Protocol of the Session on October 16, 2002

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich halte nichts von Schwarzmalerei, ich halte aber auch nichts von Gesundbeterei. Sich hier hinzustellen und zu sagen, Baden-Württemberg sei im Bereich der Kinderbetreuung Spitze,

(Demonstrativer Beifall bei der CDU – Abg. Hauk CDU: So ist es aber!)

dann aber nur den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zu nennen, das ist leider nicht richtig. Ich finde, bei

diesem Thema muss man einfach ehrlich sein, und da geht es um die Sache und nicht um Parteipolitik.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU)

Wir sind uns einig: Baden-Württemberg ist zwar bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs gut, aber nach wie vor schlecht im Bereich der Betreuung für Kinder bis zum Alter von drei Jahren, im Bereich der Ganztagsbetreuung und was die Sprachförderung für Kinder anbelangt. Das haben Sie vorhin selbst gesagt. Da besteht inhaltlicher Konsens, da gibt es Einigkeit. Seit der Diskussion um PISA sind sich alle einig, dass man dem Kindergarten zukünftig mehr Beachtung schenken soll, dass Bildung im Kindergarten anfängt und dass Sprachförderung natürlich auch etwas mit Bildung zu tun hat.

Aber es ist ein Unterschied, ob man das immer bloß in Sonntagsreden oder in Plenarreden betont oder ob man bereit ist, das tatsächlich umzusetzen. Da sehe ich bei der Landesregierung ein großes Glaubwürdigkeitsdefizit; denn außer in Sonntagsreden und in Plenarreden spüre ich davon bisher nichts.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie uns einmal die Situation im Kindergarten anschauen. Wie sieht sie denn aus? Dort gibt es viele Kinder mit Migrationshintergrund, die kein Deutsch können, und viele Kinder, die kein Deutsch und nicht einmal ihre Muttersprache können. Es gibt dort auch viele deutsche Kinder mit Sprachverzögerungen, und viele der Eltern, vor allem der Mütter, können ebenfalls kein Deutsch.

Was heißt das jetzt? Das heißt für mich, dass die Themen „Sprachförderung im Kindergarten“ und „Verbesserung der Integration für Kinder mit Migrationshintergrund“, die den zwei Anträgen, die wir heute beraten, zugrunde liegen, nicht auf das Thema „Sprachstandsdiagnose für Fünfjährige“ reduziert werden können. Das greift viel zu kurz.

Aber genauso kurz greifen die existierenden Förderprogramme der Landesregierung, mit denen die Sprachförderung nur durch ehrenamtliche Fachkräfte unterstützt wird, wie wir es auch in der Stellungnahme der Landesregierung zum Antrag der FDP/DVP lesen konnten.

Bereits bei der Aufnahme in den Kindergarten, also nicht erst mit fünf, sondern bereits mit drei Jahren, muss der Sprachentwicklungsstand eines Kindes im Kindergarten erfasst werden, dann muss geschaut werden, woran es fehlt, und dann müssen die nötigen Schritte eingeleitet werden. Isolierte Sprachkurse für Kinder, wie sie in den Förderprogrammen des Landes vorgesehen sind, sind dabei nicht immer sinnvoll. Die können schon sinnvoll sein, aber Sinn macht vor allem eine kontinuierliche Sprachförderung, die integrativer Bestandteil der Einrichtung ist und die auch in das pädagogische Konzept der Kindertageseinrichtungen eingebettet ist.

Nach Angaben der Landesregierung stehen insgesamt 4,1 Millionen € für die außerschulischen Hausaufgaben-, Sprach- und Lernhilfen zur Verfügung, wovon ein Drittel in

den Bereich der Kinderbetreuung geht. Das sind umgerechnet zwischen 1,2 und 1,3 Millionen €. Aber diese Gelder fließen nur in die Kommunen, die das Konzept der ehrenamtlichen Sprachförderung haben, also das so genannte Denkendorfer Modell.

Wenn Sie einmal mit den Einrichtungen oder den Trägern vor Ort Gespräche führen, dann erfahren Sie: In allen Kommunen gibt es wirklich tolle Konzepte zur Sprachförderung, aber die meisten der Kommunen bekommen kein Geld, weil sie andere pädagogische Konzepte haben. Deshalb reicht das Geld hinten und vorn nicht aus.

Ich finde, es geht nicht darum, die Sprachförderung mit Einzeltöpfchen zu bedienen, sondern wir wollen weg von diesen Einzeltöpfen und wollen, dass die Sprachförderung ein Bestandteil der Kindergartenfinanzierung wird. Das heißt, dass die Sprachförderung in das neue Kindergartengesetz hineingehört, und zwar nicht über ein Einzeltöpfchen, über diese außerschulischen Hausaufgabenhilfen.

(Beifall bei den Grünen)

Damit sind wir bei der Kindergartenfinanzierung und somit auch bei der Novellierung des Kindergartengesetzes. Da herrscht großes Chaos, es herrscht große Verunsicherung, es gibt eine – –

(Unruhe – Abg. Wieser CDU: Sagen Sie das doch mal genau! Mich würde jetzt mal interessieren, wo das Chaos ist!)

Herr Wieser, gehen Sie einmal in einen Kindergarten – vielleicht zum ersten Mal seit 40 Jahren –, und sprechen Sie einmal mit Erzieherinnen.

(Unruhe bei der CDU – Abg. Wieser CDU: Was sa- gen die?)

Sprechen Sie einmal mit den Trägern! Die sagen Ihnen nämlich Folgendes:

(Abg. Wieser CDU: Was sagen die?)

Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Parallel dazu haben wir eine Diskussion um die Kommunalisierung. Wir haben einen Gesetzentwurf, zu dem nach Ablauf der sechswöchigen Auslegungsfrist die Stellungnahmen der Träger vorliegen. Jetzt gibt es zwei Arbeitsgruppen für Kommunalisierung, die bis Ende Oktober tagen sollen. Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppen kommen dann in den Kindergartengesetzentwurf, und der muss wieder ausgelegt werden.

Daher frage ich Sie: Glauben Sie tatsächlich, dass wir zum 1. Januar 2003 ein neues Kindergartengesetz haben werden? Das glaubt außer Ihnen doch kein Mensch.

Deswegen sage ich Ihnen: So kann man mit den Trägern nicht umgehen! Denn die Träger, die Kommunen müssen jetzt ihre Haushaltspläne machen, wissen aber nicht, wie viel Geld sie einstellen sollen. Es geht nicht um pro oder kontra Kommunalisierung, sondern es geht um die Verfahrensweise, wie das Land Baden-Württemberg mit seinen Kommunen und Kindergartenträgern umgeht. Das, was Sie

tun, ist nicht richtig; das ist ein totaler Schlingerkurs. Keiner weiß im Endeffekt, was jetzt passiert.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Das Dritte: Thema Sprachförderung oder Kinder mit Migrationshintergrund. Frau Kollegin Haußmann hat vorhin schon gesagt: Das Einzige, was im neuen Gesetzentwurf dazu vorkommt, ist die Aussage: Wir setzen eine interministerielle Arbeitsgruppe ein, die sich dann überlegen soll, wie eine gute Sprachförderung aussieht. Das ist auch ein Armutszeugnis. Denn wie eine gute Sprachförderung aussieht – die Modelle, die Konzepte –, ist seit Jahren bekannt, und die Konzepte liegen auch auf dem Tisch. Deshalb darf man da nicht abwarten und das aussitzen, sondern muss relativ schnell mit seinen Vorschlägen kommen, wie eine gute Sprachförderung aussehen soll.

Ich sage Ihnen: Die Voraussetzungen für eine gute Sprachförderung sind eigentlich ganz einfach: Das sind verbesserte Rahmenbedingungen im Kindergarten, verbesserte Rahmenbedingungen für die Erzieherinnen und für die Kinder. Das heißt: kleinere Gruppen und ein besserer Personalschlüssel. Denn dann können viele Probleme im Bereich der Sprachförderung von den Erzieherinnen im ganz normalen Kindergartenalltag aufgefangen werden. Das ist nämlich die Voraussetzung für eine gute Sprachförderung – und nicht irgendwelche Extrakurse, für die es bei der Landesregierung irgendwelche „Extratöpfle“ gibt.

Für diese verbesserten Rahmenbedingungen brauchen wir natürlich auch engagierte Erzieherinnen. Das heißt, wir brauchen eine Fort- und Weiterbildungsoffensive für die Erzieherinnen. Baden-Württemberg ist das einzige Bundesland, das keinen Euro für die Fort- und Weiterbildung der Erzieherinnen zahlt. Sie wissen, dass die Erzieherinnen wirklich nicht viel verdienen. Und dann wird noch erwartet, dass die Erzieherinnen ihre Fort- und Weiterbildungen in ihrer Freizeit absolvieren und diese Maßnahmen auch noch selbst bezahlen. Das kann nicht sein! Wir brauchen eine Fort- und Weiterbildungsoffensive im interkulturellen Bereich, an der sich das Land Baden-Württemberg finanziell beteiligt.

(Beifall bei den Grünen – Abg. Dr. Birk CDU hält ei- nen Wecker hoch. – Abg. Dr. Birk CDU: Kollegin Lösch!)

Zum Dritten brauchen wir eine Reform der Erzieherinnenausbildung. Seit dem Jahr 2000 liegt die auf Eis. Die Kultusministerkonferenz hat eine verbesserte Erzieherinnenausbildung beschlossen. Hier in Baden-Württemberg tut sich aber gar nichts. Auch da wird wieder nur ausgesessen und gewartet.

(Unruhe)

Meine Damen und Herren, wir haben einen Rückgang der Zahl der jungen Menschen, die bereit sind, den Erzieherinnenberuf zu ergreifen. Wir steuern einem Fachkräftemangel entgegen und werden einen Erzieherinnennotstand bekommen. Deshalb brauchen wir dringend eine Reform der Erzieherinnenausbildung, um einen besseren Abschluss und auch bessere Fortbildungsmöglichkeiten zu erreichen.

Wir brauchen ferner eine Imagekampagne im Bereich der Erzieherinnenausbildung, vor allem auch für junge Menschen mit Migrationshintergrund, also ausländische junge Frauen und Männer, die in diesem Bereich gute Berufsaussichten hätten.

(Unruhe)

Das heißt: Wir brauchen nicht nur spezielle Angebote für Sprachförderung, die natürlich auch vom Land Baden-Württemberg mitfinanziert werden müssen, sondern viel wichtiger ist: Wir brauchen gescheite Rahmenbedingungen, damit die Kindertageseinrichtungen ihrem Bildungsauftrag tatsächlich nachkommen können. Ich fordere die Landesregierung auf, den Trägern und den Kommunen, den freien Trägern und den Erzieherinnen endlich reinen Wein einzuschenken, wann das Kindergartengesetz novelliert wird, wie die Kommunalisierung aussehen soll und wann das neue Gesetz in Kraft treten soll.

(Beifall bei den Grünen)

Meine Damen und Herren, im Moment liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. – Das Wort erteile ich Frau Ministerin Dr. Schavan.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Lassen Sie mich erstens einige wenige grundsätzliche Bemerkungen zum Thema Sprachförderung machen, auch im Zusammenhang mit den internationalen Vergleichsstudien, und zweitens zum Konzept der Sprachförderung in Baden-Württemberg einige konkrete Punkte, Eckdaten und Details vortragen.

Ich denke, es ist in diesem Haus kein Streitpunkt, sondern Konsens – nicht schon seit langer Zeit, aber spätestens seit dem Vorliegen internationaler Studien –, dass Sprache der Schlüssel zur Integration und ein Schlüssel für faire Chancen vor allem für ausländische Kinder in unseren Schulen ist.

Zweitens: Sprache ist ein Schlüssel für Bildung. Wenn nach der PISA-Studie dafür plädiert wird, dass es in Deutschland eine Wiederentdeckung von Bildung geben müsse, dann heißt das deswegen zugleich: Wiederentdeckung von Sprache.

(Beifall bei der CDU)

Drittens: Nicht erst seit PISA, sondern seit Mitte der Neunzigerjahre wissen wir, dass es in Deutschland im Umgang erwachsener Menschen mit Kindern ausgeprägte Sprachlosigkeit gibt und dass alles, was in der PISA-Studie und in vorangegangenen Studien beschrieben wird, einen ganz wesentlichen Grund in der zurückgehenden Souveränität im Umgang mit Sprache hat. Das ist ein zentrales bildungspolitisches Thema; darüber muss überhaupt kein Mensch streiten, und darüber streitet auch niemand in Deutschland.

Die Frage lautet jetzt ganz schlicht – und damit komme ich zum Konzept –: Wie erreichen wir konkrete Sprachförderung frühzeitig, flächendeckend, nicht beschränkt auf ausländische Kinder, sondern so, dass alle, bei denen entsprechende Defizite festgestellt werden, eine wirkliche Chance

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

zur Förderung ihrer Sprachentwicklung bekommen, bevor sie in die Schule kommen?

(Beifall des Abg. Fleischer CDU)

Das heißt, wir stehen gerade in einer ganz konkreten Phase, in der mit Emphase vorgetragene Leidenschaft überhaupt nichts nützt, sondern in der die Frage lautet: Welches Land in Deutschland schafft denn eine wirklich flächendeckende Sprachförderung? Wo schaffen wir es denn, dass allen Eltern die Möglichkeit angeboten wird, mindestens ein Jahr vor dem potenziellen Schulbeginn ihrer Kinder den Stand der Sprachentwicklung testen zu lassen? Da sage ich Ihnen: Ich bin sehr zuversichtlich – aus dem, was ich aus anderen Ländern weiß und kenne –, dass wir auch in dieser Frage nicht nur sehr rasch zu Ergebnissen kommen, sondern auch zu Ergebnissen, mit denen wir uns sehen lassen können.