Protocol of the Session on May 6, 2004

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 69. Sitzung des 13. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie alle.

Urlaub für heute habe ich den Herren Abg. Gustav-Adolf Haas und Schneider erteilt.

Krank gemeldet sind Herr Abg. Braun und Frau Abg. Vossschulte.

Dienstlich verhindert sind Herr Ministerpräsident Teufel, Herr Minister Müller und – heute Vormittag – Herr Minister Köberle.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Aktuelle Debatte – Aktive Mitgestaltung europäischer Rechtspolitik durch das Land Baden-Württemberg – beantragt von der Fraktion der FDP/DVP

Meine Damen und Herren, das Präsidium hat für die Aktuelle Debatte die übliche Gesamtredezeitdauer von 40 Minuten festgelegt. Darauf wird die Redezeit der Regierung nicht angerechnet. Für die einleitenden Erklärungen der Fraktionen und für die Redner in der zweiten Runde gilt jeweils eine Redezeit von fünf Minuten.

Ich darf die Mitglieder der Landesregierung bitten, sich ebenfalls an den vorgegebenen Redezeitrahmen zu halten.

Schließlich darf ich auf § 60 Abs. 4 der Geschäftsordnung verweisen, wonach im Rahmen der Aktuellen Debatte die Aussprache in freier Rede zu führen ist.

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Theurer.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP/DVP-Fraktion hält die Diskussion über die rechtspolitischen Themen im Zusammenhang mit der Europäischen Union deshalb für entscheidend wichtig, weil sie zum einen direkte Auswirkungen für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes haben und weil zum zweiten wir als Land Baden-Württemberg aufgefordert sind, uns in die bundesrechtliche und in die europarechtliche Gestaltung einzubringen, und dies auch tun. Die Europäische Union hat sich entschlossen, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen.

(Zuruf von den Grünen)

Nach der auch gestern diskutierten EU-Osterweiterung haben wir nicht nur einen größer gewordenen, einheitlichen Europäischen Binnenmarkt, sondern folgen die Menschen auch der Fahne der Kaufleute.

Nach den rein wirtschaftlichen Fragen stellen sich sehr bald auch Fragen der praktischen Lebensgestaltung und dann sofort auch nach rechtlichen Regelungen, meine Damen und Herren. Diese rechtlichen Regelungen durchziehen das ganze Leben, angefangen beim Vertragsrecht im wirtschaftlichen Bereich über die Gestaltung von Rechtsangelegenheiten, etwa Familienrecht, bis hin zu Bereichen des Verbrechens, wenn sich Menschen eben nicht gesetzeskonform verhalten.

Zunächst allgemein: Wir merken, meine ich, in Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern, dass jeder gern nach seinem eigenen Recht behandelt werden würde. Jeder möchte nach seinem Heimatrecht behandelt werden. Man hat in Europa das Gefühl, dass man sagt: „Manche Regelungen, die in Europa getroffen werden, sind uns selbst fremd.“

Wenn Firmen hier mit Firmen in anderen europäischen Partnerländern Handel treiben und es dabei zu Konflikten kommt, dann fragen uns Vertreter dieser Unternehmen, wenn man mit ihnen spricht, warum man keine einheitliche rechtliche Regelung gefunden hat, warum sie plötzlich beispielsweise nach englischem oder nach schottischem Recht behandelt werden und der Gerichtsstand eben in London oder in Edinburgh ist. Dann fordern sie Harmonisierung und Vereinheitlichung.

Eines, glaube ich, müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes sagen: Wenn wir einen europäischen Wirtschaftsraum und einen europäischen Rechtsraum schaffen, wird es nicht so sein, dass wir in ganz Europa deutsches Recht durchsetzen können. Vielmehr muss sich dieses europäische Recht aus den unterschiedlichen Rechtstraditionen der 25 Mitgliedsstaaten herausbilden. Es kann dann passieren – das ist eine gewisse Gefahr –, dass wir eine Rechtssituation, ein europäisches Rechtssystem haben, in dem sich niemand mehr richtig zu Hause fühlt. Von daher ist die FDP/DVP-Fraktion im Landtag dafür, nur das Notwendigste zu regeln und alles, was man nicht regeln muss, auch nicht zu regeln.

Im Bereich des Privatrechts sollte man auf europäischer Ebene ein europäisches Vertragsrecht als Option anbieten; das sollte dringend beschleunigt werden. Eine solche Optionsregel halten wir auch im Bereich der Eheschließungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Mitgliedsstaaten

die Zahl dieser Eheschließungen wird zunehmen – für eine richtige Möglichkeit,

(Zuruf des Abg. Oelmayer GRÜNE)

damit Fragen des Erbrechts, der Unterhaltspflicht, der Scheidung mit geregelt werden können.

Damit komme ich zu dem ganz wichtigen Thema der Strafverfolgung.

Wir müssen in Europa dafür sorgen, dass diejenigen, die gegen Recht und Gesetz verstoßen, auch entsprechend verfolgt werden können. Verbrecher – so stellen wir immer wieder fest – arbeiten grenzübergreifend. Deshalb darf die Verbrechensbekämpfung nicht an den Grenzen Halt machen, meine Damen und Herren. Daher halte ich eine engere Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung und bei der Terrorbekämpfung für wichtig.

Dabei müssen Europol und Eurojust ausgebaut werden. Gerade Eurojust, die europäische Staatsanwaltschaft, ist heute eine Clearingstelle, die zwar funktioniert, aber bei der die Verfahren oft lange dauern. Ich rege an, ein europäisches FBI, etwa nach dem Vorbild unseres Bundeskriminalamts, sowie eine europäische Staatsanwaltschaft – vielleicht einmal mit einem europäischen Generalbundesanwalt mit klaren Kompetenzen und Aufgaben – aufzubauen. Man darf das ja nicht mit dem in der Verfassung verankerten europäischen Staatsanwalt, der vor allem die EU-Interessen schützt, verwechseln.

Meine Damen und Herren, wir fordern, endlich auch das europäische Haftbefehlsgesetz in die Wege zu leiten. Das ist gestern wieder im Vermittlungsausschuss gescheitert. Wir sind der Auffassung, dass der Bund mit der Rücküberstellungspflicht von uns etwas verlangt, was nicht praktikabel ist, weil Ausländer, die hier straffällig werden, ausgewiesen werden können und zum Teil auch ausgewiesen werden müssen.

In diesem Fall sind wir der Meinung, dass die Länderinteressen stärker berücksichtigt werden müssen. Manchmal hat man den Eindruck, dass hier vonseiten der Bundesjustizministerin, auch vonseiten der Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags über alle Fraktionen hinweg, Vorschläge gemacht werden, die ein bisschen praxisfern sind. Denn die eigentliche Justiz steht ja in der Länderverantwortung. Der Bund hat ja außer einigen Bundesrichtern gar keine eigene Justiz im Vollzugsbereich.

(Zuruf des Abg. Oelmayer GRÜNE)

Meine Damen und Herren, wir fordern, dass ein europäischer Haftbefehl eingeführt wird.

(Abg. Stickelberger SPD: Das ist schon beschlos- sen!)

Wir müssen Verbrecher grenzübergreifend verfolgen und dafür sorgen, dass sie auch vor Gericht gestellt und verurteilt werden können.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Dr. Reinhart.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Thema der Debatte lautet: Aktive Mitgestaltung europäischer Rechtspolitik durch das Land BadenWürttemberg.

Rechtspolitik ist Landespolitik. Deshalb möchten wir gerade bei diesem Thema zuvorderst das Land und damit auch Sie, Frau Justizministerin, ermuntern, aktiv mitzuwirken und vor allem auf unsere Kompetenzen zu achten.

Ich halte die Debatte in dieser Woche für angemessen. Seit 1. Mai stehen wir am Tor zur europäischen Wiedervereinigung. Da wir infolgedessen auch einen offenen Binnenmarkt und damit Freiheit für Waren-, Personen- und Dienstleistungsverkehr haben, ist es auch richtig, über das zu sprechen, was gerade der Kollege Theurer angesprochen hat, nämlich über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

Wir alle wollen ja in Frieden und Sicherheit leben. Viele der Gefahren, die uns bedrohen, sind zum Teil internationalen Ursprungs. Deshalb kann man manches nur europaweit gemeinsam bekämpfen. Hierzu gehören internationaler Terrorismus, Drogenhandel und -missbrauch, Menschenhandel, illegale Ausbeutung auch ausländischer Frauen, um nur einige Themen zu nennen.

Ich will, nachdem der Präsident des AdR hier präsidiert,

(Abg. Theurer FDP/DVP: Ausschuss der Regio- nen!)

sein Credo weitertragen. Wir sind Vertreter der Länder. Als Vertreter der Länder geht es uns darum, sicherzustellen, dass die Kompetenzen der Länder nicht ausgehöhlt werden.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig! Sehr richtig!)

Es gibt eine Debatte darüber, dass wir eine zunehmende Verlagerung von Kompetenzen an den Bund und nach Europa haben.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig!)

Ich will dies einmal anhand von Zahlen belegen: Von 1957 bis 1961 musste der Bund 13 Vorlagen aus Brüssel verabschieden. In der Zeit von 1987 bis 1990 waren es bereits 2 400 Vorlagen, die umgesetzt werden mussten, und die Tendenz ist steigend. Fast 60 % des Rechts, dem der Bürger im Alltag begegnet, ist mittlerweile europäisches Recht.

Mein Credo lautet deshalb: Wir müssen bei dieser Debatte darauf achten, dass die Kompetenzverluste der Länder nicht ein bedenkliches Ausmaß erreichen, bei dem die Rechte der Länder weiter ausgehöhlt werden können.

(Beifall des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

Das ist immer auch die Seite der Medaille, die wir als Landesparlament im Blick haben sollten.

(Beifall des Abg. Döpper CDU sowie bei Abgeord- neten der FDP/DVP)

Der Kollege Theurer hat den Bereich des Strafrechts angesprochen. Es ist wahr: Der europäische Haftbefehl ist noch nicht umgesetzt.

Ich denke, die Frau Ministerin wird hierzu und auch zur Haltung des Landes etwas sagen.

Aber ich verweise auch auf Bedenkenträger in der Literatur. Schünemann fragt in der „Zeitschrift für Rechtspolitik“: „Europäischer Haftbefehl auf schiefer Ebene?“