Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat noch nie etwas gebracht, den Überbringer einer schlechten Nachricht zu erschießen.
(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Wer hat geschossen? – Abg. Theurer FDP/DVP: Die Todesstrafe ist ab- geschafft! – Zuruf des Abg. Schmiedel SPD)
Wir müssen uns schon fragen, weshalb dieses große und historische Ereignis in breiten Schichten der Bevölkerung nicht als solches empfunden und begangen wurde. Genau so war es. Wir hatten wunderschöne Feste im Fernsehen, aber vor Ort, muss ich sagen, habe ich davon bisher noch nichts gespürt.
Wir müssen uns fragen: Warum haben die Sektkorken eigentlich nicht geknallt, oder warum haben sie nur dort geknallt, wo auf Partys eingeladen wurde und wo es den Sekt umsonst gab?
Wir müssen den Menschen schon sagen, dass der Beitritt der osteuropäischen Länder eine große Sache ist – gerade für die Demokratie, gerade für die soziale Marktwirtschaft, gerade für unser politisches und wirtschaftliches System,
für das wir gegen die Kreml-Herren jahrzehntelang gekämpft haben. Aber wir müssen jetzt unserer eigenen Bevölkerung auch sagen, dass die Hausaufgaben – lieber Kollege Kretschmann, Sie haben es ja angesprochen – eben nicht gemacht worden sind. Sie haben gesagt, der Reformdruck würde uns gut tun. Dazu muss ich sagen: Offensichtlich bewegt sich diese Bundesregierung ohne Druck überhaupt nicht. Sie ist „hilflos, ratlos und kopflos“,
In Sachen Steuerpolitik, in Fragen der Mindeststeuersätze, in Fragen der Mindestrichtlinien begehen wir Verbrechen gegenüber unserem eigenen Wirtschaftsstandort. Die EU hat zum 1. Januar 2004 eine Energiesteuerrichtlinie erlassen, die eine Mindestbesteuerung von 30 Cent pro Liter Mineralöl vorsieht. Bei uns liegt diese Besteuerung schon heute bei 47 Cent. In den Beitrittsländern wird sie verständlicherweise noch niedriger liegen. Nur: Was bedeutet das für unseren Wirtschaftsstandort? Um diese Frage muss es heute doch auch gehen. Es muss um die Frage gehen, welche Antworten wir unter diesen neuen Wettbewerbsbedingungen eigentlich gegeben haben. Da kann man Ihnen nur ein Zeugnis ausstellen, nämlich „ungenügend“.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der Abg. Beate Fauser FDP/DVP – Abg. Sakellariou SPD: Begeisterter Beifall!)
Der Kollege von der SPD hat davon gesprochen, wir bräuchten uns vor Zuwanderung nicht zu fürchten. Ich habe das Wort „Zuwanderung“ nicht einmal in den Mund genommen. Deswegen möchte ich Ihnen schon sagen: Es gibt EU-Länder, die keine Übergangsfristen haben, die den osteuropäischen Ländern nicht sagen: „Wir wollen euch nicht“ – so, wie die Deutschen das tun. Die Niederlande und Irland zum Beispiel haben keine Übergangsfristen. Warum haben sie keine Übergangsfristen? Weil sie ihre Hausaufgaben gemacht haben,
weil sie florierende Arbeitsmärkte haben, eine boomende Wirtschaft, weil sie die Menschen aus Osteuropa brauchen.
Das ist im Grunde der eindeutige, der eindrückliche Beweis dafür, dass die Bundesrepublik nicht wirklich vorbereitet ist.
(Unruhe bei der SPD – Abg. Ursula Haußmann SPD: Vorsicht, EU, die Gräßle kommt! – Zuruf des Abg. Rust SPD)
Wir sind in Baden-Württemberg noch gut dran. Monat für Monat verliert Deutschland 40 000 Arbeitsplätze. Im Jahr 2003 war in Baden-Württemberg die Zahl der Insolvenzen am niedrigsten in der ganzen Republik. Wir sind im Verhältnis noch gut dran. Aber ich kann Ihnen nur sagen: Nutzen Sie die Zeit! Nehmen Sie die Entwicklung in die Hand! Denn nur so werden wir eine weitere Entfremdung der Bevölkerung von diesem Europa vermeiden können.
(Unruhe bei der SPD – Abg. Fischer SPD: Aber doch nicht mit solchen Reden, Frau Gräßle! – Abg. Carla Bregenzer SPD: Solche Abgeordnete wie Sie braucht das Europäische Parlament! – Glocke des Präsidenten)
Heute Mittag um 12 Uhr findet jenseits der Bannmeile eine Demonstration gegen die Ausweisung von FFH-Gebieten statt.
Ich kann nur sagen: Dieses Europa muss anders in die Hand genommen werden als bisher, sonst werden wir mit den Widerständen in der Bevölkerung irgendwann nicht mehr zurechtkommen.
(Abg. Schmiedel SPD: Das ist ja gut, dass Sie da hingehen! – Abg. Fischer SPD: Das ist eine reine Hetzrede dagegen, aber doch nicht zur Integration!)
Von Gesundbeterei, liebe Freunde, halte ich gar nichts. Wenn das Ihr einziges Rezept ist, dann gute Nacht!
(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Zurufe von der SPD – Zuruf des Abg. Boris Palmer GRÜNE – Glocke des Präsidenten)
Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Auch mir geht es so, dass ich mitunter schon ein wenig ins Grübeln komme, wenn uns der Kleinmut und die Ängstlichkeit der öffentlichen Diskussion überwältigen, wenn wir ein so großes, epochales Ereignis wie die Erweiterung der EU um Osteuropa, die wir immerhin seit gut 50 Jahren im Munde geführt haben, erleben.
Diese Diskussion wird übrigens nicht nur in Deutschland und in Westeuropa geführt, sondern die nämliche Diskussion der Sorge, der Zurückhaltung, auch der Ängste beobach
Deshalb ist es wichtig – ich will da ausdrücklich auch dem Kollegen Kretschmann in diesem Punkt Recht geben –, sich immer wieder der historischen Dimension dieser Erweiterung zu versichern, sich darüber klar zu werden, dass wir über Jahrzehnte unverhältnismäßig höhere Kosten in dieser künstlichen, gewalttätigen Spaltung Europas hatten. Mitten durch Europa ging die Demarkationslinie. Da sind Millionen von hochgerüsteten Soldaten gestanden. Wäre diese Osterweiterung nur mit dem Ziel angegangen worden, endgültig auf diesem Kontinent Frieden zu schaffen, allein dann wäre diese Erweiterung schon ein großer Gewinn für die Europäer und für die ganze Menschheit.
Wir dürfen uns auch nicht, so notwendig die Debatten über wirtschafts- und sozialpolitische Fragestellungen, über Zuwanderung sind – da bin ich schon der Auffassung, Herr Kretschmann, dass Sie das Bild der Chancen ein wenig zu einseitig gezeichnet haben –, dieser Grundtatsache der großen historischen Dimension der Erweiterung verschließen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, lassen Sie mich ein paar Überlegungen über die Risiken und die Chancen der Erweiterung anstellen.
Ich beginne mit den Problemen. Ich sehe überhaupt nur zwei Bereiche, wo wir ernste Schwierigkeiten zu gewärtigen haben. Das eine ist, dass wir durch die Reformgeschwindigkeit der Osteuropäer, durch den Eifer, den sie in die Veränderung ihrer politischen und ihrer Sozialsysteme legen, in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere aber auch in Frankreich, also in den beiden Ländern, die in Europa hier hinterherhängen, schon gewaltig unter Reformdruck geraten.
Es kann überhaupt niemand im Ernst wegdiskutieren, dass ein Konzept wie das der Slowakei mit Steuersätzen, die generell 19 % betragen, in Europa hochattraktiv sein wird, weil wir ja in Osteuropa – das ist das Einzige, was der Kommunismus nicht vernichtet hat – ein hohes Bildungsniveau haben. Wir haben ganz hungrige junge Leute, alle dreisprachig, leistungsorientiert, bereit, die Chancen anzunehmen, die sie durch die europäische Erweiterung zum ersten Mal in ihrem Leben – ihre Eltern hatten die Chancen nicht – haben.
Deshalb kann überhaupt niemand im Ernst wegdiskutieren, dass wir in der Reform unseres Steuersystems, in der Reform der sozialen Sicherungssysteme, in der Reform des Arbeitsmarkts durch die Erweiterung unter zusätzlichen Druck geraten. Das muss man ganz realistisch sehen.
Das zweite Problem, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist: Natürlich ist die Verlagerung von Arbeitsplätzen keine Entwicklung, die mit dem Stand 1. Mai 2004 beginnt, sondern der Prozess hält seit 10, 15 Jahren, eben seit der Öffnung der Grenzen, an. Aber klar ist, dass wir jetzt den
Acquis communautaire, einen einheitlichen Gerichtsstand haben, dass wir jetzt eine einheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsgrundlage für das europäische Wirtschaften und dass wir kurze Wege haben. Deshalb kann auch niemand im Ernst wegdiskutieren, dass unsere Wirtschaft unter zusätzliche Herausforderungen gerät und sich diesen Herausforderungen – weiteren Verlagerungen von Arbeitsplätzen nach Osteuropa – auch stellen muss.
Diese zwei Herausforderungen sind in der Tat realistisch, und ich bin, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch dagegen, sie zu beschönigen. Wir brauchen eine höhere Reformgeschwindigkeit in Deutschland; dazu gibt es überhaupt keine Alternative.