Wir, die SPD-Landtagsfraktion, haben deshalb vorgeschlagen, für alle Kinder im Alter von fünf Jahren eine verbindliche Sprachstandsdiagnose einzuführen. Alle Kinder, bei denen Bedarf festgestellt wird, sollen verpflichtend eine individuelle Förderung vor und während der Grundschulzeit erhalten. Das, meine Damen und Herren, wäre die richtige, logische Konsequenz aus diesem brisanten und beschämenden Befund.
Darüber hinaus haben wir vorgeschlagen, den Grundschulen mehr Ressourcen zu geben. Kleinere Klassen, mehr individuelle Förderung und vor allem auch mehr Ganztagsschulen für den Grundschulbereich, das wäre richtig, auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Und was tut die Landesregierung? Frau Schavan, ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie hier im Plenum wiederholt hätten, was Sie beim Redaktionsgespräch beim „Mannheimer Morgen“ gesagt haben. Nach der Ausgabe vom 15. Februar haben Sie nämlich gesagt: „Wir haben das Thema Sprache unterschätzt.“ Wenigstens in Mannheim ein klein wenig Selbstkritik. Doch was macht die Landesregierung? Sie ist zur Selbstkritik nicht fähig. Sie lässt hin und her diskutieren über Sprachförderung: ja, nein, wie und ob. Das Ganze geht nun schon über ein Jahr. Man spielt den Ball und die Verantwortung zwischen den einzelnen Ministerien hin und her, überlegt, ob die Landesstiftung nicht irgendetwas machen könnte. Sie zögert, zaudert, und ein Jahrgang nach dem anderen kommt in die Schule, wobei ein Drittel der Kinder gar nicht kapieren, wovon im Unterricht die Rede ist.
Das Wichtigste wäre doch, schnell zu handeln und Sprachstandsdiagnosen verpflichtend für alle Kinder einzuführen. Ein Angebot, Kinder auf freiwilliger Basis an einer Sprachstandsdiagnose teilnehmen zu lassen, wie Sie es wollen, reicht bei weitem nicht. Ich sage Ihnen auch, warum: Wenn Sprachstandsdiagnosen ein freiwilliges Angebot sind, dann werden diejenigen Eltern, die aus dem Bildungsbürgertum kommen und deren Kinder ohnehin lesen, schreiben und rechnen können, sie zu dieser Sprachstandsdiagnose schicken, und diejenigen Eltern, deren Kinder eine Sprachförderung brauchen, werden wahrscheinlich darauf verzichten, weil sie die Bedeutung des Erlernens von Sprache und der Lesekompetenz nicht erkannt haben. Deswegen ist es wich
tig, diese Sprachstandsdiagnosen verpflichtend einzuführen und nicht, wie Sie es wollen, nur auf freiwilligen Wegen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Alter von 15 Jahren beherrscht laut PISA-Ergänzungsstudie fast jeder Fünfte in Baden-Württemberg die deutsche Sprache nicht in dem Maße, dass einfache Texte verstanden werden. Mindestens genauso schlimm ist, dass unsere Lehrerinnen und Lehrer oftmals nicht erkennen, welche Schülerinnen und Schüler starke Defizite beim Lesen haben. Die Diagnosefähigkeit unserer Lehrkräfte ist viel zu schlecht ausgebildet. Das haben Sie, Frau Schavan, auch schon erkannt. Zumindest haben Sie in Ihrem Bundestagswahlkampf in einem rechtzeitig veröffentlichten Buch darauf hingewiesen, dass eine Reform der Lehrerbildung überfällig ist. Auf konkrete Vorschläge Ihrerseits warten wir.
bis heute vergebens. So stellt Ihnen beispielsweise Professor Ulrich Herrmann von der Universität Ulm in Sachen Reform der Lehrerbildung folgendes Urteil aus – ich darf aus einem Vortrag, den er am 14. März, also vor noch gar nicht so langer Zeit, in der Evangelischen Akademie in Loccum gehalten hat, zitieren –:
Baden-Württemberg verkündet im Jahre 2001 mit einer neuen Studien- und Prüfungsordnung für Gymnasiallehrer den Einstieg in eine neue Lehrerbildung. Der Ansatz ist ganz löblich. Und was sind die realen Konsequenzen aus der Umsetzung? Null.
Es werden Mogelpackungen in die Welt gesetzt und so genannte Reformen inszeniert, wo es in Wirklichkeit an Geld und an Personal mangelt.
Unsere Lehrerinnen und Lehrer brauchen in der Ausbildung mehr Bezug zur Praxis. Sie müssen endlich davon abkommen, Schülerinnen und Schülern bei schlechten Noten zu sagen, dass sie an der falschen Schule sind. Sie müssen lernen, mit verschiedenen Schülerinnen und Schülern sowie deren unterschiedlichen Interessen und Begabungen umzugehen. Jetzt zitiere ich Ihnen Herrn Professor Baumert, den Sie ja so hoch verehren, aus der jüngsten PISA-Veröffentlichung:
Der Umgang mit Heterogenität scheint Lehrkräften also bereits bei einer quantitativ noch moderaten mehrsprachigen Zusammensetzung der Schülerschaft Schwierigkeiten zu bereiten.
Wir haben hier das Prinzip „Wer nicht mitkommt, muss in die andere Schule“, anstatt das Prinzip einzuführen, Kinder, die Lernschwierigkeiten haben, besser zu fördern, damit sie mehr Möglichkeiten und bessere Chancen und Bedingungen haben.
Jetzt will ich noch etwas zu Ihrem Lieblingsthema Bildungsstandards sagen. Auch hier kann man sich bei Ihren Ausführungen nur verwundert die Augen reiben. Seit Monaten tun Sie so, als seien Bildungsstandards das A und O des erfolgreichen Arbeitens bei PISA. Wir haben überhaupt nichts gegen die Einführung von Bildungsstandards, im Gegenteil. Wichtig ist, dass wir dabei nicht totes Wissen abfragen, das gerade einmal für die nächste Klassenarbeit reicht, sondern den Erwerb dauerhaften Wissens, mit dessen Hilfe junge Leute in konkreten Lebenssituationen Probleme lösen können, als Ziel setzen.
Geben Sie den Schulen doch einmal folgende Aufgabe: Die Klassenarbeit wird nicht unmittelbar nach der Behandlung des Stoffes geschrieben, sondern zehn oder zwölf Wochen später. Dann werden Sie merken, was unsere Unterrichtsarbeit wert ist und wie hier Bildung erfolgt.
Wenn Bildungsstandards zur Diagnose anstatt zu zusätzlicher Testeritis und zu weiteren Selektionen von Schülerinnen und Schülern führen,
dann, sage ich Ihnen, sind wir dabei, vor allem deswegen, weil Baden-Württemberg in Sachen Bildungsstandards den anderen Ländern weit hinterherhinkt und nicht vorneweg marschiert, wie Sie uns das immer zu suggerieren versuchen. Das ist Expertenmeinung, meine Damen und Herren.
Wenn wir über Bildungsstandards reden, dann sollte dies unweigerlich mit mehr Autonomie und Profilbildung für unsere Schulen im Land verbunden sein. Von echter Autonomie ist bei Ihnen allerdings nie die Rede. Denn wenn Sie über Bildungsstandards reden, geht die Autonomie nur so weit, wie sie Ihnen gerade in den Kram passt. Die Durchsetzung von Bildungsstandards ohne wirklich entscheidende Autonomie bedeutet aber, dass die Gängelung nur verlängert oder sogar verschärft wird.
Ich darf an dieser Stelle Herrn Professor Udo Rauin von der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd zitieren, der letzten Freitag hier im Landtag genau an dieser Stelle dem Kultusministerium und damit Ihnen, Frau Schavan, in Sachen Bildungsstandards „mangelnde Professionalität“ und „unzureichende Systematik“ vorwarf.
Sie, Frau Schavan, arbeiten nämlich an schulartspezifischen Standards und nicht an einheitlichen schulübergreifenden Standards, wie es eigentlich nach all dem, was wir aus PISA-Veröffentlichungen wissen, notwendig wäre. Die Ursache für Ihren falschen Ansatz bei den Bildungsstandards liegt in Ihrer Fehlannahme, die baden-württembergische Schulstruktur sei durch PISA bestätigt worden.
Frau Schavan, das ist mitnichten der Fall. Die Durchlässigkeit des baden-württembergischen Schulsystems, von der Sie immer in den höchsten Tönen reden
und gerade eben auch wieder vorgeschwärmt haben, funktioniert erstens fast ausnahmslos – da müssen Sie sich einmal an den Schulen erkundigen – nur von oben nach unten,
(Widerspruch des Abg. Wacker CDU – Abg. Fried- linde Gurr-Hirsch CDU: Das ist doch eine Behaup- tung! Das glaubst du doch selber nicht!)
das heißt, wer ins Gymnasium nicht hineinpasst, kommt in die Realschule, wer in der Realschule nicht mitkommt, kommt in die Hauptschule, und nur ganz selten ist der umgekehrte Weg möglich.
(Beifall bei der SPD – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Dass man so etwas behaupten kann! – Ge- genruf des Abg. Drexler SPD: Da brauchen Sie doch bloß die Zahlen anzugucken! Schauen Sie doch die Zahlen an!)
Kein Wunder, dass auch dieses baden-württembergische Schulsystem als „Fahrstuhleffekt mit Einbahnverkehr“ bezeichnet wird.
Zweitens: Ausgerechnet jener Teil unseres Schulsystems, dem wir laut Professor Baumert eine gewisse Durchlässigkeit verdanken, nämlich die beruflichen Gymnasien, wird von Ihnen sträflich vernachlässigt. Nicht nur dass Unterricht ausfällt, vielmehr haben Sie auch die Bildung weiterer Klassen faktisch gedeckelt und lassen keine weiteren Klassen zu,
Noch etwas: Wenn Sie hier das Loblied auf die beruflichen Schulen anstimmen, warum bestrafen Sie jetzt die Lehrkräfte an den beruflichen Schulen mit einer Deputatserhöhung?