise Sand in die Augen. Selbstverständlich muss man bei den durch das Gesetz entstehenden Kosten die Verhältnismäßigkeit im Auge behalten.

(Abg. Braun SPD: Das sind Allgemeinplätze!)

Trotzdem dürfen wir – das möchte ich abschließend bemerken – in der Tat das Problem nicht zuvörderst unter Kostengesichtspunkten sehen. Wir müssen es insbesondere unter dem Aspekt sehen, dass die Frage, wie wir mit Menschen mit Behinderungen hier in unserem Land umgehen, kein Orchideenthema für ein paar wenige Menschen ist, die von Geburt an behindert sind, sondern – die Ministerin hat die Zahl ja genannt – dass die ganz überwiegende Mehrzahl der Menschen mit Behinderungen in diesem Land ihre Behinderungen leider im Laufe ihres Lebens – aufgrund der demografischen Situation wird das immer häufiger zutreffen – erleben und erleiden müssen. Genau das ist das Thema, das in die Köpfe hineinkommen muss. Es ist nicht etwa ein Spezialthema, sondern es geht uns alle an.