Protocol of the Session on March 27, 2003

(Zuruf des Abg. Rech CDU)

Es ist nicht so, dass es sich hier um Leute handelt, die nichts zu tun haben.

(Abg. Drexler SPD: Im Gegenteil!)

Die müssen jeden Tag die Gesetze lesen, die müssen jeden Tag auf dem neuesten Stand sein, damit unsere jungen

Menschen befähigt werden, an den beruflichen Schulen die Leistungen zu erbringen,

(Zuruf des Abg. Dr. Caroli SPD)

die wir von ihnen erwarten. Und Sie gehen her und hauen einfach eine Stunde drauf und sagen: Das ist meine Antwort auf diese Situation.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Schulsystem ist extrem ungerecht. In keinem vergleichbaren Land bestimmt die soziale Herkunft so stark die Bildungschancen.

(Zuruf des Abg. Rau CDU)

Kinder aus so genannten bildungsfernen Elternhäusern sind laut PISA- und laut UNICEF-Studie deutlich benachteiligt, auch in Baden-Württemberg. Das gilt – ich sage Ihnen das nochmals – auch für unser Land. Unser gegliedertes Schulwesen ist anderen Systemen nicht überlegen, wie Sie das ständig von sich geben. Integrative Schulsysteme in anderen Ländern zeigen, wie gleichzeitig breite Bildungsbeteiligung und ein höheres Bildungsniveau realisiert werden können. Länder, bei denen gemeinsames Lernen an vorderster Stelle steht, die nicht schon nach der vierten Klasse auswählen, erzielen weitaus bessere Ergebnisse.

(Zuruf der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Das ist der zentrale Befund der PISA-Studie.

(Abg. Alfred Haas CDU: Der Mann kann nicht le- sen!)

Wie Sie allerdings daraus ableiten, dass sich die Frage der Schulstruktur nicht stellt, ist mir und auch den Mitgliedern des PISA-Konsortiums schleierhaft.

Bei einem Streitgespräch, das am 5. Dezember in der Wochenzeitung „Die Zeit“ abgedruckt wurde, entgegnete Ihnen Herr Schleicher:

Ich bezweifle, dass Deutschland langfristig sein größtes Problem – den überragenden Einfluss der Herkunft eines Schülers auf seine Leistungen – im gegliederten System lösen kann.

(Abg. Dr. Caroli SPD: Aha!)

Das ist ein Wort, Frau Schavan. Ich kann es, wenn Sie wollen, gern wiederholen.

(Zurufe von der SPD, u. a. Abg. Schmiedel: Ja! Noch einmal!)

Ich kann aber auch gern neueste PISA-Veröffentlichungen heranziehen. Denn ein Drittel der Realschüler in BadenWürttemberg bringt beispielsweise in Mathematik bessere Leistungen als Gymnasiasten im unteren Leistungsbereich. Das selektierende Schulsystem in Baden-Württemberg und vor allem die frühe Trennung unserer Kinder nach Klasse 4 werden durch diesen Forschungsbefund ad absurdum geführt.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der SPD)

Gern zitiere ich auch noch einmal Professor Baumert. Er sagt,

dass die in PISA nachgewiesene, im internationalen Vergleich ungewöhnlich große Leistungsstreuung am Ende der Vollzeitschulpflicht zu einem nicht unerheblichen Teil in der Sekundarstufe I institutionell erzeugt oder zumindest verstärkt wird.

Das ist nichts anderes als eine herbe Kritik am gegliederten Schulwesen.

Die richtige Konsequenz daraus lautet – und auch dazu möchte ich das PISA-Konsortium zitieren –:

Es spricht vieles dafür, institutionelle Differenzierungen im Interesse besserer Förderbedingungen für Kinder und Jugendliche und einer Verringerung sozialer Segregation eher zurückzunehmen und sie nicht weiter voranzutreiben.

Ich sage Ihnen: Finnland, Schweden und Kanada machen uns vor, wie man zu besseren Leistungen kommt: bei einem integrativen Schulsystem.

(Beifall bei der SPD)

Das heißt, wir müssen nicht nur den Unterricht verbessern, wir müssen auch die Schulstruktur verändern. Wir müssen das Selektionsprinzip verwerfen und durch ein System der individuellen Förderung ersetzen.

(Beifall bei der SPD – Abg. Drexler SPD: Förde- rung! Richtig!)

Ganz konkret heißt das: Wir müssen endlich aufhören, unsere Kinder nach Klasse 4 zu trennen. Denn in Klasse 4 besteht ein hoher Entscheidungsdruck. Er entsteht zum Teil schon in der dritten Klasse; den gibt es ja nicht erst in der vierten Klasse. Diesen Druck müssen wir nehmen.

Wir schlagen deshalb vor, die Kinder in Baden-Württemberg mindestens sechs Jahre lang gemeinsam lernen zu lassen.

(Abg. Schmiedel SPD: Sehr gut! – Glocke des Prä- sidenten)

Herr Abg. Zeller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abg. Gurr-Hirsch?

Am Ende der Rede.

(Unruhe – Lachen bei der CDU – Zurufe von der CDU, u. a. der Abg. Dr. Inge Gräßle)

Auch wenn Sie, meine Damen und Herren, es nicht glauben wollen: Das ist das, was PISA-konform ausgesagt wird.

Frau Schavan, wenn Sie hier schon eine gute Zusammenarbeit Ihres Hauses mit dem Baden-Württembergischen Handwerkstag ansprechen, dann frage ich Sie, warum Sie denn die zentrale Forderung des Baden-Württembergischen Handwerkstags nicht zur Kenntnis nehmen, weniger zu selektieren und unsere Kinder viel länger zusammenarbeiten zu lassen.

(Abg. Drexler SPD: Richtig! – Zurufe von der SPD: So ist es!)

Der Baden-Württembergische Handwerkstag hat nämlich unseren Vorstoß gelobt.

(Abg. Drexler SPD: Ja!)

Der Verband Bildung und Erziehung hat ihn als einen Schritt in die richtige Richtung bezeichnet.

(Abg. Drexler SPD: Richtig!)

Auch in anderen Bundesländern werden allmählich Überlegungen angestellt, unserem Vorschlag zu folgen.

Von PISA bestätigt wurde auch unser Vorschlag, im Anschluss an eine sechsjährige Grundschule die Differenzierung nach Schularten abzumildern. Unser Konzept sieht vor, neben den Gymnasien Regionalschulen als Zusammenschluss von Realschulen und Hauptschulen einzuführen. Das hilft entgegen Ihren Aussagen nicht nur, die sechsjährige Grundschule zu stärken und damit Schulstandorte zu stärken, sondern dadurch werden auch schwächere Jahrgänge eindeutig unterstützt.

Von wirklichen PISA-Spitzenreitern lernen heißt, längere gemeinsame Lernzeiten für Schülerinnen und Schüler einzuführen. Das ist eine, vielleicht sogar die zentrale Forderung der Bildungsstudien neueren Datums.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dazu gehört auch, dass wir in Baden-Württemberg mehr Ganztagsschulen brauchen. Die jüngste PISA-Studie hat deutlich gezeigt, dass Kinder, deren Mütter zu Hause sind, nicht zwangsläufig bessere Leistungen erzielen als Kinder von Müttern, die berufstätig sind. Das heißt, Mütter, die arbeiten gehen, sind mitnichten Rabenmütter, die ihre Kinder im Stich lassen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Wer sagt denn dies?)