Protocol of the Session on May 8, 2003

Das Wort erteile ich Herrn Wirtschaftsminister Dr. Döring.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Aber jetzt!)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es lag meiner Beobachtung nach an den Eingangsrednern, Kollege Hofer und Kollege Birk, dass die Debatte nicht den Verlauf genommen hat, den vielleicht manche außen erwartet hatten. Manche hätten vielleicht erwartet, dass es zu einem erbitterten Schlagabtausch über falsche oder richtige Konzepte kommt. Deshalb hat Kollege Drexler auch zu Recht anerkannt: in moderatem Ton fortfahren.

Es ist überhaupt nicht das Ziel der Antragsteller gewesen, in irgendeiner Weise aufzuzeigen, wo was noch besser gemacht werden sollte. Es ist nicht die Zeit der gegenseitigen Schuldzuweisungen, sondern von der heutigen Debatte sollte nach Möglichkeit ein Signal der Unterstützung für die Agenda 2010 ausgehen.

(Beifall bei der FDP/DVP sowie der Abg. Rückert CDU und Knapp SPD)

Wenn die Debatte das erreicht hat, ist das ein gutes Ergebnis.

Es ist auch gar keine Frage, Herr Kollege Drexler – das sage ich an diesem Punkt nicht zur Richtigstellung, sondern einfach nur zur Erwähnung –: Glauben Sie, dass der Landesregierung und den beiden Regierungsfraktionen die 55jährigen Arbeitslosen und die gestiegene Zahl der arbeitslosen Jugendlichen genauso viel Sorgen machen wie Ihnen auch.

(Beifall des Abg. Hofer FDP/DVP – Abg. Drexler SPD: Natürlich!)

Es gibt da keine Unterscheidung. Es gibt dafür auch überhaupt keinen Grund, auch wenn wir die Arbeitsmarktdaten auf der einen Seite unter dem Aspekt der geringsten Arbeitslosigkeit in Baden-Württemberg unter den Bundesländern zugegebenermaßen natürlich immer mit Freude zur Kenntnis nehmen. Aber es gibt keinen Anlass für Triumphgeschrei. Die Zahlen bei uns steigen. Sie steigen in zu hohem Maße. Sie sind in Deutschland insgesamt zu hoch. Sie sind nicht nur bei uns in Baden-Württemberg zu hoch. Wichtig ist für uns, dass wir das, was wir jetzt als Agenda 2010 auf dem Tisch liegen haben, endlich auch umsetzen.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Kleinmann FDP/ DVP: Sehr richtig!)

Es wäre mir sehr recht, wenn wir aus der Agenda 2010 eine Agenda 2003 machten. Denn das muss jetzt umgesetzt werden. Da dürfen wir nicht sagen: „Wenn wir das haben, dann ist bis 2010 Ruhe“, sondern das muss unbedingt fortgesetzt werden.

Ich würde eine weitere dringende Bitte an Sie richten, genauso wie Sie sie umgekehrt an CDU und FDP/DVP gerichtet haben und verlangt haben, dass wir von unserer Seite aus nicht jeden Tag sagen, man solle dies oder jenes obenauf legen. Dies weiter zu machen bringt nichts. Es bringt wirklich nichts. Ich bitte aber darum, dass Sie auch umge

kehrt ein Stück weit klar machen, dass wieder eine Planungssicherheit und eine Verlässlichkeit einkehren und dass nicht jeden zweiten Tag neue Themen – Erbschaftsteuer, Vermögensteuer – und weitere wirkliche Folterinstrumente für die Wirtschaft vorgezeigt werden. Dies gehört meiner Meinung nach im Zusammenhang mit der Findung von Reformen für die Bundesrepublik Deutschland dazu.

Deswegen gebe ich Ihnen von unserer Seite aus bis zum 1. Juni und bis zum Beschluss im Bundestag die Zusage der Unterstützung. Wir wissen sehr wohl einzuschätzen – ich meine, Herr Kretschmann und Herr Drexler, wir wissen das richtig einzuschätzen –, dass die Diskussion in Ihrem parteipolitischen Umfeld schwieriger ist als in unserem. Aber wir brauchen umgekehrt auch Signale für die Wirtschaft in die Richtung, dass es nicht zu weiteren Verschärfungen und nicht zu weiteren Verschlimmerungen und Verschlechterungen der Rahmenbedingungen kommt, wie sie teilweise diskutiert werden.

Ich möchte Ihnen auch sagen: Das, was heute oder gestern als Alternativprogramm auf den Tisch gelegt worden ist, müssen wir an dieser Stelle schon mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Wohin soll denn eine weitere Neuverschuldung führen? Wo soll denn das Konjunkturprogramm in irgendeiner Weise nachhaltig zu irgendeiner spürbaren Verbesserung führen? Mit Sicherheit nirgends. Deswegen wäre es hilfreich, wenn man das so genannte Alternativprogramm mit Entschiedenheit zurückweisen und klar sagen würde: Das wäre eine weitere Verschlechterung der Rahmenbedingungen für uns in Deutschland und für uns in Baden-Württemberg.

Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass die heutige Aktuelle Debatte ausgesprochen wichtig und richtig war und ist. Wir müssen die Reformen, die auf dem Tisch liegen, auch wenn wir sie als Minimalreformen bezeichnen, jetzt unbedingt unverändert durchsetzen und auf den Weg bringen. Man muss auch klar machen, dass dann für einen überschaubaren Zeitraum mit weiteren Korrekturen, einem weiteren Drehen an der Steuerschraube nach oben und weiteren Verschlechterungen einmal Ende der Fahnenstange ist.

Meine Damen und Herren, wenn wir im Mai 2003 in Baden-Württemberg 6,3 % Arbeitslose, gestiegene Arbeitslosenzahlen vor allem im Bereich der Jüngeren und eine schwierigere Situation für die Älteren haben, ist es notwendig, deutlich zu machen, dass bei den Rahmenbedingungen eine Umkehr stattfinden muss. Es muss eine deutlich andere Politik gemacht werden. Ein erster richtiger Ansatz dazu ist die Agenda 2010. Deswegen brauchen wir – ich sage das noch einmal – ein Signal aus dieser Debatte, dass sie unterstützt wird. Sorgen Sie aber dann auch umgekehrt für Verlässlichkeit und Planungssicherheit, damit wir wenigstens einen Schritt in die richtige Richtung vorankommen.

Danke sehr.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Dr. Noll.

(Abg. Capezzuto SPD: Aber zurückhalten!)

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Capezzuto, ich brauche mich, glaube ich, nicht zurückzuhalten, weil ich mit einem Lob beginnen will; ich habe das gestern schon angedeutet.

Selbstverständlich wollen wir gemeinsam – dieses Signal ging eigentlich von allen aus – dafür sorgen, dass sich die Stimmung in der Bevölkerung ändert, in der immer gesagt wird: Ihr debattiert und debattiert, aber es passiert nichts. Da müssen wir endlich gemeinsam einen Ruck hinkriegen. Deswegen höre ich Ihre Signale, Herr Drexler, sehr wohl, und ich freue mich auch sehr darüber, dass Ihre Fraktion – auch die Grünen – die Agenda 2010 unterstützt. Denn das ist ein Signal, das an die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes – wir sprechen ja über Baden-Württemberg – hinausgehen muss. Wir müssen aufhören mit dem Zickzackkurs und damit, dass jeden Tag ein neuer Vorschlag kommt.

Eines muss klar sein: Die Menschen werden wieder Vertrauen fassen und wieder konsumieren und investieren, wenn ihnen klar ist, dass ihnen nicht mit neuen Neiddiskussionen und neuen Belastungen gedroht wird.

Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik, also die sozialen Sicherungssysteme, sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: So ist es!)

Unterhalten Sie sich einmal mit den Menschen draußen. Erst wenn die Menschen gerade in Baden-Württemberg, die in finanziellen Dingen und bei der Vorsorge vielleicht vorsichtiger sind als der Rest der Republik, wissen, dass ihnen in Zukunft von dem, was sie verdienen, endlich wieder mehr als derzeit netto im Geldbeutel bleibt, werden sie wieder bereit sein, zum Beispiel den Autokauf nicht um zwei Jahre zu verschieben, in die Renovierung des Häusles wieder schneller zu investieren usw.

Für mich werden die Themen „Lohnzusatzkosten“ und „Sozialpolitik“ immer zu sehr unter den Aspekten der Investitionsbereitschaft der Firmen und der Entlastung und Einstellungsbereitschaft der Mittelständler und der Firmen – diese Aspekte sind allerdings richtig – diskutiert. Wichtig ist natürlich immer auch die Frage: Wie viel Geld bleibt den Leuten in der Tasche? Die Steuerpolitik ist das eine, und das andere sind natürlich die Abgaben.

Wenn den Menschen immer mehr Abgaben zugemutet werden und sie das Gefühl haben, das Geld fließt in einen anonymen Topf, die Leistungen werden immer schlechter und zum Beispiel in der Gesundheitspolitik ist immer mehr zu zahlen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn ein gewisser Politikfrust aufkommt.

Die Wahrheit gebietet es schon, Herr Drexler, zu sagen, dass Sie gegen die Richtung, die die FDP im Bundestagswahlkampf 1998 vertreten hat, vehement als neoliberales Geschwätz polemisiert haben. Jetzt, fünf Jahre später, hat Sie die Realität dazu gebracht, genau die gleichen Rezepte – ich kann es Ihnen aus der Agenda vorlesen; das ist teilweise deckungsgleich – auf den Tisch zu legen.

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie jetzt gemeinsam mit uns allen versuchen wollen, der Bevölkerung zu vermitteln: Wir

wollen euch nichts wegnehmen, sondern wir wollen euch in Zukunft mehr Gestaltungsfreiheit bei dem lassen, was ihr mit eurem Geld macht. Wenn wir gemeinsam versuchen, dies den Menschen zu vermitteln, werden sie, glaube ich, auch den einen oder anderen Punkt, der vielleicht wehtun könnte, eher verschmerzen und sagen: Jawohl, im Interesse des Gesamten sind wir bereit, ein Stück weit wieder mehr auf unsere eigene Leistungskraft zu setzen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Sätze zum Thema Rente sagen, dessen Behandlung wirklich, glaube ich, keinerlei Verzögerung mehr zulässt.

In der Agenda steht ausdrücklich – ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren –:

Die Altersgrenze von 67 Jahren wird dann erstmals für die Geburtsjahrgänge 1969 und jünger gelten.

Das ist ein Thema, dessen Behandlung in der CDU merkwürdigerweise sofort zurückgenommen worden ist. In Ihrer Agenda steht es noch drin.

Ich stehe dazu: Angesichts der Demographie stehen wir schlicht und einfach vor dem Problem – dass die Menschen immer älter werden, ist kein Problem, sondern eine tolle Entwicklung – des Verhältnisses von Lebensarbeitszeit zu Rentenlaufzeit. Da kann man an zwei Stellschrauben drehen.

Man kann zum einen unten drehen: früherer Eintritt in die Arbeitswelt. Das tun wir ja an vielen Stellen, zum Beispiel mit der Verkürzung der Schulzeit.

Aber man wird zum anderen auch darüber nachdenken müssen, ob man am oberen Ende – Eintritt in das Rentenalter – langfristig, vorhersehbar, planbar etwas verändert. Das gilt nicht für diejenigen, die jetzt nahe an der Rente sind. Vielmehr steht ausdrücklich auch in der Agenda der SPD, dass man ab 2011 das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre erhöhen will. Manche neigen immer noch zu dieser kurzsichtigen Politik und sagen: Angesichts der vielen Arbeitslosen können wir doch nicht die Alten länger arbeiten lassen. Die Jungen haben keine Chance.

Zum Ersten ist international bekannt, dass überall dort, wo dem Trend, die Älteren früh hinauszudrängen, wie es in Deutschland der Fall war, nicht gefolgt wurde, die Jugendarbeitslosigkeit gleichzeitig keineswegs höher, sondern niedriger war.

(Beifall der Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP)

Das heißt, Ältere und Jüngere dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Zum Zweiten dürfen wir, wenn wir uns demographische Entwicklungen und die Rentensystematik anschauen, wobei sich sehr langfristige Wirkungen ergeben, wenn wir heute Schritte machen, nicht nur von der gegenwärtigen Situation ausgehen. Wir wissen alle, dass wir auch in Baden-Württemberg an einen Punkt kommen werden – im Pflegebereich ist er schon erreicht; das ist auch ein Wirtschaftszweig –, an dem schlicht und einfach zu wenig junge Menschen zur Besetzung der Arbeitsplätze vorhanden sein werden.

(Zuruf des Abg. Drexler SPD)

Also ist es doch legitim, vorhersehbar auf einen langen Zeitraum auch dieses sicherlich schwierige Thema anzugehen. Ich sage Ihnen bei diesem Punkt wie bei allen vernünftigen Punkten, die die Agenda 2010 enthält, unsere Unterstützung zu. Noch einmal: Wir haben da keinen Nachholbedarf. Vielmehr waren wir diejenigen, die diese Rezepte schon lange vorgelegt haben.

Ich freue mich darauf, wenn Sie jetzt mit der Agenda 2010 nicht nur Überschriften produzieren, sondern die entsprechenden Maßnahmen mit uns gemeinsam im Gesetzgebungsverfahren auch in die Realität umsetzen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Drexler.

Dazu, Herr Kollege Dr. Noll, gehört natürlich auch eine andere Unternehmensphilosophie. Über 60 % der Betriebe in Deutschland haben keine Beschäftigten mehr, die älter als 50 Jahre sind.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Das ist vollkommen richtig!)

Insofern muss man hier auch einen Appell an die Unternehmer richten, die immer von längerer Lebensarbeitszeit reden, aber ihre Belegschaft in den Achtziger- und Neunzigerjahren reihenweise von den über 50-Jährigen „gesäubert“ haben – auf Kosten der solidarischen Finanzierung unserer Sozialversicherungssysteme.