Protocol of the Session on October 30, 2003

Jeden Tag gibt es neue Katastrophenmeldungen, sei es von Toll Collect

(Abg. Hofer FDP/DVP: Tollhaus!)

oder sei es von der Politik. Sich dann hinzustellen und zu sagen, es sei irgendjemand anderer gewesen oder es sei vielleicht vor fünf oder sechs Jahren Herr Wissmann gewesen, ist doch einigermaßen witzig.

(Zuruf des Ministers Dr. Christoph Palmer)

Zur Rolle von Herrn Wissmann will ich nur sagen: Er hat immerhin die Euro-Vignette eingeführt, und er hat in der Union die Wege dafür geebnet, dass die streckenbezogene Maut bei uns mehrheitsfähig geworden ist. Wir waren also von vornherein nicht Gegner einer streckenbezogenen Maut. Das ist der Tatbestand.

1998 haben Sie sich vorgenommen, die Maut einzuführen. Aber Sie haben es in der ganzen Legislaturperiode nicht hingebracht. Das sollte man vielleicht auch einmal in der Öffentlichkeit sagen. Wir sprechen im Moment über die Mautausfälle der letzten Monate. Wir könnten uns aber auch über die Mautausfälle in den zurückliegenden vier Jahren Gedanken machen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Ein Projekt, das dem Staat einen Haufen Geld bringt und das innenpolitisch im Kern nicht umstritten ist, nicht hinzukriegen ist schon einmal der erste kardinale handwerkliche Fehler der Politik auf Bundesebene.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Zuruf der Abg. Regina Schmidt-Kühner SPD – Abg. Boris Palmer GRÜNE meldet sich zu einer Zwischenfra- ge.)

Bitte schön.

Bitte schön, Herr Palmer.

Herr Minister Müller, wollen Sie ernsthaft behaupten, dass die Technik, die jetzt eingesetzt wird, bereits vor fünf Jahren verfügbar gewesen wäre?

Ich wollte gerade zu Toll Collect kommen.

Man muss natürlich sagen: Wenn es ein technisches Versagen gibt – aber es gibt halt nicht nur ein technisches Versagen –, ist das zunächst einmal ein Problem der Techniker und der Unternehmen, die das System versprochen haben. Damit ist es eben für Toll Collect und damit für ein Unternehmen aus diesem Land blamabel. Da gibt es überhaupt nichts herumzureden.

Mich stört an der ganzen Geschichte zum Ersten, dass die Unternehmen die technischen Probleme nicht gelöst haben, zum Zweiten, dass sie sie nicht eingestanden haben, zum Dritten, dass sie mit dem Speditionsgewerbe unschön umgegangen sind, und zum Vierten, dass sie in der Bewältigung der Krise beträchtliche handwerkliche Fehler gemacht haben. Man kann es einem Unternehmen mit einem solchen Ruf nicht ersparen, das in aller Deutlichkeit zu sagen.

Zur gleichen Zeit will ich aber auf einen kleinen versteckten Tatbestand hinweisen, der einem zu denken geben muss.

(Minister Müller)

Wissen Sie, wann der Vertrag mit Toll Collect abgeschlossen worden ist? Zwei Tage vor der Bundestagswahl.

(Abg. Hillebrand CDU: Reiner Zufall!)

Da fragt man sich doch: Was war denn da? Wollte da jemand, der vielleicht seinen Job retten wollte, mit Gewalt noch etwas unter Dach und Fach bringen?

(Zuruf des Abg. Schmiedel SPD)

Das hat sich dann ja nicht als erfolgreich erwiesen. Ist deswegen vielleicht ein Vertrag mit heißer Nadel gestrickt worden? Ist von Toll Collect nicht, wie Toll Collect sagt, seinerzeit darauf hingewiesen worden, dass man eine Übergangszeit und eine Einführungszeit von 15 Monaten bräuchte? Ist damals nicht vonseiten der Bundesregierung gesagt worden, aus fiskalischen Gründen müsse das System zum 1. September 2003 starten, und hat deswegen Toll Collect eingeräumt bekommen, keine Haftung übernehmen zu müssen? Jetzt wird aus den Problemen der Technik ein Problem der Politik, die wiederum die Probleme verschärft hat.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Zuruf: Unglaublich!)

Damit komme ich zu dem Problem der Politik. Es ist ja immer so, dass man sich bei der Abwägung zwischen Technik und Politik schließlich stärker auf die politischen Fragen konzentriert. Das ist ja auch logisch. Aber man sollte die anderen Probleme nicht verschweigen. Die sind wirklich schlimm genug.

Die Zahl der handwerklichen Fehler – –

(Abg. Boris Palmer GRÜNE meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

Jetzt will ich einmal etwas im Zusammenhang darstellen, Herr Kollege Palmer. Ich bin anschließend jederzeit gern bereit, eine Frage von Ihnen zu beantworten. – Ich bin in dem Thema Maut ziemlich drin und fühle mich da ziemlich stark vor dem Wind. Man kann einer Opposition keine bessere Steilvorlage geben als das, was da in Berlin passiert. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Es ist schlicht eine Katastrophe, was da abläuft.

Die handwerklichen Fehler, die vonseiten der Politik gemacht worden sind, sind Legion. Es begann mit der Konzeption. Es setzte sich fort über die Ausschreibungsprobleme, die Rechtsprobleme, die damit verbunden waren. Es geht weiter mit der Frage: Wann sind eigentlich die europarechtlichen Voraussetzungen für die Maut auf der einen Seite und für die Harmonisierung auf der anderen Seite geschaffen worden? Wir haben bis heute keine europarechtliche Absicherung dessen, was sich Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung eigentlich vorgenommen haben – bis heute nicht! Man muss sich einmal vorstellen: Man nimmt sich 1998 etwas vor und weiß jetzt, im September/Oktober 2003, noch nicht, was Europa zu bestimmten Komponenten dieses Konzepts sagen wird. Ja, meine Damen und Herren, so etwas muss doch eigentlich vorher geklärt werden. Wenn man das nicht tut, muss man wirklich von massiven handwerklichen Fehlern sprechen.

Wir wissen bis heute nicht, worin die Harmonisierung für das Speditionsgewerbe besteht, obwohl das ein notwendiger Bestandteil war. Dabei muss ich übrigens hinzufügen: Es war einer der Fehler der ganzen Konstruktion, dass man die Mautfrage mit der Harmonierungsfrage verknüpft hat. Beide Fragen haben nämlich im Grunde nichts miteinander zu tun.

Ich will nur noch einmal daran erinnern: Die Harmonisierung für das deutsche Speditionsgewerbe war wegen der Dieselsubventionen des Auslands notwendig. Im Herbst 2000 hat die Bundesregierung, weil sie gerade auf dem Ökosteuertrip war, gesagt: „Gemach, gemach! Wir können euch heute nicht helfen, aber wenn die Maut kommt, dann helfen wir euch.“ Damit hat man zwei Dinge miteinander verknüpft, die eigentlich nicht zusammengehören, und hat somit die besondere Sensibilität der Europäischen Union ausgelöst, die nun sagt: „Aha, der Ausländer soll zahlen, und der Inländer soll entlastet werden. Das riecht doch nach irgendetwas.“ Dieses Problem hat man sich selbst eingehandelt.

Jetzt haben wir Ihnen in dieser Situation geholfen. Ich habe das selbst gemacht. Darüber könnte ich jetzt berichten. Ich sage nur so viel: Ich habe immer gedacht: Die müssten allmählich einmal kommen; da läuft ja ein bestimmter Countdown, weil man das Ganze bis zum 31. August organisiert haben will. Also müsste man im Bundesrat allmählich einen Mehrheitsbeschluss hinbekommen. Glauben Sie, im Februar wäre da etwas gewesen oder im März wäre da etwas gewesen? Man hat da nur etwas an der Sache herumgemacht. Irgendwann schließlich, Mitte Mai, hat man gesagt: „Jetzt wird es allmählich ernst, denn es sollte Ende Mai fertig sein.“ Dann haben wir – Mitarbeiter unseres Hauses und ich – in tage- und nächtelangen Verhandlungen versucht, das Ding zu retten, so gut es nur ging.

Übrigens habe ich bei dieser Gelegenheit – vorhin ist noch einmal davon die Rede gewesen, ob wir die Probleme erkannt hätten, ob wir davor gewarnt hätten – die sich abzeichnenden Probleme angesprochen. Ich will Ihnen nur einmal sagen, was ich im Bundesrat beim Abschluss der ganzen Operation gesagt habe, in der wir aus der gemeinsamen Grundüberzeugung heraus versucht haben, die Dinge so hinzukriegen, wie man sie hinkriegen soll: Ich habe im Bundesrat gesagt, dass wir drei Messlatten hätten. Erstens wollen wir sehen, dass die Einnahmen, wie sie jetzt auf unsere Intervention hin im Gesetz stehen, wirklich zusätzlich in den Verkehrshaushalt fließen. Ergebnis bis heute: nicht eingehalten, obwohl es im Gesetz steht.

(Zuruf des Abg. Boris Palmer GRÜNE – Gegenruf des Abg. Schebesta CDU)

Im Gesetz steht: „zusätzlich“. Sie können das Ganze interpretieren, wie Sie wollen, aber „zusätzlich“ heißt eben „zusätzlich“. Das bedeutet nicht „null“.

Zweitens haben wir gesagt: Wir wollen die Harmonisierung so, wie wir sie beschlossen haben. Wir haben bis heute nichts. Wir haben kein Konzept, und wir haben kein grünes Licht von Brüssel.

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Weil Ihr Konzept mit der EU nicht zusammenpasst! Das wissen Sie ge- nau!)

(Minister Müller)

Ja, ja, aber dann hätte man sich vorher einmal etwas überlegen müssen. Eine Harmonisierung zu versprechen, aber sie nicht einlösen zu können und dabei nicht einmal die Rechtsfragen zu klären, das ist der Fehler, den die Bundesregierung begangen hat.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Glück FDP/ DVP – Zuruf des Abg. Boris Palmer GRÜNE)

Herr Palmer, Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Da sind Versprechungen gemacht worden, die nicht eingelöst worden sind.

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Ja, von Ihnen!)

Das Dritte, was wir damals gesagt haben – auch in den Verhandlungen haben wir das immer wieder angesprochen –, ist die Frage: Wie sieht es eigentlich mit den praktischen Problemen aus? Ich habe in meiner Bundesratsrede gesagt: Die dritte Messlatte wird der Umgang mit der Technik sein. Er muss – das ist ein förmlicher Beschluss von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat; der Text stammt, mit Verlaub, aus meiner Feder – mittelstandsfreundlich, effektiv und unbürokratisch sein, vor allem in der Startphase. Denn wir haben gesehen, dass es in der Startphase ein Problem gibt. Das war unsere Messlatte. Und jetzt schauen Sie sich das Ergebnis an: Es gibt kein zusätzliches Geld, Chaos in der Startphase, keine Harmonisierung. Das ist das Ergebnis dessen, was da jetzt auf dem Tisch liegt.

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Wann war das?)

Jetzt möchte ich Ihnen im Übrigen einfach auch einmal sagen, wie wir uns um die Klärung der Probleme bemüht haben. In der Zwischenzeit haben auch zwei Verkehrsministerkonferenzen stattgefunden, eine im Frühjahr dieses Jahres und eine erst vor wenigen Wochen, und wir haben dort all diejenigen Fragen gestellt, die uns alle interessieren und die auch die Öffentlichkeit interessieren, beispielsweise die Frage nach der Höhe des Entgelts. Bei Einnahmen in Höhe von 600 Millionen € für Toll Collect – das sind immerhin 20 % dessen, was insgesamt hereinkommt; wenn die Finanzämter immer 20 % der Steuern für sich behalten dürften, wäre das für sie kein schlechtes Geschäft – kann man ja schon einmal fragen: Ist das eigentlich angemessen? Wir haben aber seinerzeit noch nicht einmal eine Antwort auf die Frage bekommen, ob es um 600 Millionen € geht oder nicht.

Ich erwähne weitere Fragen, die wir gestellt haben – wir haben all dies auf der Verkehrsministerkonferenz im Frühjahr in Frageform angesprochen – und die nicht beantwortet worden sind: die Haftungsfrage, die Frage nach der Funktionsfähigkeit, die Terminfrage. Herrn Nagel, den soeben zitierten bedeutenden Staatssekretär aus dem Bundesverkehrsministerium,

(Abg. Schmiedel SPD: Guter Mann!)

habe ich auf der letzten Verkehrsministerkonferenz gefragt: Herr Nagel, können Sie mir bitte einmal eines sagen: Sie sagen auf der einen Seite, wir hätten rechtlich eine starke Stellung. Auf der anderen Seite aber wollen Sie nachverhandeln. Ja was denn nun, bitte? Wenn Sie eine rechtlich starke Stellung haben, dann wenden Sie doch diesen Ver

trag an, und holen Sie auf der Grundlage des Vertrags bei Toll Collect das Geld. Wenn Sie nachverhandeln müssen, dann steht es offensichtlich nicht im Vertrag drin,

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: So ist es! So einfach ist es! Richtig!)

dann haben Sie keine rechtlich starke Stellung, und dann werden Sie in der Nachverhandlung Schwierigkeiten haben, dem Vertragspartner Hunderte oder was weiß ich wie viele Millionen Euro aus den Rippen zu quetschen. Die Frage ist nicht beantwortet worden.

Die Frage „Wie sieht es jetzt eigentlich mit Brüssel aus?“ haben wir seinerzeit gestellt; sie ist nicht beantwortet worden. Zur Frage „Welche Konsequenzen werden denn nun aus dem Ausfall der Maut, den es ja nun unstreitig gibt, zwischen Bundesverkehrsministerium und Bundesfinanzministerium gezogen?“ hieß es zunächst einmal vonseiten des Bundesverkehrsministers, das werde man in drei Jahren im eigenen Haus irgendwie abwickeln. Ich weiß nicht, wo: Im Verkehrsbereich? Im Wohnungsbaubereich? Im Bereich Aufbau Ost? Keine Ahnung. Dann hieß es neulich durch denselben Bundesverkehrsminister hier in Stuttgart, das werde in zehn Jahren abgewickelt. Ich kann Ihnen nicht sagen, was stimmt.