Protocol of the Session on May 15, 2002

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Bei der Debatte um Europa geht es um zwei Komplexe, die man unterscheiden muss, nämlich um die Erweiterung der Europäischen Union also die äußere Dimension und um die Gestaltung der Europäischen Union, also die innere Dimension.

Die Erweiterung der Europäischen Union ist eine Aufgabe, die in den Jahren 2004 bis 2006 umgesetzt werden wird. Die Gestaltung der inneren Dimension Europas kommt aktuell hinzu.

Zur Frage der Erweiterung der Europäischen Union beschränke ich mich auf wenige Aspekte; Schwerpunkt soll heute die innere Dimension sein. Die Erweiterung der Europäischen Union ist eine historische Chance, die es wahrzunehmen gilt. Sie hat eine politische, eine historisch-kulturelle und eine ökonomische Wirkung. Alle drei Wirkungen sind richtig und haben unsere Unterstützung verdient.

Die politische Wirkung der Erweiterung der Europäischen Union um bis zu zwölf Staaten in diesem Jahrzehnt bedeutet eine Chance für Stabilität, eine Sicherung unserer Freiheit auf dem Kontinent, eine Stabilisierung des Friedens in Europa für ein neues Jahrhundert und eine Ausweitung der Geltung von Menschenrechten weit über die bisher eingebundenen Länder hinaus.

Die historisch-kulturelle Wirkung ist genauso bedeutsam, weil die willkürliche Trennung in Ost- und Westeuropa, die im letzten Jahrhundert aufgebaut worden ist, überwunden werden kann. Historisch und kulturell wächst in ganz Europa zusammen, was zusammengehört und was im Grunde genommen die kulturelle und politische Stärke des Kontinents im neuen Jahrhundert bestimmen soll.

(Beifall bei der CDU)

Drittens die ökonomische Wirkung: Wenn man an die Marktkräfte glaubt, wenn man von offenem Handel und den Chancen auf dem gemeinsamen Markt überzeugt ist, auch davon, dass damit Beschäftigung gesichert, eine Perspektive für Arbeitsplätze geschaffen und Wertschöpfung in Wohlstand geführt werden kann, dann ist die Erweiterung der Europäischen Union eine Chance auch für den Wirtschaftsmarkt Deutschland inmitten Europas, denn die Zahl der Einwohner wächst. Nahezu 500 Millionen Einwohner in einem gemeinsamen Markt sind für die Mehrzahl der Mitbürger und für die junge Generation eine Perspektive für sozialen Wohlstand.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Zwei Erwartungen möchte ich nennen und eine Anmerkung machen:

Die erste Erwartung: Wenn aus der Luxemburg-Gruppe und der Helsinki-Gruppe zwölf Länder vor den Toren Europas, der Europäischen Union stehen, heißen wir sie willkommen und erwarten zugleich, dass die Beitrittskriterien in vollem Umfang erfüllt werden und deren Einhaltung abgeprüft wird.

Zweitens muss die Erweiterung innerhalb der Obergrenzen der Finanzierung, die aus der Agenda 2000 für die Jahre 2004 bis 2006 gesetzt wurden, möglich sein. Es kann keinen finanziellen Nachschlag geben. Die Erweiterung muss im Rahmen des Budgets, das wir mittelfristig zugesagt haben, möglich sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Die Anmerkung: Wenn es um Menschenrechte und Grundwerte geht, sind Beschlüsse, die an alten Dekreten festhalten wollen, nicht angebracht. Ich halte die politische Entscheidung in Tschechien für unmöglich und glaube, dass hier eine nachträgliche Änderung und eine Korrektur notwendig sind, wenn die Mitgliedschaft Tschechiens als eines der ersten Beitrittsländer alsbald möglich sein soll.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Was ist die Aufgabe des Verfassungskonvents der Europäischen Union, wenn es um die innere Gestaltung Europas geht? Ganz einfach: Er hat einen Verfassungsvertrag zu erarbeiten, der die Grundlage für die künftige Hausordnung Europas sein wird. Es geht um den Verfassungsvertrag. Im Grunde genommen ist der Konvent mit einer Veranstaltung vergleichbar, die vor weit über 50 Jahren am Chiemsee stattgefunden hat. Es geht um die tragenden Prinzipien, die

Grundrechte, die Werte, die Kompetenzordnung, die Beschreibung von Institutionen und Organen, um Verfahrensregeln: Es geht um die Hausordnung, mit der die erweiterte EU in Zukunft tragfähig gestaltet werden kann.

Dabei ist mein erster Ratschlag zu der Frage, ob es sich lohnt, sich zu beschränken: Nicht der Umfang macht es, sondern die Beschränkung auf wesentliche Klärungen erhöht die Autorität, wenn der Verfassungsentwurf zur Entscheidung vorgelegt wird.

Eine Frage scheint mir noch offen zu sein und ich sehe dabei noch keine klare Profilierung : Bekommt die Europäische Union eine eigene Staatlichkeit, eine Staatlichkeit sui generis, oder bleibt sie ein Staatenbund? Deshalb wird auch eher von einem Verfassungsvertrag und nicht von einer Verfassung gesprochen, was, so vermute ich, hinsichtlich seiner Bedeutung eher ein Minuspunkt ist.

Diese Verfassung, der Verfassungsvertrag, löst eine zweite Frage aus. Wer sie entwirft, ist klar: der Konvent. Aber wer verabschiedet sie? Wer ist für die Beschlussfassung zuständig? Wer beschließt den Verfassungsvertrag? Eine Volksentscheidung über den Verfassungsvertrag kann es bei allem Respekt in einem Europa dieser Dimension vermutlich nicht geben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Eine nationale Entscheidung muss es sein. Aber wer entscheidet ansonsten? Ich glaube, Herr Ministerpräsident, dass das Europäische Parlament in die Entscheidung einzubeziehen ist, dass der Ministerrat in jedem Fall einbezogen werden wird, dass aber die nationalen Parlamente, was Mitentscheidung, Zustimmung, Geltungswirkung in Bezug auf einen künftigen Verfassungsvertrag angeht, ebenso unumgehbar sind.

Wenn wir von nationalen Parlamenten reden, dann ist der Bundestag gefragt aber nicht nur der Bundestag. Ich glaube nicht, dass den Landtagen in Deutschland eine Mitentscheidung zukommen kann, aber durch eine Zustimmung über die Länderkammer, den Bundesrat, und in der Rückkoppelung der Regierungen zu den Landtagen besteht mit Sicherheit dort die notwendige Verankerung, wo föderale Strukturen im nationalen Gesetzgebungsorgan vorhanden sind. Ich plädiere also dafür, dass nicht nur Ministerrat und EU-Parlament, sondern auch nationale Gesetzgebung für die Zustimmung zum künftigen Verfassungsvertrag in eine entscheidende Verantwortung gerückt werden.

Es geht um eine Kompetenzordnung, das heißt und hier beginnt der Streit , es geht um die Frage, wer in Zukunft für welche Aufgaben und Ausgaben, für welche Richtlinien und Gesetze zuständig ist.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Das ist der entscheidende Punkt. Was macht die Europäische Union, was kommt den Nationalstaaten zu, was reklamiert Berlin und was geben wir Berlin innerhalb der nationalen Kompetenz, und was ist in den Landtagen und in der kommunalen Selbstverwaltung richtig aufgehoben?

Herr Ministerpräsident, Sie haben sich in den letzten Wochen nicht nur Zustimmung geholt und nicht nur Freunde gemacht. Sie haben mutig eine Position aufgebaut. Ich glaube, dass heute primär über diese Position zu beraten ist, über die Frage also, ob in der Kompetenzordnung eine relativ klare Aussage enthalten sein muss: Was ist die Aufgabe von Straßburg und Brüssel, und was ist die Aufgabe der Mitgliedsstaaten und ihrer Länder und Kommunen? Dieser Frage muss heute zentrale Bedeutung zukommen.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Wir haben in dieser Frage in dem gegliederten Staatswesen Deutschland besondere Erfahrung, die man seit der Verabschiedung des Grundgesetzes in der Entwicklung analysieren und dann auf europäische Ebene übertragen kann. Wir sind von dem Subsidiaritätsprinzip überzeugt.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Wir glauben mit Bestimmtheit, dass eine Aufgabe nur dann auf die nächste Ebene gehoben werden darf, wenn die Dimension der nächsten Ebene dafür sachdienlich ist. Die Beweislast liegt nicht beim Kleineren, sondern der Größere muss beweisen, dass nur er die Aufgabe erfüllen kann.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

So, wie in Baden-Württemberg schwerpunktmäßig den Gemeinden, Städten und Landkreisen, den dezentralen Strukturen, den Regierungsbezirken, den Regionen und nicht primär dem Land eine Aufgabe zukommt, so, wie Aufgabendelegation nach unten eine Daueraufgabe ist, so muss auch für die europäische Dimension, für das Gebäude, das jetzt erstellt und weiterentwickelt wird, gelten, dass subsidiär Europa zuständig ist und primär die dezentralen Strukturen in der Verantwortung stehen.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Das Grundgesetz sieht die ausschließliche, die konkurrierende und die Rahmenkompetenz vor. Wir haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt: Die ausschließliche Gesetzgebung war nie umstritten, aber bei den konkurrierenden Kompetenzen und bei der Rahmenkompetenz haben die Länder einen schleichenden Kompetenzverlust erlebt, indem der Bund konkurrierend Aufgaben ergriffen hat, bei denen man anzweifeln kann, ob nur er die Aufgabe erfüllen kann, und indem bei der Rahmenzuständigkeit der Bund relativ weit reichende Regelungen getroffen hat und den Ländern substanziell kaum etwas geblieben ist. Daraus leite ich ich sage es salopp ein Grundmisstrauen ab. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Deswegen sollte in Zukunft eine möglichst klare Kompetenzordnung eine weiterführende, eine klarere Kompetenzordnung als die des Grundgesetzes in Europa möglich sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Deswegen ist nicht die Frage: „Was ist die ausschließliche europäische Unionskompetenz?“ da wird rasch eine Eini

gung möglich sein , sondern die Frage ist: Was fangen wir mit dem Begriff der Grundsatzkompetenz und mit dem Begriff der Ergänzungskompetenz an? Denn mit diesen beiden eher schwammigen Begriffen besteht vergleichbar zum Grundgesetz die Gefahr, dass Europa sich mehr greift, als es sich nach der heutigen Erwartung von nationalen Mitgliedsstaaten und Regionen greifen soll.

Der Ministerpräsident plädiert für einen Kompetenzkatalog. „Katalog“ ist sehr konkret. Auf europäischer Ebene spricht man eher von Kompetenzordnung. Ich glaube, die entscheidende Aufgabe in den nächsten Monaten wird sein, dafür zu sorgen, dass die Kompetenzordnung katalogähnlichen Charakter bekommt und dass das, was dort steht, die Zuständigkeit zwischen Europa, den Staaten, den Ländern, den Regionen und den Kommunen auch im Streitfalle ganz konkret abgrenzbar und definierbar macht.

(Beifall des Abg. Seimetz CDU)

Wenn man die Kompetenzordnung als die wichtigste Aufgabe ansieht, dann wird die zweite Aufgabe das Angehen der Frage sein, wie man Europa unter demokratischen Gesichtspunkten voranbringen kann. Es geht um die Demokratisierung der Europäischen Union. Die Organe sind das Parlament, das in Wahrheit noch gar keinen parlamentarischen Vollstatus hat, der Rat und die Kommission. Ich glaube, dass die Kommission in vielen Fragen eine gute, leitende Verwaltungsarbeit macht. Ich glaube, dass der Ministerrat am stärksten Nachholbedarf bei demokratischen Grundlagen hat. Und ich glaube, dass das Parlament stärker in den Mittelpunkt der europäischen Entscheidungen rücken muss.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Aus dem Parlament muss das werden, was sich aus dem Namen folgern lässt. Der Ministerrat muss sich mehr einordnen und braucht eine neue Legitimation. Die Kommission ist die Exekutive, die nicht im Mittelpunkt der Kritik stehen muss. Ich glaube insoweit, Kollege Drexler, dass sich der Bundeskanzler in diesen Wochen mit der Kommission den falschen Gegner heraussucht und dass er viel eher die Frage prüfen muss, was im Ministerrat, was in den nationalen Regierungen zu viel des Guten für Europa getan wird. Ich halte pauschale Kritik an der Kommission und ihrem Präsidenten für falsch.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU sowie der Abg. Beate Fauser FDP/DVP und Dr. Salomon GRÜNE)

Zum Subsidiaritätsprinzip: Ich will nachhaltig dafür werben, dass der Grundsatz der generellen Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten erhalten bleibt, das heißt, dass im Zweifel im Grundsatz nicht die Europäische Union, sondern die Nationalstaaten für die Gesetzgebung, für die Umsetzung und für die komplette Verwaltung verantwortlich sind. Der Grundsatz der generellen Zuständigkeit von Legislative und Exekutive der Mitgliedsstaaten ist für uns unabdingbar. Die Europäische Union dies folgt daraus wird nur durch ausdrückliche Übertragung von Aufgaben zuständig. Sie hat im Grunde genommen eine abgeleitete Zuständigkeit, die sich aus einem Vertrag, aus dem Verfassungsver

trag, und aus gewollt abgegebenen Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten ergeben wird.

Im Mittelpunkt der Stärkung der Europäischen Union steht für uns die Außen- und Sicherheitspolitik. Haben wir nicht ich nenne aktuell den Nahen Osten, ich nenne den 11. September im letzten Herbst, ich nenne den mühseligen Anlauf zu einer Stellungnahme zu den kriegerischen Grausamkeiten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien die Hilflosigkeit der Europäischen Union gesehen, und haben wir nicht hier einen großen Nachholbedarf? Wir benötigen zunehmend eine gemeinsame europäische Außenpolitik.

(Beifall bei der CDU)

Die Kompetenz für die Außen- und Sicherheitspolitik ist die tragende Kompetenz, die auf die Europäische Union und die Organe der Europäischen Union übertragen werden muss.

Wenn man Aufgaben auf die Europäische Union überträgt mir fällt parallel der Schutz der Außengrenzen Europas und vielleicht die Schaffung einer europäischen Grenzpolizei dafür ein , dann muss auch die Frage erlaubt sein, ob alles, wofür die Europäische Union derzeit zuständig ist, in Europa bleiben muss, ob sie in alles so tief und in der gegenwärtigen Form eindringen muss. Auch die Rückübertragung von Kompetenzen aus der Europäischen Union in die nationalen Mitgliedsstaaten darf kein Tabu sein. Die Entwicklung der Kompetenzen ist eine Zweibahnstraße und nicht nur eine Einbahnstraße in Richtung Brüssel und Straßburg. Auch die Rückkehr von Aufgaben ist legitim und zeitgemäß.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)