Protocol of the Session on March 27, 2003

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Gutachten bescheinigen uns eine gleichmäßige Entwicklung aller Regionen unseres Landes. Das hat mit Infrastruktur zu tun, die nicht auf Konzentration, sondern auf ortsnahe Versorgung ausgerichtet ist.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ja!)

Die Schule in der kleinen Gemeinde hat für diese Gemeinde eine hohe Bedeutung.

(Beifall bei der CDU)

Sie betrifft die Kultur, die Weiterbildung, die Jugendarbeit, die Vereine. Wer in einer solchen Situation für die Mittelschule eintritt – man kann es ja einmal versuchen –, sollte auch so ehrlich sein, über die entsprechenden Konsequenzen zu reden. Er verlässt unseren Konsens in Baden-Württemberg über eine wohnortnahe Schulversorgung. Deshalb sage ich Ihnen: Die Landesregierung wird sich auch in Zukunft um diesen Konsens bemühen und bleibt bei der Überzeugung, dass eine wohnortnahe Schulversorgung nicht nur eine bildungspolitische, sondern auch eine strukturpolitische Entscheidung von hoher Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit aller Regionen in Baden-Württemberg ist.

(Beifall bei der CDU – Zuruf der Abg. Renate Ra- stätter GRÜNE)

Natürlich werden auch wir in Zeiten rückläufiger Schülerzahlen nicht jeden Schulstandort halten können. Wer aber über Strukturveränderungen Schulschließungen in größerem Umfang provoziert, verändert die Strukturen in unserem Land, und begründungspflichtig sind die, die verändern wollen, und nicht diejenigen, die an der wohnortnahen Schulversorgung festhalten werden.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr schön!)

Meine Damen und Herren, PISA stellt den Realschulen des Landes ein hervorragendes Zeugnis aus. Es ist die anerkannteste und beliebteste Schulart, die Schulart, die in unserem Land eine kontinuierliche Entwicklung genommen hat. Sie gewährleistet immer wieder die richtige Balance zwischen Fortschritt und Tradition, zwischen allgemeiner Bildung und berufsorientierten Bildungsmodulen. Neue Fächerverbünde, wichtige Hilfestellungen bei Lebensplanung und beruflicher Orientierung, Stärkung ihrer Eigenständigkeit und ihrer unmittelbaren Verantwortung vor Ort, das sind Merkmale der Realschule, das ist ein Grund dafür, dass viele Eltern, obgleich ihre Kinder eine Gymnasialempfehlung haben, den Weg über die Realschule wählen, weil diese Schulart über ein modernes, ein zukunftsfestes pädagogisches Konzept verfügt.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Der Ministerrat wird in Kürze das Konzept für die generelle Einführung des achtjährigen Gymnasiums ab dem Schuljahr 2004/05 verabschieden. Das ist Teil der Koalitionsvereinbarung und geschieht im Geleitzug mit anderen Ländern. Thüringen und Sachsen haben seit langem Erfahrungen damit, das Saarland hat bereits umgestellt, Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt werden in absehbarer Zeit folgen. Eine Verschiebung dieser Umstellung auf das Jahr 2007, wie von der SPD gefordert, lehnen wir ab.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig!)

Von einer überhasteten Reform kann überhaupt keine Rede sein, zumal wir in Baden-Württemberg bereits langjährige Erfahrungen mit entsprechenden achtjährigen gymnasialen Bildungsgängen haben. Die Reform wird seit Beginn der Legislaturperiode vorbereitet.

Der Zeitpunkt der Umstellung korrespondiert mit Bildungsstandards und der Kontingentstundentafel. Es ist ein Konzept, bei dem es nicht allein um ein Schuljahr weniger geht,

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

sondern um die Profilierung der pädagogischen Verfassung unseres Gymnasiums. Das halte ich für wichtig, und das halte ich für notwendig mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler. Es kann nicht sein, dass in Deutschland mit durchschnittlich 19,5 Jahren Abitur gemacht wird. Wir brauchen auch hier eine internationale Vergleichbarkeit. Schüler müssen überall in Deutschland die Chance haben, ab dem Zeitpunkt der Volljährigkeit ihr Abitur zu machen.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Der Ministerrat wird darüber hinaus in Kürze auch die Einrichtung eines Hochbegabtengymnasiums mit Internat in Schwäbisch Gmünd verabschieden. Das ist ein weiterer wichtiger Impuls in einem seit 1985 bestehenden sehr differenzierten Konzept der Begabtenförderung mit Arbeitsgemeinschaften, Seminaren in der unterrichtsfreien Zeit, Kooperationen von Schulen und Hochschulen bis hin zum Schülerforschungszentrum in Saulgau.

Ich sage ganz deutlich – auch das gehört zu den Leitlinien unserer Bildungspolitik –: Benachteiligtenförderung und Begabtenförderung sind keine Alternativen, sondern die zwei Seiten der einen Medaille.

(Beifall bei der CDU)

Natürlich bringt jede Veränderung für Schülerinnen und Schüler Unsicherheit. Das war übrigens bei der Einführung des Kurssystems Mitte der Siebzigerjahre nicht anders. Damals haben 30 000 Schüler auf dem Schlossplatz gegen dieses Kurssystem protestiert. Ich kann verstehen, dass Schülerinnen und Schüler verunsichert sind, ich kann aber nicht verstehen, wenn Lehrer und Eltern zu dieser Verunsicherung massiv beitragen.

(Beifall bei der CDU)

Ich halte es für ein Unding – und ich werde dem auch nachgehen –, wenn Oberstufenberater, also Mitglieder eines Lehrerkollegiums, die für die Beratung von Schülerinnen und Schülern zuständig sind, erklären, sie seien zur Beratung nicht in der Lage und die Schülerinnen und Schüler sollten sich bitte an die Ministerin wenden, die diesen Kladderadatsch eingeführt habe.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Unruhe bei der SPD)

Das ist nicht mein Verständnis von Pflichterfüllung derer, die einen Auftrag in der Schule haben.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Meine Damen und Herren, zu den Besonderheiten badenwürttembergischer Bildungspolitik gehört die Sonderpädagogik. In keinem Land in Deutschland ist ein so hoher Standard erreicht und sind damit verbundene Investitionen möglich. Für die Sonderschule gilt in besonderer Weise der pädagogische Grundsatz, dass Schulen nicht Orte der Analyse von Defiziten, sondern vielmehr Orte der Wahrnehmung von individuellen Möglichkeiten und Räume des Respekts vor Kindern und Jugendlichen in ihrer Unterschiedlichkeit sein müssen.

Der sonderpädagogische Bereich zeichnet sich in besonderer Weise dadurch aus, dass es eine Vielfalt der Lernwege gibt, eine Vielfalt der Lernorte, viele Partner, interdisziplinäre Arbeit sowie frühe und rechtzeitige sonderpädagogische Förderung. Das ist in meinen Augen das pädagogische Handlungsfeld, das für alle Pädagogen wichtig ist. Ich wünschte mir, wir könnten irgendwann erreichen, dass alle, die ein Lehramt studieren, auch Erfahrungen im Bereich der Sonderpädagogik machen können.

Meine Damen und Herren, die Sonderpädagogik in BadenWürttemberg ist so weit ausgeprägt und ausdifferenziert, dass es gelingt, die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen quer durch alle Schularten zu beschulen. Das halte ich für einen wichtigen Fortschritt. Ich sage aber angesichts der vielen Debatten, die wir in diesem Hause über Kooperation und Integration gehabt haben: Es ist wichtig, dass wir die Wege der Kooperation und die sonderpädagogische Forschung weiterentwickeln, weil das die Voraussetzung für Integration ist. Beides gehört zur Sonderpädagogik. Sonderpädagogische Forschung und Formen der Kooperation befördern Integration, aber behindern sie nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Meine Damen und Herren, alle diese Reformschritte zusammengenommen bedeuten die tiefstgreifende Bildungsreform in Baden-Württemberg seit Jahrzehnten. Größere Selbstständigkeit der einzelnen Schule vor Ort und die damit verbundene Stärkung von Verantwortung sind dabei ebenso bedeutsam wie die Weiterentwicklung von Vergleichbarkeit und Standardsicherung als anerkannte Qualitätsfaktoren. Beides sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Wir konzentrieren uns auf beides; das sind die beiden großen Punkte – wie in einer Ellipse – unseres Reformprojekts. Neben der Verantwortung für individuelle Schulentwicklung unmittelbar vor Ort mit entsprechenden pädagogischen Freiräumen ist ein ganz wichtiger Punkt, dass es immer mehr schulscharfe Lehrereinstellungen gibt. Ich wünschte mir, wir würden irgendwann dazu kommen, die Mehrzahl der Stellen schulscharf und unmittelbar vor Ort besetzen zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP – Abg. Wacker CDU: Sehr gut!)

Bildungsstandards, Kontingentstundentafeln: Das alles schafft neue pädagogische Spielräume. Neue pädagogische Spielräume – auch das sagen uns alle internationalen Untersuchungen – führen nur dann zum Ziel, wenn sie mit Maßnahmen der Standardsicherung verbunden sind. Und sie führen nur dann zum Ziel, meine Damen und Herren, wenn sie mit einer Stärkung von Erziehung verbunden sind.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ja!)

Erziehung ist eine der großen Kulturleistungen einer Gesellschaft. Erziehung gehört wesentlich zu dem, was eine Gesellschaft trägt, prägt und zusammenhält. Erziehung ist Teil des Generationenvertrags, und deshalb gehört zu der großen Bildungsreform, in der wir stehen: viel zu tun, um Erziehung als eine große Kulturleistung in dieser Gesellschaft zu stärken, und nichts zu tun, was das Auseinander

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

fallen des Generationenvertrags in diesem Bereich befördert.

(Beifall bei der CDU)

Dazu gehört dann auch – das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt; Hartmut von Hentig hat uns schon vor vielen Jahren darauf aufmerksam gemacht –: Wir müssen dafür sorgen, dass wir unser ganzheitliches Verständnis von Bildung wirklich ernst nehmen. Wir dürfen Jugendliche nicht nur kenntnisreich und erfahrungsarm, mit viel Wissen, aber wenig Orientierung aus der Schule entlassen, sondern wir müssen uns in allem, was wir jetzt bei den Bildungsstandards tun, immer wieder vor Augen führen: Entscheidend ist, dass sie Orientierung erfahren, dass sie verlässliche Gemeinschaftsstrukturen erfahren,

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ja!)

dass sie bindungsfähig werden, dass Kenntnis und Erfahrung, Einsicht und Orientierung zusammenkommen. Erst dann haben wir den Anspruch von wirklich stabiler und persönlichkeitsstärkender Bildung erreicht.

Für mich gehört dazu ganz wesentlich all das, was wir im Bereich der Schülermentoren getan haben – in Zusammenarbeit mit vielen Vereinen und Verbänden und in Zusammenarbeit mit der Jugendbildung. Hier sind wichtige Akzente gesetzt, die dazu beitragen sollen, dass Kinder und Jugendliche ernst genommen werden. Kinder und Jugendliche brauchen nicht immer mehr pädagogische Betreuung; sie brauchen Räume, in denen sie Verantwortung einüben können.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

Tragende Säule einer großen Bildungsreform ist natürlich die Förderung der pädagogischen Professionalität unserer Lehrkräfte. Das betrifft Lehrerbildung wie Lehrerfortbildung, das betrifft die Unterstützungssysteme für Evaluation.

Im Netzwerk der pädagogischen Unterstützungssysteme wird künftig das Landesinstitut für Erziehung und Unterricht die Rolle eines Kompetenzzentrums wahrnehmen. Künftige Evaluationsteams stehen in engem Zusammenhang mit diesem Landesinstitut. Die Weiterentwicklung der Schulverwaltung ist wesentlich geprägt von diesen neuen Aufgaben der Evaluation.

Meine Damen und Herren, im Blick auf die gestrige Diskussion sage ich: Ob diese Aufgaben in dieser oder jener Organisationsform wahrgenommen werden, ist für die Aufgabenstellung völlig egal. Wer immer also gestern geschrieben oder gesagt hat, das Konzept des Kultusministeriums zur Weiterentwicklung der Schulverwaltung sei damit ad acta gelegt, der irrt. Das Konzept der Aufgaben- und Funktionsbestimmung – diese gehört zur Organisationsentwicklung – steht und wird durchgeführt. Die Vorbereitungen dafür sind getroffen. Das ist ein wichtiger Teil der Umsteuerung unseres Bildungswesens.

Meine Damen und Herren, zwei Drittel aller Fortbildung der Lehrkräfte geschieht in der unterrichtsfreien Zeit. Auch das sage ich angesichts mancher Briefe, die ich bekomme.

Wir sollten auch einmal positiv wahrnehmen, dass in den letzten Jahren ungewöhnlich viele Aktivitäten in der unterrichtsfreien Zeit stattfinden und unsere großen Lehrerfortbildungsakademien jetzt eigentlich die Zentren für Multiplikatorenschulung sind. Im Übrigen erfolgt Lehrerfortbildung immer stärker in unseren Schulen. Auch das ist ein wichtiger Schritt zur Selbstständigkeit der Schule.

Baden-Württemberg ist das einzige Bundesland, das die Pädagogischen Hochschulen beibehalten hat.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ja!)