Protocol of the Session on May 5, 2004

Es werden dabei Entwicklungen in Gang gesetzt, die wir Grünen in den letzten Jahren immer wieder eingefordert haben. Insgesamt, meine Damen und Herren, ist aber die Bildungsplanreform in Baden-Württemberg auf halbem Weg stehen geblieben.

(Abg. Röhm CDU: Ach noi!)

Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei dieser Bildungsplanreform auseinander. Das wird sehr gut sichtbar in der Einleitung von Hartmut von Hentig und den Diskrepanzen zu den darauf folgenden konkreten Bildungsplänen. Dazu nenne ich fünf Beispiele.

Erstens: Hartmut von Hentig betont in seiner Einführung: Bildung gilt für alle Schüler und Schülerinnen. Wenn dieses Ziel aber gilt, warum gibt es dann keinen Bildungsplan – den gleichen Bildungsplan – für alle jungen Menschen bis zum Ende der Sekundarstufe I? Warum zerfällt der Bildungsplan dann nach den ersten vier Schuljahren in unterschiedliche Bildungspläne? Warum gibt es nicht einmal ein gemeinsames Kerncurriculum für alle Schüler und Schülerinnen bis zum 15. Lebensjahr, wie es in allen erfolgreichen Bildungsnationen der Fall ist?

(Zuruf des Abg. Dr. Lasotta CDU)

Es gibt in Baden-Württemberg künftig nicht einmal mehr eine gemeinsame Orientierungsstufe im fünften und sechsten Schuljahr. Deshalb bleiben unsere Forderung nach einem gemeinsamen Basiscurriculum und unsere Forderung nach schulformübergreifenden Bildungsstandards in BadenWürttemberg für alle Schüler und Schülerinnen bestehen.

Bei der Beurteilung des Erreichens der Bildungsstandards müssen die Lernausgangslagen der Schüler und Schülerinnen, die schließlich durch die soziale Herkunft der Schüler und Schülerinnen geprägt sind, berücksichtigt werden, damit zum Beispiel auch eine gezielte Ressourcenzuweisung an die jeweiligen Schulen erfolgen kann. Die zur Überprüfung der Bildungsstandards dienenden Diagnose- und Vergleichsarbeiten dürfen aber nur zur besseren individuellen Förderung der Schüler und Schülerinnen eingesetzt werden. Deshalb sagen wir: Sie dürfen nicht zur Benotung herangezogen werden. Das fordert zum Beispiel auch der Landeselternbeirat.

Zweitens: Hartmut von Hentig betont auch, dass der Bildungsplan konservativ geblieben ist, indem die Kenntnisse, die in ihm für verbindlich erklärt werden, weitgehend den Fächern und, wo es sie gibt – es gibt sie ja nicht überall –, den Fächergruppen zugeordnet werden. Dabei ist aber nicht nachzuvollziehen, weshalb die jetzt eingeführten Verbünde im Wesentlichen nur für die Hauptschule gelten. Sie gelten kaum für die Realschule und – wenn Sie den Plan für das Gymnasium angeschaut haben, haben Sie das gesehen – für das Gymnasium am allerwenigsten. Ist das vernetzte, das interdisziplinäre Lernen am Gymnasium weniger gefragt?

Ich sage noch eines zum Fächerverbund an der Hauptschule: Der Fächerverbund für Musik, Sport und Kunst ist total misslungen. Bezeichnenderweise gibt es diesen Fächerverbund auch nur in der Hauptschule. Der Widerstand dagegen wäre am Gymnasium und an der Realschule zu groß gewesen. Nicht nur die Experten an der PH, sondern vor allem auch die Lehrkräfte an den Schulen sagen: Wenn man schon einen Fächerverbund macht, dann hätte die Vernetzung von Musik und Kunst zum Beispiel mit Sprachen erfolgen sollen, aber doch nicht mit Sport.

Durch den Zwang zur nivellierenden Notengebung, der in diesem Fächerverbund in der Hauptschule besteht, werden die Hauptschüler außerdem ihrer Chance beraubt, ihre Stärken in einzelnen Fächern wie Musik oder Sport oder Kunst in ihren Leistungserfolgen bestätigt zu bekommen. Ein Hauptschüler, der zum Beispiel in einem Musikverein ist und sehr gut in Musik ist, will dies natürlich auch mit einer guten Benotung dokumentiert bekommen.

(Abg. Röhm CDU: Der spielt auch in der Fußball- mannschaft!)

Wenn er nun eine Schwäche im Sport oder in Kunst hat, dann wird es so aussehen, dass er eine nivellierende Note bekommt und auch das, was er wirklich gut kann, nicht bestätigt bekommt.

(Abg. Dr. Lasotta CDU: Das schädigt ihn auch nicht!)

Deshalb lehnen wir diesen Fächerverbund Musik, Kunst und Sport an der Hauptschule ab und verlangen in diesem Fall eine Einzelbenotung, eine Gleichstellung mit den Realschülern und mit den Gymnasiasten.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen – Abg. Dr. Lasotta CDU: Das ist kein gutes Argument! Wir können allen eine Eins geben, dann hätten wir es geschafft!)

Überhaupt muss das Lernen in den Verbünden, was ja jetzt neu ist, sorgfältig evaluiert werden. Wenn sich nämlich zeigt, dass das Lernen in Verbünden erfolgreich ist, dann muss das für alle Schularten gelten. Man erkennt im Augenblick jedenfalls nur eine Absicht, nämlich die, dass mit diesen Verbünden der eklatante Fachlehrermangel an der Hauptschule verschleiert werden soll.

Drittens komme ich zu den Noten. Dies ist das letzte Mal, dass ich auf Hartmut von Hentigs Einleitung zurückgreife. Hartmut von Hentig schreibt in der Einführung, die Eigenverantwortung und die Selbstkontrolle, die Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler mittels Logbuch und Sammlung eigener Leistungsnachweise, zum Beispiel eines Portfolios, leiste für das Qualitätsbewusstsein und den Erfolg der Schüler und Schülerinnen mehr als das Lehrerurteil und die Zensuren. Wenn dies so ist, stellt sich die Frage: Warum müssen – wie traditionell praktiziert – ab der zweiten Klasse Noten erteilt werden? Experten sagen, die frühe Benotung führe zu Entmutigung und Notenfixiertheit und sei deshalb für erfolgreiches Lernen kontraproduktiv, damit werde die intrinsische Motivation zerstört. Deshalb bleiben wir Grünen bei unserer Forderung: keine Noten in der Grundschule und Alternativen bei der Leistungsrückmeldung in den ersten Jahren der Sekundarstufe I.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen – Zurufe von der FDP/DVP: Oje! – Abg. Dr. Lasotta CDU: Ku- schelpädagogik!)

Viertens: Die Hauptschule wird überfordert sein, ihr Ziel der Ausbildungsfähigkeit aller Schülerinnen und Schüler zu erreichen und zum Beispiel die Begabungspotenziale für die beruflichen Gymnasien – die dort vorhanden sind, wie wir wissen – zu fördern, wenn die Hauptschule weiterhin als Auffangbecken für alle nach unten durchgereichten Schüler fungiert. Solange es diese eigenständige Schulform noch gibt, darf die Hauptschule nicht mehr die Schule sein, in die alle so genannten „Versager“ abgeschult werden.

(Abg. Röhm CDU: Ha no!)

Wir bleiben deshalb bei unserer Forderung, dass sich alle Schulen bei der Weiterentwicklung der Unterrichtskultur

zur individuellen Förderung auch strukturell weiterentwickeln dürfen.

Schließlich fünftens: Meine Damen und Herren, mit dieser Bildungsplanreform wird den Schulen viel zugemutet. Es ist eine gewaltige Herausforderung für alle Lehrerinnen und Lehrer, sich auf die neuen Bildungspläne vorzubereiten. Die meisten Kollegien tun dies mit großem Engagement,

(Beifall des Abg. Röhm CDU – Abg. Röhm CDU: So ist es!)

mit großem Zeitaufwand und Arbeitseinsatz; das habe ich überall mit verfolgt. Die Lehrerinnen und Lehrer in diesem Land sind bereit, die ihnen gegebene Eigenverantwortung zu übernehmen.

(Abg. Röhm CDU: Gott sei Dank!)

Maßlos ärgern die Lehrerinnen und Lehrer aber zu Recht die ständigen, von der Schulwirklichkeit völlig abgehobenen Stellungnahmen der Kultusministerin darüber, dass die Umsetzung der Bildungsplanreform im kommenden Schuljahr tatsächlich gemacht werden könnte. Der geringe Vorlauf, der riesige Druck, der auf den Schulen lastet, die geringen Fortbildungsmöglichkeiten und die mangelnde Entlastung werden von Ihnen, Frau Kultusministerin, überhaupt nicht thematisiert. Tatsache ist aber, dass die Erprobung an den Erprobungsschulen nicht abgeschlossen ist, dass in den nächsten Jahren und auf Jahre hinaus alle Schulen Erprobungsschulen sein werden, dass man den Schulen die Zeit geben muss,

(Zuruf des Abg. Dr. Lasotta CDU)

einzelne Elemente zu erproben, und nicht sagen kann: Wir setzen alles sofort um. Es muss offiziell gestattet und den Schulen genehmigt werden, einzelne Elemente für sich selber zu entscheiden und umzusetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Nur dann wird diese Reform auch greifen und Wirksamkeit entfalten. Auch wir Grünen sind dafür, dass die Schulen in Baden-Württemberg besser werden, dass unsere Schülerinnen und Schüler besser gefördert werden und ihre ganzen Talente und Fähigkeiten optimal entfalten können.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Röhm.

(Abg. Dr. Lasotta CDU: Karl-Wilhelm, das habe ich vorhin nicht verstanden! Können Sie mich auf- klären?)

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heute in Rede stehenden Bildungspläne enthalten als eine wesentliche Neuerung so genannte Bildungsstandards mit Kerncurricula. Die inhaltlichen Schwerpunkte sind so ausgewählt, dass über sie personale, soziale, methodische und fachliche Kompetenzen vermittelt werden. Es handelt sich

dabei wohlgemerkt um ein Pflichtpensum. Es ermöglicht Konzentration auf das Wesentliche und schafft nebenbei auch noch Raum für mehr pädagogische Selbstständigkeit an unseren Schulen. Dafür sind zwei Drittel der Unterrichtszeit vorgesehen. Ein weiteres Drittel der Unterrichtszeit steht für die Ausgestaltung der schuleigenen Curricula zur Verfügung.

Es ist überdies sinnvoll, dass die Bildungsstandards – da sind wir anderer Meinung als Sie, Frau Rastätter – ein angemessenes, schularttypisches Erwartungsniveau festlegen und damit im Sinne des aus unserer Sicht bewährten gegliederten Schulwesens in Baden-Württemberg das Profil der jeweiligen Schulart schärfen. Das ist unser Anliegen.

Mit den Bildungsstandards erhalten unsere Schulen einerseits ein Instrumentarium für die Bewertung der Ergebnisse der schulischen Arbeit und andererseits eine Orientierung für die Qualitätskontrolle, die immer am Ende des jeweiligen Bildungsabschnitts steht. Dies geschieht – Sie haben es angedeutet – in Form von Diagnosearbeiten und auch in Form von Jahrgangsarbeiten, die übrigens schon jetzt freiwillig abgerufen werden, weil die Lehrkräfte gern eine Rückmeldung für ihre eigene Arbeit an der Schule erhalten.

Diesem Prozess der Selbstevaluation muss nach Meinung der CDU-Fraktion breiter Raum eingeräumt werden. Wir wollen nämlich zuallererst Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen und den Schulen Freiheiten gewähren. Erst dann folgt Fremdevaluation. Sie soll für uns und auch für die Lehrkräfte nicht etwas Bedrohliches darstellen, sondern soll ein weiterer Beitrag zur Qualitätsentwicklung sein. Wir verstehen Schule nämlich als eine lernende Organisation. Deswegen sieht die CDU-Fraktion einen Schwerpunkt bei der Selbstevaluation.

Die kritische Reflexion der eigenen pädagogischen Arbeit hat meines Erachtens schon jetzt einen Prozess der Qualitätsentwicklung auf den Weg gebracht, der, wenn es nach mir geht, von der Schulverwaltung nicht dominiert, sondern in zunehmendem Maß begleitet wird. Dazu werden auch so genannte Evaluationsberater bereitgestellt.

Sehr geehrte Frau Rastätter, Sie sehen ja – Sie haben das eingeräumt; das freut mich sehr –: Die meisten Forderungen Ihres Antrags sind zwar nicht erledigt, aber auf einem guten Weg.

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Nicht erledigt!)

Deswegen – die Konsequenz nehmen Sie uns sicher nicht ab –, weil vieles davon schon umgesetzt ist, lehnen wir den Antrag ab.

Ich sage aber genauso offen, dass wir einigen Forderungen im Interesse der Schülerinnen und Schüler nicht entsprechen können. Ich sage das ganz deutlich. Wir waren und sind nicht bereit, bildungspolitische Innovationen an unseren Schulen nur deshalb zu verzögern, um uns bei Lösungen der gesamten Kultusministerkonferenz lediglich auf den kleinstmöglichen gemeinsamen Nenner zu beschränken.

Wir stehen auch für zweifelhafte Experimente, die mit – entschuldigen Sie den Ausdruck – Leistungsnivellierungstendenzen einhergehen, nicht zur Verfügung.

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Schauen Sie doch erfolgreiche Bildungsländer an!)

Wir sehen es deshalb ganz gelassen, wenn andere Bundesländer über schulartübergreifende Bildungspläne diskutieren. Der Erfolgsfaktor der baden-württembergischen Bildungspolitik und – wenn wir den Blick nach Bayern richten – auch der bayerischen Bildungspolitik besteht gerade darin, dass wir von solchen ideologischen Nivellierungstendenzen Abstand genommen haben.

(Abg. Dr. Lasotta CDU: Sehr gut!)

Aus diesem Grund lehnen wir die Strategie des kleinsten gemeinsamen Nenners – ich sage es nochmals – konsequent ab und setzen weiterhin auf differenzierte Standards für alle Schularten.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Glocke der Präsidentin)