Protocol of the Session on November 13, 2002

Ich wäre dankbar, wenn sich der DGB mit genau dem gleichen Eifer den Tarifverträgen seiner Einzelgewerkschaften zuwenden würde,

(Zuruf des Abg. Fischer SPD)

den er für den öffentlichen Dienst bei dessen ohnehin privilegierter Situation an den Tag legt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Lassen Sie mich einige Sätze zu unserem ureigensten Bereich der Politik sagen.

(Unruhe)

Sicher, der Frauenanteil

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, Frau Dr. Gräß- le!)

hat allen Schwierigkeiten zum Trotz auch in diesem Parlament kontinuierlich zugenommen; darauf sind wir stolz. Er hat auch in den Gemeinderäten und in den Kreistagen unseres Landes zugenommen.

(Zuruf von der SPD: Und auf der Regierungsbank?)

Er wäre noch höher, wenn wir alle, die wir politischen Parteien angehören, die im Grundgesetz festgelegten Aufgaben der Parteien ernster nehmen würden, nämlich die Willensbildung und die Teilhabe zu organisieren, vor allem in jenen 72 Gemeinden, die alle in unseren Wahlkreisen liegen, in denen Frauen bislang noch überhaupt nicht im Gemeinderat vertreten sind.

(Unruhe)

Wer hier von Volkswillen spricht, hat eine merkwürdige Sicht des Wählerwillens. Ich habe heute Morgen eine Kleine Anfrage eingereicht, in der nach diesen Gemeinden und den dazugehörigen Wahlkreisen gefragt wird. Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, können es vor Ort richten ohne ein einziges neues Gesetz und ohne die Festschreibung kommunaler Frauenbeauftragter im Gleichberechtigungsgesetz.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Worum geht es uns eigentlich bei der Frauenpolitik? Bei unserer gestrigen Anhörung sagte Frau Professor Baer in ihrem Einführungsreferat: „Sie müssen klären, was Gleichstellung überhaupt ist.“ Und sie sagte noch dazu – und dafür war ich ihr sehr dankbar –: „Das ist gar nicht so einfach. Das klingt alles banal, aber genau das ist des Pudels Kern.“ Geht es für uns darum, einer bereits gut ausgebildeten Schicht von Frauen, die oft genug für sich die Notwendigkeit eines Gleichstellungsgesetzes bestreiten, durch bessere Karrierechancen noch mehr Einkommen zu verschaffen? Oder geht es darum, sich für Berufstätigkeit von Frauen einzusetzen, sei es unter dem Stichwort der Selbstverwirkli

chung oder aus materiellen Gründen, damit diese Frauen oft genug morgens mit den Kindern in Kindergarten und Schule hetzen können, um nach einem anstrengenden Arbeitstag abgekämpft und oft genug mit schlechtem Gewissen – man muss es sagen – für ihre Kinder da sein zu können mit der Folge, dass ihnen der Staat das häufig geringe Einkommen mit immer höheren Steuern und Abgaben belegt und dass sich spätestens mit der Heizkostenabrechnung das Zusatzeinkommen in nichts auflöst?

Die Frauen wollen nicht der Hamster im Laufrad sein: immer in Bewegung und doch nicht von der Stelle kommen. Der Sisyphus der modernen Gesellschaft, das ist nicht unser Frauenbild, das ist nicht unsere Vorstellung von Lebenschancen für Frauen.

(Beifall bei der CDU)

Das, was wir alle miteinander in diesen 50 Jahren gelernt haben, ist, dass es nicht genügt, nur einen Bereich, nämlich die Erwerbsarbeit für Frauen, als den Ort der Gleichstellung zu sehen. Unsere Zukunftsaufgabe besteht darin, den pluralistischen Lebenskonzepten Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit zu verschaffen.

Was heißt das? Das bedeutet für uns den Auftrag, wirklich Wahlfreiheit zu schaffen und Selbstbestimmung zu ermöglichen, wer wie berufstätig ist und sein soll. Das Stichwort Familiengeldmodelle ist ein wichtiges Stichwort. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nur mit Familiengeldmodellen, wie auch immer sie aussehen, das Verfassungsgebot besser umsetzen können. Daneben brauchen wir auch jede Menge Mischformen, Mischformen für mehr Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Eine Repräsentativbefragung des Allensbach-Instituts im Landkreis Karlsruhe vom März dieses Jahres zeigt, dass 81 % der Eltern eine zusätzliche finanzielle Unterstützung wollen. Nur 12 % wollen mehr Betreuungsmöglichkeiten. Ich meine, man darf die 12 % nicht ignorieren, aber die 81 %, die überwältigende Mehrheit, erst recht nicht.

In diesem Zusammenhang muss uns alarmieren, wie schwer es Frauen gemacht wird, die sich ihrer Familie gewidmet haben, wieder in den Beruf einzusteigen. Bei den 20-, 30-jährigen Frauen in unserem Land liegt die Arbeitslosenquote unter der von Männern, bei Frauen über 45 aber darüber. Das zeigt, dass die häufig zum Ausdruck gebrachte Lobeshymne auf die Familienarbeit ein Lippenbekenntnis oder eine Sonntagsrede bleibt.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Da kennen Sie sich ja aus!)

Auch in der Einstellungspraxis des öffentlichen Dienstes sehe ich einen großen Auftrag für uns, bei der Novellierung des Landesgleichberechtigungsgesetzes eine Veränderung in diesem Punkt und einen Fortschritt zu erreichen.

63 % der Frauen in Baden-Württemberg sind berufstätig, hauptsächlich in Teilzeit. Das ist eine im deutschen Vergleich hohe Zahl und macht eine Aussage über die guten Chancen, die Frauen und Männer am Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg haben. Darauf können wir stolz sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Wir können auch stolz sein auf unser jetziges Kindergartengesetz,

(Abg. Walter GRÜNE: Na ja!)

weil es die Berufstätigkeit der Frauen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie beträchtlich erleichtert und zu einem Quantensprung in Sachen Betreuung geführt hat. Die bevorstehende Kommunalisierung des Kindergartenwesens muss dazu führen, dass vor Ort Betreuung weiter ausgeweitet wird. Die Kommunen wollten diese Zuständigkeit erhalten. Sie werden sie bekommen, und jetzt sind sie auch in der Pflicht, den Frauen und Familien das Leben wirklich leichter zu machen: mit einer gesicherten Vormittagsbetreuung bis 14 Uhr, weniger Schließtagen in den Ferien, einer Aufstockung des Ganztagsangebots und der Aufnahme von unter Dreijährigen. Das sind unsere Forderungen, und wir gehen davon aus, dass die Kommunen dies auch so umsetzen. Jeder von uns ist in seinem Wahlkreis aufgefordert, vor Ort das Angebot dort zu stärken, wo es gestärkt werden muss.

Ich bin mir sicher: Jedes neue Angebot schafft neue Nachfrage. Ich bin mir auch sicher, dass wir alle wissen, was das heißt. Ich bin mir aber auch ganz sicher, dass an diesem Weg nichts, aber auch gar nichts vorbeiführt. Andernfalls brauchen wir in der Zukunft über Gleichstellung gar nicht mehr zu diskutieren.

Wir wollen, dass die Frauen und Männer in Baden-Württemberg ihr Leben so selbstverantwortlich und selbstbestimmt gestalten können, wie sie es wollen. Dabei geht es uns nicht um die „Lufthoheit über den Kinderbetten“. Dieses Zitat des SPD-Generalsekretärs wird ihm und seiner Partei noch lange anhängen. Denn es zeigt, dass Kinder politisch missbraucht werden und das Thema Betreuung diskreditiert wird. Das lassen sich die Frauen und auch die Männer nicht gefallen.

(Beifall bei der CDU)

Selbstverantwortung zu ermöglichen und die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, das ist unsere Linie. Wir ersetzen nicht das frühere Leitbild, wonach die Frau in der Regel auf eine Erwerbstätigkeit außer Haus verzichtet, ausschließlich durch das neue Leitbild, wonach in einer Familie grundsätzlich beide Elternteile ganztägig außer Haus berufstätig sind und Kinder vom ersten Lebensjahr an in Krippen, Horten, Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen groß werden. Wenn Familie nicht als Abend- und Wochenendveranstaltung zurückbleiben soll, müssen wir in der Politik einer weiteren Ökonomisierung menschlicher Beziehungen entgegentreten. Wir müssen Räume schaffen für Begegnung und für Erziehung. Denn Kinder lernen zuallererst vom Vorbild ihrer Eltern. Sie sind und bleiben die wichtigsten Bezugspersonen für ihre Kinder.

(Beifall bei der CDU)

Ich glaube, dass wir die Frauenpolitik neu entdecken müssen,

(Zurufe von der SPD, u. a. Abg. Ruth Wecken- mann: Nicht nur entdecken!)

und zwar entlang des Themas Berufstätigkeit, aber auch entlang der Themen, die für Frauen ganz besonders wichtig sind.

Hierbei möchte ich vor allem ein Thema ansprechen, bei dem es um viel Geld und um Weichenstellungen geht, nämlich das Thema Gesundheitspolitik.

Wir notieren zwei typische Frauenkrankheiten: Osteoporose und Brustkrebs. Bei beiden Krankheiten ist die Früherkennung weit unterentwickelt. Jede zehnte Frau erkrankt an Osteoporose, auch jede zehnte Frau bekommt Brustkrebs. Vor einigen Jahren war es erst jede 25. Frau. Trotz der alarmierenden Zahlen, trotz des alarmierenden Trends gibt es aus Geldmangel keinen Früherkennungsplan, keine wirkliche Gesundheitsvorsorge.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Das stimmt über- haupt nicht!)

Frau Haußmann, das stimmt. Auch der Modellversuch, den die verzweifelte Frau Schmidt angeleiert hat, wird darüber nicht hinwegtäuschen können.

Leider hat daran, dass es all diese Dinge nicht gibt, bislang auch noch nie die Tatsache etwas geändert, dass das Gesundheitsressort in der Regel von Frauen geführt wurde. Wenn ich demgegenüber vergleiche, wie viele Millionen wir beispielsweise in die Kontrolle von Schlachttieren investieren – aus berechtigter Sorge vor BSE –, bei Erkrankungszahlen unterhalb des Promillebereichs, dann meine ich, dass Prioritäten auch anders gesetzt werden könnten und sicher auch müssten.

Lassen Sie mich noch ein Beispiel dafür nennen, wo Frauenpolitik aktiv werden muss. Das ehrenamtliche Engagement von Frauen ist eine einzige Erfolgsgeschichte für BadenWürttemberg und der soziale Kitt unserer Gesellschaft. Im sozialen, kirchlichen und erzieherischen Bereich leisten Frauen zwei Drittel der ehrenamtlichen Arbeit, im Bereich Kultur, Musik und Freizeit ist es ein gutes Drittel.

Wenn wir diese Zahlen mit der offiziellen Anerkennung durch das Gemeinwesen, nämlich den Ehrungen, vergleichen, so ist festzustellen, dass Frauen bei den Verdienstmedaillen des Landes nur zu rund 20 % bedacht werden. Bei der Ehrennadel des Landes ist der Anteil der Frauen noch geringer. Frauenpolitik muss hier doch bedeuten, die Kriterien so zu verändern, dass es möglich ist, nicht nur die Arbeit der gewählten und in der Regel männlichen Vorstandsmitglieder, nicht nur Funktionärsaufgaben zu bedenken, sondern auch sehr konkretes, verdienstvolles Engagement.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Schmie- del SPD: Macht es doch! An wen geht denn die Forderung? – Abg. Teßmer SPD: Fangt doch einmal an!)

Es gibt viele Themen, die zunächst ganz harmlos erscheinen, bei denen wir mit kleinen Veränderungen große Zeichen in Sachen Gleichstellung erreichen können. Dem gilt unser Augenmerk genauso.

Wir haben die Ziele und Maßnahmen unserer Frauenpolitik in einem gemeinsamen Antrag mit der FDP/DVP gebündelt. Entlang diesen sieben Punkten an der Schnittstelle zwischen Frauenpolitik, Familienpolitik und Erwerbsarbeit wird sich unsere Politik in den kommenden Jahren bewegen müssen. Damit werden wir das Gleichstellungsgebot der Lan

desverfassung und des Grundgesetzes mit Leben füllen. Andernfalls wird es so kommen, wie Frau Vizepräsidentin Vossschulte gestern unter Anführung eines Zitats von Erich Kästner gesagt hat: „Sonst können Sie sich die Verfassung in den Rauchfang hängen.“

Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der CDU – Beifall bei Abge- ordneten der FDP/DVP)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Wonnay.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, meine sehr geehrten Damen, meine sehr geehrten Herren! Bei Ihrer Rede, Frau Kollegin Gräßle, habe ich mich phasenweise schon gefragt, ob ich wirklich die Rede einer Kollegin aus einer Regierungsfraktion höre.