Protocol of the Session on July 17, 2002

Herr Abg. Zeller, Sie erhalten das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute Vormittag haben wir über die Konsequenzen, die wir aus PISA zu ziehen haben, eine sehr intensive Debatte geführt. Unter anderem hat die CDU, hat Herr Oettinger davon gesprochen, dass mehr Betreuung stattfinden solle. Mehr Betreuung ist allerdings qualitativ etwas anderes als das, was wir mit Ganztagsschulen meinen.

Interessant ist nun Folgendes ich weiß nicht, ob Sie das bereits mitbekommen haben : Die kommunalen Landesverbände haben sich mit dem Land bezüglich der Kindergartenbetreuung geeinigt. Da geht es ja um Betreuung. Ich muss feststellen, dass wir über dieses Ergebnis sehr enttäuscht sind. Es ist ein fauler Kompromiss, der auf dem Rücken von Eltern und Kindern ausgetragen wird. Dabei sind wir nicht generell gegen eine „Kommunalisierung“ der Verantwortung für die Kindergärten und sprechen uns auch nicht dagegen aus, die Zuständigkeiten für die Kindergärten auf die Kommunen zu übertragen. Aber die jetzi

ge Regelung bedeutet, meine Damen und Herren, dass sich das Land jeglicher finanziellen Verantwortung völlig entzieht und damit seinem Bildungsauftrag für die Kindergärten nicht mehr gerecht wird.

(Beifall bei der SPD)

Der Höhepunkt ist, dass sich das Land sogar verpflichten will, per Gesetz bei den Eltern abzukassieren. Ich will Ihnen einmal vorlesen, was in dieser Vereinbarung steht:

Das Land teilt die Auffassung der kommunalen Landesverbände, dass wegen der sehr hohen Aufwendungen der Kommunen für die Kinderbetreuung bis zum dritten Lebensjahr bzw. vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr eine Mitfinanzierung durch die Elternbeiträge unumgänglich ist.

(Zuruf der Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP)

Die Landesregierung ist bereit, in einem Gesetzentwurf festzuhalten, dass ein angemessener und familiengerechter Elternbeitrag für die Kindergärten und die Betreuungsangebote erhoben werden muss.

Meine Damen und Herren, wenn das Ihre Vorstellung von Kinderbetreuung und Arbeit mit Kindern ist, dann liegen Sie wirklich daneben. Sie verlagern die Kosten eindeutig auf die Eltern und auf die Kommunen. Das verstehen wir nicht unter einer bildungspolitisch verantwortungsbewussten Betreuungs- und Bildungsarbeit.

(Beifall bei der SPD)

Ähnlich ist es im Bereich der Ganztagsschulen. BadenWürttemberg befindet sich, was die Ganztagsschulen angeht, im hinteren Tabellenteil, wo Sie doch sonst immer so Spitze sein wollen.

Es ist ja manchmal ganz gut, wenn man Sie abfragt. Dann können Sie nicht umhin, Antworten zu geben, und können Ihre Zahlen nicht mehr uminterpretieren. Wir haben Sie in unserem Antrag gefragt, wie viele allgemein bildende Ganztagsschulen es in Baden-Württemberg gibt. Da mussten Sie einräumen, dass es 122 sind. Inzwischen sind ein paar dazugekommen das räume ich ein , aber diese 122 oder ein paar mehr von insgesamt 4 500 allgemein bildenden Schulen sind nicht einmal der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Verheerendes Bild!)

Deswegen sagen wir Ihnen: Wir brauchen in Baden-Württemberg einen deutlichen Ausbau von Ganztagsschulen. Wir brauchen dieses Angebot nicht nur an den so genannten Brennpunktschulen oder Brennpunkthauptschulen, sondern wir brauchen dieses Angebot flächendeckend und für alle Schularten.

(Beifall bei der SPD)

Dazu gibt es ja das will ich nur noch einmal feststellen immer unterschiedliche Aussagen vonseiten der CDU. Zum einen ist es ja auch interessant daran will ich auch noch erinnern, Herr Kollege Rau, weil Sie nachher für die Re

gierung sprechen : Sie waren als bildungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion Mitglied der Kinder-Enquetekommission. Sie haben damals die Forderung mit unterschrieben, dass wir in Baden-Württemberg einen flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen brauchen.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Alles verdrängt!)

Heute distanzieren Sie sich davon. Sie müssen einmal erklären, warum die Kommissionsarbeit offensichtlich zu diesem Ergebnis kam und Sie heute aufgrund Ihrer Regierungstätigkeit zu einem anderen Ergebnis kommen.

Ich will ein Zweites feststellen: Herr Oettinger sagt, dass wir mittelfristig einen flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen brauchen. Gleichzeitig ist die Regierung anderer Meinung und betont nach wie vor, dass man nur so genannte Brennpunktschulen zu Ganztagsschulen umwandeln solle. Ich sage Ihnen: Sie haben noch nicht kapiert, was hier bildungspolitisch dringend notwendig ist. Deswegen rate ich Ihnen in Anlehnung an das, was ich heute Morgen sagte, einmal hinzuschauen, was andere Länder mit wesentlich besseren Ergebnissen machen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Ich will noch ein Beispiel nennen. Natürlich müssen Sie sich jetzt ein Stück weit dem öffentlichen Druck, mit dem mehr Ganztagsschulen gefordert werden, aussetzen. Die Mehrheit der Eltern will Ganztagsschulen. Die Wirtschaft möchte ein flächendeckendes Angebot von 20 % haben. Sie können gar nicht umhin, doch gewisse Zusagen zu machen.

Dann passiert Folgendes: Sie widmen Schulen zu Ganztagsschulen um. Das ist aber vielfach eine Mogelpackung. Ich will Ihnen das an einem Beispiel erklären: Eine Ganztagsschule in meinem Wahlkreis, die jetzt diesen Status bekommen hat, erhielt pro Klasse drei zusätzliche Stunden. Die Rektorin sagte mir, dass die Schule noch vor fünf oder sieben Jahren mehr Stütz- und Förderunterricht gehabt habe, als jetzt unter dem Siegel der Ganztagsschule mit diesen zusätzlichen drei Stunden gewährt wird. Deshalb sage ich: Das ist eine Mogelpackung.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Im Übrigen holt Sie jetzt das ein, was Sie mit der Streichung von Stütz- und Förderkursen, von Sprachkursen angestellt haben. Anstatt dort einen Schwerpunkt zu setzen und darauf ein Schwergewicht zu legen, haben Sie irrigerweise, fälschlicherweise Förderunterricht gestrichen. Die Ergebnisse können wir heute besichtigen.

Meine Damen und Herren, wir brauchen echte offene Ganztagsschulen, und zwar aus mehrerlei Gründen. Wir alle fordern immer wieder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig!)

Die Wirtschaft fordert dies. Das wird zunehmend an Bedeutung gewinnen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ja!)

Interessanterweise kommt diese Forderung gerade aus der Wirtschaft heraus nicht von ungefähr. Viele Alleinerziehende beispielsweise können nur dann weiterhin ihre Arbeitsplätze wahrnehmen, wenn sie entsprechende Betreuungs- und Ganztagsangebote haben.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: So ist es! Das ist der Punkt!)

Bekommen sie diese Angebote nicht, so bedeutet das gleichzeitig den Weg in die Arbeitslosigkeit. Das können wir bei Gott nicht wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zweiter Punkt: Es gibt auch eine ganz massive pädagogische Begründung für Ganztagsangebote. Längere gemeinsame Lernzeiten helfen sowohl den leistungsschwächeren als auch den leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern. In einer Ganztagsschule gibt es viel mehr Möglichkeiten, diesen unterschiedlichen Leistungsanforderungen gerecht zu werden. Deswegen sage ich: Gerade auch aus pädagogischen Gründen brauchen wir solche Angebote von Ganztagsschulen, weil das individuelle Lernen gegenüber dem, was wir an Halbtagsschulen mit dem 45-Minuten-Takt und dem abgehackten Unterricht haben, wesentlich leichter gestaltet werden kann.

Wir können auch viel mehr Förderangebote installieren. Wir haben Freizeitmöglichkeiten, Arbeitsgemeinschaften, bessere Lernangebote. Die Chance, hier wirklich pädagogisch und erzieherisch zu arbeiten, ist an solchen Schulen riesengroß. Das wissen wir nicht weil es eine Erfindung der SPD wäre, sondern weil die Schulforschung diese Ergebnisse festgestellt hat. Zum anderen merken wir es ich sage es noch einmal , wenn wir über den Tellerrand Baden-Württembergs hinausblicken und den internationalen Vergleich ziehen. Dann können wir feststellen, dass weitere Ganztagsschulen die richtigen Entwicklungen im schulischen Bereich sind.

Meine Damen und Herren, wenn wir Ganztagsschulen anbieten, bedeutet das für uns, dass wir hier ein offenes, ein freiwilliges Angebot machen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig!)

Es geht nicht darum, Kinder in eine Ganztagsschule zu zwingen. Das ist absoluter Quatsch. Wir wollen das Angebot für Kinder, für Eltern machen, damit die Kinder neue Lernmöglichkeiten haben. Allerdings ist es zum Beispiel auch eine Forderung des Verbands Bildung und Erziehung und der GEW, gerade auch für leistungsschwächere Kinder eine Verpflichtung einzuführen, damit diese bessere Lernmöglichkeiten haben. Wir gehen von einem offenen Angebot aus. Allerdings: Wer sich dann verpflichtet, der muss selbstverständlich ein Jahr lang am Ganztagsschulangebot teilnehmen.

Klar ist auch, dass dies Ressourcen kostet. Deswegen haben wir, Herr Kollege Kleinmann, gegen Ihren Widerstand bei den Haushaltsberatungen versucht, entsprechende zusätzliche Stellen im Haushalt zu installieren; denn nur mit zusätzlichen Lehrerstellen lässt sich das Ganztagsangebot verwirklichen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Was Sie machen, ist lediglich eine Umschichtung, die letztlich nur als Mogelpackung zu bezeichnen ist.

(Abg. Teßmer SPD zur CDU: Ihr wollts halt ge- sundbeten!)

Interessant ist ja, dass wir eigentlich sehr viele Verbündete haben. Nicht nur die Mehrheit der Eltern möchte mehr Ganztagsschulen haben. Auch wenn man den Landeselternbeirat hört, wenn man die Schulleitervereinigung hört, wenn man den Städte- und den Gemeindetag hört, gibt es überall die Forderung nach einem flächendeckenden Angebot an weiteren Ganztagsschulen. Überhaupt niemand kann nachvollziehen und verstehen, weshalb Sie sich bis zum heutigen Tag gegen diese Entwicklung wehren.

Ich komme nur zu dem Ergebnis: Sie haben irgendwo ideologische Scheuklappen und sind nicht bereit, die notwendigen Schritte einzuleiten, die wir heute für ein richtiges Bildungssystem brauchen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE Zuruf des Abg. Alfred Haas CDU)

Diese ideologische Schere geht sogar so weit, dass Sie sagen: Das, was uns der Bund jetzt anbietet, lehnen wir ab, weil es vom Bund kommt.

(Abg. Capezzuto SPD: Unmöglich! Wahlkampf!)

Wer so handelt, der handelt unverantwortlich, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD Abg. Teßmer SPD: Tap- pig!)

Anstatt es als Chance zu begreifen, dass der Bund bereit ist, in den nächsten Jahren 4 Milliarden €