Protocol of the Session on November 10, 2004

Europa ist eine Realität. Mehr als 50 % unseres gesamten Gesetzesrechts – das auch zum vorigen Thema –, mehr als 80 % unseres Wirtschaftsrechts sind durch Vorgaben der Europäischen Union veranlasst.

(Ministerpräsident Teufel)

Die Haushaltssituation ist prekär. Im vierten Jahr in Folge wird Deutschland 2005 die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts voraussichtlich verletzen. Den Ländern geht es nicht besser als dem Bund. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie brauchen deshalb auch im Finanzbereich mehr Flexibilität und Gestaltungsspielräume. Mischfinanzierungen müssen abgebaut oder wenigstens stark reduziert werden.

Meine Damen und Herren, die Länder haben in der bisherigen Diskussion trotz unterschiedlicher Interessen eine bemerkenswerte Geschlossenheit gezeigt. Die Positionsbestimmung der Ministerpräsidentenkonferenz vom 6. Mai ist eine gute, eine stabile Grundlage für die abschließenden Verhandlungen. Nicht alle baden-württembergischen Vorstellungen konnten wir dabei durchsetzen. Was wir durchsetzen konnten, würde aber für eine überzeugende Reform ausreichen. Damit wir, die Länder, diese Vorstellungen auch tatsächlich durchsetzen können, müssen wir Geschlossenheit bewahren. Wenn die Länder zusammenhalten, können sie etwas erreichen. Wenn sie uneinig sind, stehen sie auf verlorenem Posten.

Meine Damen und Herren, Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Die Kommission hat sich deshalb nolens volens in doppelter Hinsicht einer Selbstbeschränkung unterworfen:

Die Länderneugliederung ist kein Thema. Eine Diskussion hierüber war nicht mehrheitsfähig. Die Orientierung am schwächsten Glied ist ein Webfehler des Föderalismus.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Kein Thema ist leider auch die grundlegende Neuordnung der Finanzverfassung. Nicht nur der Länderfinanzausgleich ist ein Ärgernis – reiche und arme Länder gibt es nur vor dem Finanzausgleich; danach ist alles nivelliert –, ärgerlich sind auch die Verflechtungen in der Finanzverfassung. Eine Neuordnung der Steuerkompetenzen findet jedoch insbesondere bei einigen neuen Ländern keine Unterstützung.

Meine Damen und Herren, es besteht eine Interessenidentität zwischen Bund und Ländern. Darauf gründet meine ganze Hoffnung, dass dennoch ein gutes Ergebnis erzielt wird. Die Länderregierungen sind bereit, auf Zustimmungsrechte im Bundesrat zu verzichten, wenn Zug um Zug und in substanziellem Umfang originäre Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder übertragen werden. Es geht also um eine Richtungsentscheidung – weg vom Beteiligungsföderalismus, wie er sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, hin zu einem selbstständigen Gestaltungsföderalismus.

Was bedeutet das? Es bedeutet zunächst, dass gesetzgeberische Entscheidungen wieder dort getroffen werden, wo sie hingehören, nämlich in den Länderparlamenten. Nicht die Mitwirkung an der Rechtsetzung des Bundes entspricht dem Staatscharakter der Länder, sondern die Gesetzgebung aus eigenem Recht. Die Landtage waren die großen Verlierer der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Sie müssen die großen Gewinner der anstehenden Reform werden.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der SPD und der FDP/DVP und des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Es bedeutet zum Zweiten, dass eine klare Abschichtung der Kompetenzen von Bund und Ländern am Maßstab der Subsidiarität erfolgt. Der Staat muss vom Bürger her gedacht werden, und er muss von unten nach oben organisiert werden.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Das war der Grundsatz, von dem ich mich im Europäischen Konvent habe leiten lassen, und das ist der Grundsatz, von dem ich mich jetzt in der Föderalismuskommission leiten lasse. Es spricht deshalb eine generelle Vermutung für die Zuständigkeit der unteren Ebene. Nur was die Kommunen, nur was die Länder nicht leisten können – und zwar auch nicht durch Zusammenarbeit untereinander –, gehört in die Zuständigkeit des Bundes.

Gestaltungsföderalismus bedeutet zum Dritten, dass die verschiedenen staatlichen Ebenen miteinander und untereinander in Wettbewerb treten. Es geht dabei nicht um eine ungesunde Konkurrenz, sondern es geht um ein lernendes System, das neuen politischen Ideen und Lösungen eine Chance gibt. Unsere staatliche Ordnung muss innovationsfreundlicher werden. Das geht am besten, wenn unterschiedliche Konzepte regional erprobt werden können.

Meine Damen und Herren, ich hatte gestern ein Schlüsselerlebnis. Wir hatten in der Villa Reitzenstein eine wichtige Sitzung des Innovationsforums Baden-Württemberg. Dabei sagte der Nobelpreisträger Professor Sackmann aus Heidelberg: „Wir brauchen mehr Föderalismus in Deutschland, wenn wir mit der Forschung international mithalten wollen.“ Wir bekommen also Unterstützung aus dem Bereich der Wissenschaft und aus dem Bereich der Forschung für unsere gemeinsamen Anliegen.

Wir stehen zunehmend in einem europäischen und in einem internationalen Wettbewerb. Wir bestehen diesen Wettbewerb nur, wenn wir auch innerstaatlich den Wettbewerb um beste Lösungen akzeptieren und praktizieren.

Meine Damen und Herren, ich möchte zum Thema Gestaltungsföderalismus ein Letztes anmerken: Die Länder haben sich intensive Abstimmungen untereinander und mit dem Bund auch dort angewöhnt, wo sie klare eigene Kompetenzen haben. Viele Hundert Gremien auf Bundes- und Länderebene bezeugen ein mangelndes Zutrauen der Länder in ihre eigene Gestaltungskraft.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Die ungehinderte Mobilität der Deutschen durch vergleichbare Regelungen in allen Ländern ist zwar ein hohes Gut. Mehr Mut zur eigenen Entscheidung könnte jedoch viel Bürokratie und Gremienunwesen verhindern. Vor allem würde es zu besseren Lösungen kommen.

Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist konkret. Was sind die Vorschläge im Einzelnen? Der Erfolg der Kommission entscheidet sich nicht in Grundsätzen, sondern in ganz

(Ministerpräsident Teufel)

konkreten Vorschlägen zur Änderung des Grundgesetzes. Ich will einige Bereiche herausgreifen, an denen wir ein Gesamtergebnis messen müssen.

Erstens das Zustimmungsrecht des Bundesrats bei Regelungen des Bundes zum Verwaltungsverfahren und zur Behördenorganisation. Einer der zentralen Kritikpunkte an der föderalen Staatsordnung ist die Verflechtung von Bund und Ländern über das Zustimmungsrecht des Bundesrats. Diese Verflechtung schränkt den Bund ein. Sie belastet aber auch die Länder. Die Zunahme der Zustimmungsrechte und der Verlust eigener gesetzgeberischer Gestaltungsmöglichkeiten sind nämlich zwei Seiten einer Medaille.

Ich bin zu einer deutlichen Reduktion der Zustimmungsrechte des Bundesrats bereit, wenn den Ländern Zug um Zug eigene Gesetzgebungskompetenzen übertragen werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Ab- geordneten der SPD)

Dieser Zusammenhang ist untrennbar. Ohne substanzielle – ich betone: ohne substanzielle – zusätzliche Kompetenzen für die Länder scheitert die Kommission. Wenn man uns also kommt mit dem Selbstbestimmungsrecht für Ladenschlusszeiten, für das Schornsteinfegerwesen und für das Notariatswesen und glaubt, dass wir dafür die Zustimmungsrechte im Bundesrat aufgeben würden, dann täuscht man sich gewaltig, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP und des Abg. Schmid SPD)

Unter dieser Voraussetzung soll der Bund künftig auf Regelungen der Behördenorganisation ganz verzichten und Regelungen des Verwaltungsverfahrens den Ländern überlassen.

Damit entfallen rund 50 % der bisherigen Zustimmungsfälle ganz automatisch. Der Bund hat es also selbst in der Hand. Außerdem wird den Interessen der Kommunen Rechnung getragen, die in der Vergangenheit durch bundesunmittelbare Zuweisung von Aufgaben und durch überzogene bundesgesetzliche Vorgaben finanziell in Bedrängnis geraten sind. Der Bund kann sie dann nicht mehr direkt in Anspruch nehmen.

Auch im Einzelfall darf es jedoch kein Auffangrecht des Bundes geben, ein bestimmtes Verwaltungsverfahren zwangsweise durchzusetzen. Eine solche Sperrklausel birgt die große Gefahr, dass die Bundesbürokratie wieder ihrer alten Regelungswut verfällt und sich im Ergebnis an der bisherigen Rechtspraxis nichts ändert. Damit wäre der Erfolg der gesamten Reform gefährdet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Zweitens, meine Damen und Herren: Erhalt der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz und Zugriffsrecht als Option. Absolute Priorität hat die möglichst klare Trennung der Kompetenzen von Bund und Ländern. Das erwartet die Wissenschaft, und das erwarten vor allem die Bürger. Es ist von der Sache her geboten, und es liegt im Interesse der Bürger, die wieder eine klare Übersicht über die Zuständigkeiten brauchen.

Leider zeigt die bisherige Diskussion, dass dies nicht in allen Fällen zu erreichen sein wird. Zum Teil fühlen sich kleinere Länder durch ein zu hohes Maß an eigenen Gestaltungsmöglichkeiten überfordert. Zum Teil sind innerhalb einzelner Gesetzesmaterien Kompromisse mit dem Bund nur denkbar, wenn eine Abschichtung auch über Gesetzgebungskategorien versucht wird.

Als Option sollte deshalb das so genannte Zugriffsrecht nicht ausgeschlossen werden. Ich halte ein Zugriffsrecht nur für die zweitbeste Lösung; das möchte ich klar sagen. Vor dem Hintergrund des Entflechtungsziels ist das Zugriffsrecht diskussionsbedürftig. Das Zugriffsrecht hat für bestimmte Kompetenzmaterien, etwa bei der Abschaffung der Rahmengesetzgebungskompetenz im Umweltrecht, Vorteile für Bund und Länder. Der Bund kann – eine seiner Hauptforderungen – ein Umweltgesetzbuch erlassen.

Auch kann er EU-Umweltrecht innerstaatlich geschlossen umsetzen. Gleichzeitig können die Länder vom Bundesrecht abweichen, sei es wegen regionaler Besonderheiten, sei es aus politischen Gründen.

Die möglichst klare Trennung der Zuständigkeiten und die Einführung eines Zugriffsrechts dürfen freilich das bewährte Zusammenspiel von Bund und Ländern in der konkurrierenden Gesetzgebung nicht infrage stellen. Wo der Bund – aus welchen Gründen auch immer – auf Regelungen verzichtet, müssen die derzeitigen Gestaltungsmöglichkeiten der Länder bestehen bleiben.

Der darüber hinausgehende Vorschlag der Bundesseite, in der konkurrierenden Gesetzgebung ganz auf den Erforderlichkeitsmaßstab zu verzichten, widerspricht der grundlegenden Weichenstellung der letzten Verfassungskommission nach der Wiedervereinigung.

Die Länder werden sich – mit dem Segen des Bundesverfassungsgerichts – dieses Pfund nicht aus der Hand nehmen lassen. Notwendig ist ein Schritt in die Zukunft, kein Rückschritt in die Vergangenheit. Allenfalls im Kompromisswege könnten die Länder bei einzelnen Gesetzgebungsmaterien gezielt auf den Erforderlichkeitsmaßstab verzichten.

Drittens, meine Damen und Herren: Abrundung der umfassenden Bildungskompetenz der Länder. Eine Einigung in der Kommission ist nur möglich, wenn die Bildungskompetenz der Länder gestärkt und insoweit Ingerenzrechte des Bundes auch in der Finanzierung beseitigt werden. Bildungskompetenz ist dabei umfassend zu verstehen: von der Kinderkrippe bis zur Hochschule.

Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Hochschulwesen ist vollständig entbehrlich. Bundesweit vergleichbare Standards, insbesondere bei der Zulassung und den Abschlüssen, können die Länder – soweit überhaupt notwendig – selbst koordinieren. Gemeinsame Standards in der Qualitätssicherung dürfen nicht den notwendigen Qualitätswettbewerb der Länder untereinander konterkarieren.

Die Gemeinschaftsaufgaben Hochschulbau und Bildungsplanung sind deshalb abzuschaffen. Einer neuen Finanzierungskompetenz des Bundes zur Fortentwicklung des Bildungswesens oder zur Förderung der Hochschulen bedarf es nicht. Entsprechende Forderungen von Bundesseite sind

(Ministerpräsident Teufel)

für die Länder nicht akzeptabel. Mit dem Vorschlag des Bundes würden die Länder vom Regen in die Traufe kommen. Die Länder gestalten und bezahlen das Bildungswesen in eigener Verantwortung. Sie machen dies alles in allem sehr gut. Sie brauchen keine pseudoinnovativen Initiativen des Bundes im Bildungsbereich. Die Folgekosten solcher Profilneurosen aus Berlin tragen Länder und Kommunen. Ich sage klar: Dies lassen wir uns als Länder nicht gefallen, weder beim Ausbau der Kinderbetreuung noch bei der Eliteförderung, weder bei Ganztagsschulen noch bei der Bildungsplanung.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Bewährt hat sich die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung. Notwendig bleibt auch eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Hier auf Vereinbarungen nach dem Vorbild der gemeinsamen Forschungsförderung zu setzen würde Bund und Länder wohl überfordern. In der Forschungsförderung darf es nur um wissenschaftliche Exzellenz gehen, nicht um regionalen Proporz. Sinnvoll wäre meines Erachtens aber ein Zustimmungsrecht des Bundesrats.

Auch die neuerliche Diskussion um die Bildungspolitik im Zusammenhang mit der OECD-Studie trägt zur Klärung der Kompetenzfragen wenig bei. Dass Deutschland insgesamt schlecht abschneidet, hat seinen Grund gerade nicht darin, dass das Grundgesetz die Bildungszuständigkeit den Ländern zuweist. Mit der flächendeckenden Einführung der Gesamtschule in den Siebzigerjahren hätte Deutschland sicher noch schlechter abgeschnitten.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Das kann man beweisen, wenn man die Länder, die die Gesamtschule eingeführt haben, im Ranking nimmt.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Deshalb sind auch Strukturdebatten, mit denen jetzt im gleichen Atemzug das gegliederte Schulsystem und die Verteilung der Bildungskompetenzen erneut infrage gestellt werden, wenig hilfreich. Meine Damen und Herren, die Leistungsvergleiche zeigen überall dort bessere Ergebnisse, wo es ein gegliedertes Schulwesen und keine Gesamtschule gibt.