Protocol of the Session on March 27, 2003

(Abg. Wacker CDU: Wenn auch die Eltern sach- lich bleiben!)

für schädlich bei der Stärkung und Verbesserung der Erziehungspartnerschaft von Schule und Eltern.

(Beifall bei den Grünen – Abg. Wacker CDU: Dann sollen die Eltern aber auch sachlich bleiben!)

Das sind die Elternbeiräte – Sie können vor Ort gehen –, flächendeckend an den Gymnasien in ganz Baden-Württemberg. Es handelt sich nicht nur um einzelne Funktionäre.

(Abg. Schmiedel SPD: Und Lehrer und Schüler!)

Frau Kultusministerin Schavan, Sie betonen den Stellenwert der Durchlässigkeit des baden-württembergischen Bildungswesens. Sie sagen deshalb, eine Wiederauflage der vor 30 Jahren geführten Strukturdebatte sei nicht nur überflüssig, sondern schädlich und würde uns bei den notwendigen Veränderungen blockieren.

(Abg. Wacker CDU: Richtig! – Abg. Rau CDU: Sehr richtig!)

Entscheidend sei – so sagen Sie – die Entkoppelung des Bildungsgangs vom Bildungsabschluss und die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen. Gerade aber die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen zerstören Sie ansatzweise, wenn Sie die jetzige Konzeption des achtjährigen Gymnasiums durchführen. Indem dort nämlich in der Unterstufe gekürzt und verdichtet wird, ist nicht einmal mehr eine Orientierungsstufe vorhanden, das heißt, das Gymnasium wird völlig von den anderen beiden Schularten abgekoppelt.

Bis jetzt war es unser Grundkonsens, dass in Baden-Württemberg zumindest die Orientierungsstufe noch eine Orientierung in andere Schulformen möglich macht – gerade weil wir eine so frühe Selektion haben.

(Beifall bei den Grünen)

Wir Grünen fordern deshalb, dass Sie die Konzeption des achtjährigen Bildungsgangs ändern. Wir fordern, dass die Verkürzung in der Mittelstufe stattfindet, nämlich in den Jahrgangsstufen 9 bis 11, wie es übrigens auch schon die Kultusministerkonferenz vor Jahren gefordert hat.

Ich stimme Ihnen darin zu, Frau Schavan, dass das berufliche Schulwesen – insbesondere die beruflichen Gymnasien – einen guten Beitrag zur Durchlässigkeit leistet und dass das berufliche Schulwesen einen wichtigen Beitrag dazu leistet, schwächere Schülerinnen und Schüler zu fördern

und ihnen wichtige Fähigkeiten zu vermitteln, die sie vorher nicht erlernt haben.

(Abg. Röhm CDU: Richtig!)

Wenn das berufliche Gymnasium aber die hohe Bedeutung hat, weil dort insbesondere Schüler und Schülerinnen der Realschule das Abitur erreichen können, dann müssen die beruflichen Gymnasien und die allgemein bildenden Gymnasien aber auch gleiche Lernbedingungen bekommen.

Meine Fraktion hat in den Landtag einen entsprechenden Antrag eingebracht. Die Stellungnahme dazu hat gezeigt, dass die durchschnittliche Klassengröße an allgemein bildenden Gymnasien im Schuljahr 2001 in der elften Klasse 23 Schüler beträgt, an den beruflichen Gymnasien aber 28,9. Die durchschnittliche Kursgröße liegt an allgemein bildenden Gymnasien bei 17,2, an beruflichen Gymnasien bei 19,5 Schülern. In den Leistungskursen sind es durchschnittlich 13,7 und an beruflichen Gymnasien 18,3 Schüler. Gerade an den beruflichen Gymnasien darf es keine schlechteren Lernbedingungen für Schüler und Schülerinnen geben, wenn wir bei ihnen die gleiche Erfolgsquote beim Abitur erreichen wollen wie bei den allgemein bildenden Gymnasien.

(Beifall bei den Grünen und des Abg. Käppeler SPD)

Das gehört dazu, damit es kein Lippenbekenntnis bleibt, wenn Sie sagen, dass berufliche Bildung und allgemeine Bildung gleichwertig sein müssen.

Meine Damen und Herren, auch wenn Baden-Württemberg im deutschen Ländervergleich eine Spitzenposition bei den Schülerleistungen einnimmt, so gibt es aber bei uns – das sagen alle PISA-Experten; das sagt auch Herr Baumert – die gleichen Problemlagen wie in anderen Bundesländern. Diese sind: soziale Selektion, hohe Risikogruppe – wenngleich auch geringer als in anderen Bundesländern –, eine wenig differenzierte Lernkultur und vor allem zu geringe Investitionen im Vorschulbereich und ein großer Nachholbedarf bei der frühkindlichen Bildung. Um diese Problemlage konsequent anzugehen, konzentrieren wir Grünen uns auf zwei zentrale Reformziele.

Erstens: Stärkung der frühen Bildung und Erziehung, weil in den frühen Jahren die entscheidenden Grundlagen für die Lernentwicklung der Kinder geschaffen werden.

Es ist schon erstaunlich, Frau Kultusministerin Schavan, wie wenig Sie in Ihrer Regierungserklärung zum Kindergarten gesagt haben. Ein freiwilliger Sprachtest für Kinder, ein Sprachkurs für Fünfjährige – das ist alles, was Ihnen dazu einfällt. Ich sage: Am allerwichtigsten ist es, endlich die Erzieherinnenausbildung auf ein europäisches Niveau zu bringen, eine Fortbildungsoffensive für Erzieherinnen zu starten, unter anderem im Bereich der interkulturellen Kompetenz, in der ganzheitlichen Sprachförderung von Anfang an und in der Diagnosefähigkeit. Wir fordern von Ihnen deshalb einen Bildungs- und Erziehungsplan für Kindertageseinrichtungen, in dem die Bildungsziele verlässlich definiert werden und in dem die Rolle der Sprachförderung genau beschrieben wird.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Natürlich hat das meine Kollegin Brigitte Lösch schon gestern bei der zweiten Lesung des Kindergartengesetzes gesagt, aber es kann hier überhaupt nicht oft genug gesagt werden,

(Abg. Dr. Caroli SPD: Wir wollen es noch einmal hören!)

wenn wir das Gebot der Chancengleichheit von Kindern wirklich ernst nehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Auch die Grundschule muss gestärkt werden. Sie wissen, dass das ein Lieblingsthema von mir ist. Ich habe den „Schulanfang auf neuen Wegen“, insbesondere die altersgemischten Klassen, von Anfang an unterstützt, ebenso die Einführung der Grundschulfremdsprache ab Klasse 1. Aber wir Grünen fordern auch, endlich die volle Halbtagsgrundschule ohne Elterngebühren einzuführen, wir fordern ganztägige Angebote. Es gibt in Baden-Württemberg von 2 500 Grundschulen nur vier, die als Ganztagsschulen ausgebaut sind. Gerade mit dem Blick auf Chancengleichheit muss hier gehandelt werden.

(Beifall bei den Grünen)

Dringend notwendig ist auch die Einbeziehung von Erzieherinnen und Sonderpädagogen für eine verbesserte Förderung von Kindern mit Entwicklungsverzögerungen – unter anderem bei der Sprachentwicklung –, mit Teilleistungsschwächen und auch für die Integration von behinderten Kindern in die allgemeinen Schulen. Gerade die Grundschule, die ja als eine Schule für alle Kinder der Gesellschaft konzipiert ist, muss zu einer echten Schule für alle Kinder werden – ohne Aussonderung von Kindern. Deshalb dürfen unserer Meinung nach Lehrerstunden aus der Grundschule nicht herausgenommen werden, wenn in den nächsten Jahren die Schülerzahlen an der Grundschule zurückgehen.

Das zweite große Ziel, für das wir Grünen hier in BadenWürttemberg bildungspolitisch stehen, ist die Qualitätsentwicklung durch selbstständige Schulen. Wir Grünen sind der festen Überzeugung, dass die Schule der Zivilgesellschaft die selbstständige und demokratische Schule ist. Eine Schule, die Schülern Bildungsziele wie Mündigkeit, die Fähigkeit, selbstständig zu lernen und das Leben zu gestalten, vermitteln soll und die Schüler heranbildet, die Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen können, muss auch selbst mündig, selbstständig und demokratisch sein.

(Beifall bei den Grünen)

Wir setzen dabei auf die Mitsprache von Schülern und Schülerinnen, wir setzen auf professionell ausgebildete, engagierte Lehrkräfte, die sich als Experten für Lehren und Lernen als Gestalter ihrer Schule sehen, und wir setzen auf die aktive Mitarbeit von Eltern.

Aber, Frau Kultusministerin, die selbstständige Schule ist natürlich keine Schule der Beliebigkeit, sondern auch die selbstständige Schule bleibt in staatlicher Verantwortung.

(Abg. Röhm CDU: Richtig!)

Bildungsstandards, allerdings schulartübergreifend, müssen gesetzt werden. Schulen müssen sich selbst evaluieren und müssen sich einer externen Evaluierung unterziehen.

(Abg. Wacker CDU: Da sind wir nicht weit ausein- ander!)

Aber wir verlangen folgende Freiräume für die Schulen – ich nenne Ihnen diese Freiräume, die Sie bis jetzt noch nicht gewähren wollen –: Freiräume bei der Personalentwicklung. Heute gibt es bereits die schulscharfe Ausschreibung. Mittlerweile können, glaube ich, ein Drittel oder ein Viertel der Stellen ausgeschrieben werden. Es gibt keinen Grund, dies zu beschränken. Wir verlangen, dass die Schulen ihre Lehrer grundsätzlich selbst einstellen können. Wir wollen, dass die Schulen ein Fortbildungsbudget erhalten und damit eigene Fortbildungsmittel zur Verfügung haben. Dann können die Schulen nämlich echte Teams bilden, die auch zu ihrem Schulprofil passen. Dann können sie Leute einstellen, die bereit sind, aktiv an diesem Schulprofil mitzuarbeiten.

Zur Personalentwicklung sind aber auch neue Arbeitszeitmodelle für Lehrer und Lehrerinnen notwendig. Ich halte es wirklich für haarsträubend, Frau Kultusministerin Schavan, dass erneut an der Stellschraube „Deputatsstunden“ für die Arbeitszeit von Lehrern gedreht wird. Die reine Arbeitszeitberechnung in Deputatsstunden ist absolut veraltet und behindert Schulentwicklung, neue Unterrichtsformen, ganztägig geöffnete Schulen. Wir müssen uns davon verabschieden und zu neuen, gerechten Arbeitszeitmodellen für Lehrer kommen, und die werden auch zu Steigerungen der Effizienz des Lehrereinsatzes führen. Aber immer wieder nur an der Stellschraube „Deputatsstunden“ zu drehen – einmal eine Stunde erlassen in guten Zeiten, dann wieder eine Stunde erhöhen –, das zermürbt, das demotiviert. Das ist keine gute Methode, um bei der Lehrerarbeitszeit voranzukommen.

(Beifall bei den Grünen)

Die Schulen müssen auch zur strukturellen Weiterentwicklung Freiräume bekommen. Frau Schavan, natürlich stimme ich Ihnen zu, dass die Durchlässigkeit ein wichtiges Prinzip eines Schulwesens ist. Aber bestimmte Probleme können bei einer frühen Selektion nicht gelöst werden. Das ist das Problem des hohen Selektionsdrucks auf die Grundschule. Wenn Sie an die Grundschule gehen – machen Sie das doch einfach einmal; reden Sie mit Eltern, Lehrern und Lehrerinnen, und reden Sie mit Schulleitern und Schulleiterinnen –, sehen Sie: Dieser Selektionsdruck belastet die eigenständige Arbeit der Grundschule enorm und schürt Ängste bei Eltern und Kindern. Und was Sie auch nicht lösen können, ist das Problem, dass es eine soziale Selektion ist, die so früh stattfindet. Ich kann Ihnen das mit einer einzigen Zahl beweisen. Von den Migrantenkindern, also ausländischen Kindern, gehen 64,5 % nach der Grundschule in die Hauptschule und nur 8 % ins Gymnasium. Das heißt, es wird nach kultureller, nach sozialer Herkunft selektiert und nicht nach Begabungen. Auch die Überlappungen zwischen den Schularten, wie sie sich durch PISA III gezeigt haben, machen deutlich, dass bei dieser frühen Selektion homogene Gruppen gar nicht erreicht werden können. Das können Sie nicht lösen.

Frau Schavan, ich bin natürlich realistisch genug, von Ihnen nicht zu erwarten, dass Sie entsprechend den Wünschen des Baden-Württembergischen Handwerktags in Baden-Württemberg eine neunjährige Basisschule einführen. Aber ich kann von Ihnen erwarten, dass Sie bei größerer Selbstständigkeit von Schulen eine Öffnung zulassen, dass Sie längere gemeinsame Schulzeiten zulassen, dass Sie an allen Schulen, die das machen wollen, heterogene Zusammensetzungen der Schülerschaft zulassen. Warum kann sich zum Beispiel ein Gymnasium nicht öffnen und auch den Bildungsgang Hauptschule oder den Bildungsgang Realschule anbieten? Warum kann nicht eine Hauptschule – wie das in Amtzell der Fall ist – auch den Bildungsgang Realschule anbieten? Warum können sich Schulen nicht so verändern?

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Das gibt es doch! – Zuruf des Abg. Wacker CDU)

Warum wird die neue Sekundarstufe Tübingen, die ein integratives Modell entwickelt hat, in dem alle Schüler und Schülerinnen gefördert und alle Abschlüsse angeboten werden, also auch der Übergang ins allgemein bildende Gymnasium, nicht genehmigt? Warum darf in Karlsruhe eine Grundschule, die bereits heute eine fünfte und eine sechste Klasse hat, nämlich Klassen für Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche, die zwei Klassen nicht führen, sondern müssen diese an einer Hauptschule geführt werden, mit der diese Grundschule überhaupt nichts zu tun hat? Selbst die Lehrerstunden müssen dort verrechnet werden. Warum wird das nicht genehmigt? Weil vielleicht sonst jemand meinen könnte, es könnte sich um eine sechsjährige Grundschule handeln.

Dazu meine ich: Hier wird das gegliederte Bildungswesen zum Dogma und behindert eine Schulentwicklung, die auch stärker auf Heterogenität eingeht und als Perspektive eine nicht selektive Schule hat, wofür wir Grünen eintreten.

(Beifall bei den Grünen)

Selbstständige Schulen – und auch das genehmigen Sie nicht – müssen auch die Genehmigung bekommen, neue Formen der Leistungserbringung und der Leistungsmessung durchzuführen. Die Entwicklung von Lernkonzepten mit individueller Förderung, die jedem Kind seine eigene Lerngeschwindigkeit und seinen individuellen Lernzuwachs zubilligt, erfordert auch neue Formen von Leistungsrückmeldungen, nämlich solche, die ermutigend sind und die Kinder stärken. Ich nenne hier Berichtszeugnisse oder Portfolios. Hier gibt es schon sehr gute Beispiele, die in anderen Ländern bereits Stand der Technik sind.

Am wichtigsten ist es aber, dass Kinder frühzeitig lernen, sich selbst einzuschätzen und ihre eigenen Lernerfolge oder auch Schwächen zu bewerten. Erst dann können sie nämlich Verantwortung für die eigene Lernentwicklung übernehmen. Wir fordern deshalb als ersten Schritt eine Grundschule ohne Ziffernoten.

(Beifall bei den Grünen)

Meine Damen und Herren, wir Grünen fördern auch deshalb in Baden-Württemberg Schulen in freier Trägerschaft, weil sie uns zeigen, wie man Schulen selbstständig führt,

wie eine Schule in eigener Verantwortung für Qualität steht und innovativ ist. Wir werden Sie daran erinnern, dass Schulen in freier Trägerschaft auch finanziell entsprechend unterstützt werden müssen.